Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Die Wohnung im Erdgeschoß, in der Edwin und Lea diese vier Jahre gehaus't hatten, war vom bescheidensten Zuschnitt; drei kleine Stübchen und eine Kammer für die Magd, oder, wie Edwin sagte, nicht mehr Eine »Tonne«, sondern drei Tönnchen und eine Schachtel. Das Zimmer nach der Straße heraus hatte jedoch zwei helle Fenster; an dem einen stand Edwin's Pult, an dem andern der Maltisch aus dem venezianischen Palast. Auch sonst waren die wohlbekannten Möbel mitgewandert, die Büchergestelle mit den beiden Büsten, das grüne Sopha, auf dem Lea ruhte, als sie ihre Hand in Edwin's legte, darüber die zwei Rafaelischen Kupferstiche, die über den Betten der Brüder gehangen hatten, und daneben auf einem Postament ein Abguß der Büste von Lea's Mutter. Neu war nur ein kleines Harmonium, ein Hochzeitsgeschenk der Professorin, da sie wußte, wie sehr Edwin die Musik liebte. Da es ihm dabei nicht immer auf die Meisterwerke selbst oder ihre virtuose Ausführung, sondern oft nur auf den elementaren Zauber des Tons ankam, reichte Lea's schüchterne Kunst gerade aus, auf 208 dem volltönenden Instrument jenen Zauber heraufzubeschwören.

Die andere Kunst, in der sie Meisterin war, hatte sie eifrig weiter gepflegt. Es fehlte ihr ja nicht an Zeit! sagte sie mit einem schwermüthigen Lächeln. Und er liebte es, gerade während seiner ernsthaftesten Arbeiten sie in demselben Raum zu haben, still mit ihrer Malerei beschäftigt, oft stundenlang nichts austauschend als einen Blick; oder er trat hinter ihren Stuhl, betrachtete ohne ein Wort zu sagen, ihre Arbeit und strich ihr sanft über das dunkle Haar, wie er es mit Balder's blonder Mähne gethan hatte. Dann sah sie lächelnd zu ihm auf, bis er sein Gesicht zu dem ihren neigte und sie auf die Lippen küßte. Er behauptete, das helfe ihm denken. Gewisse feine metaphysische Offenbarungen würden ihm nimmermehr zu Theil geworden sein, ohne diese stille Erweiterung und Ergänzung seines Wesens durch sein anderes Ich. Er spüre ihre Gegenwart oft nicht anders, als seine rechte Hand im Schreiben davon Notiz nehme, daß die linke das Blatt halte. Und doch würde das Blatt sich oft verrücken, wenn nicht zwei Hände sich an der Arbeit betheiligten.

Wie sie nun heut in diesen traulichen Raum zurückkehrte und, nachdem sie die Magd zu Bett geschickt hatte, sich in ihren Inspirationswinkel setzte, wie Edwin die eine Sophaecke zu nennen pflegte – die kleine Lampe brannte hell vor ihr auf dem Tisch und beleuchtete das verbissene Profil des Demosthenes auf dem Büchergestell, das jetzt schon so lange herrenlose Schreibpult und all die andern Zeugen ihres schönen jungen 209 Glücks –: zum ersten Mal überkam es sie da, daß nun bald Manches anders werden würde, daß, wenn erst das junge Leben unter ihrem Herzen aus zwei hellen Augen in die Welt blicken und aus heller Kehle seinen Freuden und Leiden Luft machen würde, dieser Raum, wo stumme Gedanken und stille Blumen friedlich neben einander aufsproßten, nicht mehr ihr Ein und Alles sein könnte. Sie mußte an den Ausspruch Edwin's denken, der die Kinderlose hatte trösten sollen: daß zwei Menschen, wie sie beide, in einem ewigen Brautstande lebten. und daß jedes Dritte, und wäre es auch ein eigenes Kind, zunächst als ein Fremdes sich dazwischen drängte. Nein, sagte sie vor sich hin, es ist ja auch unser, wir sind es ja selbst, es ist nur wie ein Spiegel, in dem wir Beide unsere Gesichter in Eins verschmolzen sehen werden. Er hat es auch nicht ernst gemeint, es war nur, ehe er wußte –

Nun verlor sie sich in Nachdenken, wie Alles werden würde, wie sie es einrichten wollte, auch Edwin immer nahe zu bleiben, ohne ihn durch das kleine zappelnde und schreiende Geschöpf zu stören, und so oft sie mit stillem Schrecken an die beiden unbändigen Schwarzköpfe dachte, vor denen drüben in dem großen Hause kein Winkel sicher war, so mußte das friedliche blonde Riekchen sie wieder trösten, neben der man die schwierigsten Aufgaben der höheren Mathematik unbeschrieen hätte lösen können. Blond würde es auch werden, lächelte sie in seliger Vorfreude; es müsse Edwin Zug für Zug ähnlich sehen, so schöne lichte Augen haben, eine so ernsthafte Stirn. Nun schweiften ihre Gedanken von dem kleinen 210 Unbekannten zu Dem, den sie kannte wie sich selbst, besser als sich selbst, und wie sie ihn so recht mit aller Kraft ihrer Seele herandachte, sein Bild bis in den kleinsten Zug sich ausmalte, überkam sie plötzlich eine so leidenschaftliche Sehnsucht, ein so schmerzliches Vermissen, zugleich eine so begeisterte Bewunderung dieses geliebten Menschen, daß sie aufsprang und in einer Art Verzückung durch das Zimmer ging, seinen Namen murmelnd und so übermüthig zärtliche Schmeichelworte dazu, wie sie ihm selbst nie gesagt hatte. Es war ihr plötzlich wie eine Sünde, daß sie, wenn er bei ihr war, sich mit einer seltsamen Scheu zurückgehalten und es sich nie gegönnt hatte, ihn schrankenlos und ohne jeden Rückhalt erfahren zu lassen, wie es in ihrem Herzen aussah. Er weiß gar nicht, wie ich ihn vergöttere! sagte sie zu sich selbst. Ich weiß es wohl; ich wußte es von Anfang an. Aber ich fürchtete mich immer vor mir selbst – und auch vor ihm. Seine Liebe war ja nicht, wie die meine, von der ersten Stunde an sein Schicksal, sie ist nach und nach gewachsen – ich hätte ihn vielleicht abgeschreckt, wenn ich ihm gezeigt hätte, wie himmelhoch die Flamme in mir lodert. – Aber es ist Unrecht, er soll es wissen, sobald er wiederkommt. Es ist noch immer zu viel Philosophie zwischen uns – Liebe ist Thorheit – seliger Unsinn – Lachen und Weinen ohne Sinn und Verstand. So habe ich ihn immer geliebt, bis zum Vergehen und Vergessen aller Vernunft, und er – er hat anders angefangen, meine paar guten Seiten, mein bischen Klugheit haben es ihm angethan. 211 Das war damals gut genug – er gab mir, was er hatte, und mir waren es Schätze, so bettelarm wie ich war. Aber wenn er nun wiederkommt, – nein, er soll sehen, was er für ein unsinnig glückliches, verliebtes Weib an mir hat, und ich weiß, auch ihm wird's überm Kopf zusammenschlagen – lieber, einziger, geliebter Mann, mein Ein und Alles, mein Herr und Gott, mein Leben und meine Welt –

So verathmete ihre sehnsuchtsvolle Trunkenheit in einem halblauten Stammeln verworrener Liebesworte, während sie immer von Neuem das Zimmerchen durchmaß, bald die Feder in die Hand nahm, mit der er geschrieben hatte, bald das Buch gleichsam streichelnd berührte, das noch aufgeschlagen auf seinem Pulte lag. Es wurde ihr heiß an den Schläfen, sie öffnete ein Fenster und bog sich in die dunkle Gasse hinaus, in der Alles schlief, bis auf ein Kätzchen, das über die steinernen Thürschwellen glitt.

Was kam aber da heran von der Hauptstraße her? – Zwei Männer Arm in Arm – mit Stöcken und Wandertaschen? Und deutlich hörte sie jetzt die Worte: Du sollst sehen, mein Junge, die kleine Frau hat noch nicht Nacht gemacht – Strohwittwen schlafen nie so früh ein – verdammt schlechtes Pflaster habt ihr aber und eine Gasbeleuchtung, die, wie es scheint, auf freiwillige milde Beiträge durch brennende Cigarren rechnet. Ist es noch weit?

Heinrich, antwortete eine andere Stimme, die der Lauscherin am Fenster das Herz erzittern machte, es 212 wäre doch besser, wir kehrten um und ich übernachtete mit dir im Gasthof. So spät – so unverhofft – ich kenne sie – sie wird kein Auge zuthun diese ganze Nacht – und ich – zu Tode erschöpft –

Edwin! klang da ein jauchzender Ruf dazwischen, von den einzigen hellen Fenstern in der dunkeln Gasse. Der Angerufene blieb unwillkürlich stehen und faßte krampfhaft den Arm des Freundes. Sie ist wach, sagte er hastig, sie hat uns gehört – so muß es denn sein! Kein Wort heute Abend, hörst du? Das arme Herz – es wird noch früh genug – Bist du's Lea? rief er jetzt mit lauter Stimme und verdoppelte plötzlich seinen Schritt. Da siehst du, Kind, was du angerichtet hast mit der verheißenen Ueberraschung. Ich wollte mich auch nicht lumpen lassen, und da mir sonst nichts einfiel, dachte ich, ich überraschte dich am besten mit mir selbst. Guten Abend, liebste Seele! – und er nahm ihre beiden Hände, die sie ihm zum Fenster hinaus entgegenstreckte, und drückte sie in seiner kalten, zitternden Rechten – Gottlob, daß man wieder da ist, wo man hingehört. Hier habe ich die Ehre, dir einen alten Bekannten vorzustellen, Herrn Heinrich Mohr, den Vater seines Sohnes, von dem ich dir schon geschrieben habe. Ich habe ihn nicht bewegen können, mit einem improvisirten Nachtlager auf dem grünen Sopha vorlieb zu nehmen. Er meint, im Gasthof zum Stern würde er ein Bette finden, wo er seine sechs Fuß bequemer ausstrecken könnte. – Alles wohl, Liebste? – Aber so komm 213 doch und mach uns das Haus auf. Ein Glas Wein müssen wir doch wenigstens noch zusammen –

Er hatte ihre Hände losgelassen, aber sie rührte sich nicht vom Fenster. Diese kühlen Scherze waren wie ein Nachtfrost über ihre Seele gefallen und hatten sie bis zum Erstarren gelähmt. Kein Wort brachte sie hervor, nicht ein Willkommen für den alten Freund, nicht eine Frage, wie es ihrem Geliebten gehe. Das war das Wiedersehen, dem sie mit so ungestümer Sehnsucht entgegengeharrt hatte!

Fürchten Sie nicht, Frau Lea, daß ich von dieser unbesonnenen Einladung Gebrauch machen und Sie heute Abend noch belästigen werde, sagte Mohr lachend. Alte Freunde sind die unbequemsten Möbel von der Welt, wenn zwei Eheleute sich wiedersehen. Morgen werde ich so frei sein, bei Ihnen anzuklopfen und die Grüße meiner Frau nebst einer Photographie des jungen Mohr auf den Herd Ihres Hauses niederzulegen. Für heute wünsch' ich wohl zu schlafen. Nein, mein Junge, ich brauche keinen Wegweiser. Im Vorbeigehen habe ich mir euern »Stern« genau angesehen und werde ihn trotz meiner geringen astronomischen Kenntnisse wiederfinden. Gute Nacht, Frau Doctorin!

Er lüftete seinen Hut, drückte Edwin herzlich die Hand und ging das Gäßchen zurück der Hauptstraße zu.

Edwin stand noch immer unten vor dem Fenster.

Es ist mir noch wie ein Traum, sagte er, daß ich wieder da bin. Diesen ganzen Tag, während wir wie zwei Verrückte drauf los marschirt sind, bloß um noch 214 anzukommen – beständig hatt' ich unser altes Häuschen vor Augen, und wie schön das sein würde, wieder deine Hand zu fassen – und jetzt steh' ich hier, und die alten Steine, halten noch fest – und ich – aber du bist so still – die Ueberraschung war doch wohl zu plötzlich – nun, die deine wird hoffentlich –

– Ich will dir das Haus aufmachen, sagte sie, mühsam ihre Thränen zurückdrängend. O Edwin, bist du's denn wirklich? –

Sie trat vom Fenster zurück und wollte die Lampe vom Tisch nehmen, stellte sie aber wieder hin. Warum ihn gleich in ihrem Gesicht lesen lassen, wie ihr zu Muth war? So öffnete sie den dunklen Hausflur und fühlte sich von seinen Armen umfaßt: aber so heftig er sie an sich drückte – es fiel ihr auf, daß er nicht ihre Lippen suchte, seinen Mund darauf ausruhen zu lassen, sondern die Stirn gegen ihre Schulter preßte und immer und immer wieder ihren Namen stammelte. Ich bin wieder bei dir, liebstes Leben, wir haben uns wieder! Es ist mir, als lägen Jahre dazwischen – Lea, mein treues, geliebtes Herz –

Komm ins Zimmer, hauchte sie. Du bist erschöpft, und deine Stirne ist feucht. Warum seid ihr auch so unsinnig gelaufen?

Ja, ja, schilt nur, liebe Weisheit! Maßhalten ist schwer. Aber ich bin da, – nun ist Alles gut. – Was hast du nur? fuhr er fort, als er ins Zimmer trat und bemerkte, wie sein bleiches Gesicht, hell von der Lampe angestrahlt, sie erschreckte. Ich bin ganz wohl, o gewiß, 215 – das heißt, ich hatte ein paar Nerventage, so in meinem alten Stil; aber das berühmte Hausmittel, das so heißt, weil man es nur außer dem Hause brauchen kann, Luft und Bewegung haben wieder Wunder gethan. Und jetzt – ich freue mich wie ein Kind, daß ich das grüne Sopha wiedersehe – überhaupt unsere ganze Einrichtung – nicht gerade fürstlich, muß man sagen, aber hübsch, sehr hübsch – und meine liebe kleine Hausfrau – ich wette, du hast, während ich fort war, ein ganzes Tafelservice gemalt, und das ist die berühmte Ueberraschung, daß die Rosen von deinen Wangen auf das Porzellan verpflanzt worden sind. Nun, jetzt, da ich wieder nach dem Rechten sehe –

Er war während dieser hastig hingesprochenen Reden auf das Sopha gesunken und schloß die Augen in sichtbar tiefster Erschöpfung. Dabei hatte er ein seltsames Lächeln auf den Lippen, das ihr ins Herz schnitt.

Als er wieder aufsah, kniete sie vor ihm auf dem kleinen Teppich, hatte seine Hände gefaßt und spähte mit dem Ausdruck inniger Angst in seinem Gesicht nach einem tröstlichen Zuge, der dies Alles nur als eine Folge der Uebermüdung erklären möchte.

Liebes Weib, sagte er – wenn du mir einen Bissen zu essen geben könntest – oder nein, nur einen Schluck von unserm Spanier, den die Mama geschickt hat – und dann – dann – dann wollen wir schlafen.

Sie war im Nu von den Knieen aufgesprungen und hinausgeeilt. Dann brachte sie den Wein und etwas 216 Brod und kalte Küche. Er nickte ihr lächelnd zu. Hausmütterchen! sagte er und zog sie neben sich auf das Sopha. Aber nur ihre Stirn berührte er mit seinen Lippen, und das Glas, das sie ihm einschenkte, schien er jetzt ganz zu übersehen. Mir ist so wohl – so wohl! wiederholte er unzählige Mal. Ich trinke Frieden und Ruhe und – Liebe!

Er wollte sie an sich ziehen, aber mit einem stillen Grauen wehrte sie ihm sanft ab. Edwin, sagte sie, was ist dir geschehen? Du kannst mich nicht täuschen – ich habe es bei deinem ersten Wort dir angehört, obwohl du es mir verbergen willst: du hast irgend etwas erlebt, was dich sehr aufgeregt, erschüttert oder betrübt hat. – Willst du es mir nicht sagen? Wir haben uns ja immer Alles gesagt.

Ja wohl, Liebste, sagte er mit einem müden Kopfnicken, während er ihr sanft die Wange streichelte, du bist mein starkes Mädchen, mein guter Kamerad, meine liebe linke Hand, die immer wissen darf, was die rechte thut. Aber es ist spät – und mir fallen die Augen zu, und morgen ist noch so viel Zeit – morgen und übermorgen und ein ganzes Leben lang. Was ich erlebt habe? Gar nichts Gefährliches. Wir haben ein Gewitter überstanden, und dicht neben uns hat es eingeschlagen, und wir sind bis auf die Haut naß geworden, das ist Alles. Die Wärme hier wird uns schon wieder trocken machen. Komm, Liebste. Wie sagt der alte Catull? 217

O wie es süß thut, aller Sorge loswerden!
Schwer fällt die Last vom Herzen, wenn des mühvollen
Umtreibens müd an unserm Herd wir anlangten
Und dann behaglich im ersehnten Bett ausruhn!

Willst du noch aufbleiben, Kind?

Er hatte sich, während er die Verse hersagte, mit sichtbarer Anstrengung vom Sopha aufgerafft und war nach der Thür des Schlafzimmers gegangen. Da, an dem Pfosten lehnend, sah er sich nach ihr um. Himmel, du weinst! rief er, plötzlich alle Müdigkeit abschüttelnd. Um Alles in der Welt, was hast du?

O Edwin, sagte sie, sich seiner heftigen Umarmung erwehrend, verzeih, es ist unrecht, ich sollte nicht so kindisch sein. Aber es hat mich übermannt. Schlafen –! Wie soll ich an Schlaf denken, wenn ich dich so verändert zurückkommen sehe, mit einer Last auf dem Herzen, die ich zum ersten Mal nicht mittragen darf! Und doch – es ist unrecht, du bist angegriffen und sollst vor Allem hier Ruhe finden und kein weinerliches Weib. Morgen – nicht wahr? – morgen, wenn du ausgeschlafen hast –

Nein, nicht morgen! unterbrach er sie und neigte sich zu ihr hinab, mit beiden Händen ihr das Haar liebkosend. Heute noch, Liebste, und wenn es uns allen Schlaf kosten sollte. Das war es ja, wonach ich mich sehnte, was ich nicht erwarten konnte, und weßhalb wir zehn Postmeilen in sechs Stunden zurückgelegt haben. Und nun bin ich hier und so feige, daß ich mich zu Bette schleichen will, statt meinem tapfern andern Ich erst Alles vom Herzen herunterzubeichten und meine Absolution zu 218 erbitten! Komm, laß mich da wieder neben dir sitzen – und sei nur ganz getrost – du siehst ja, es ist mir nicht ans Leben gegangen – hier bin ich, und halte deine lieben Hände, und fühle es, wie ich es nie tiefer gefühlt habe: wir zwei sind Eins, und keine Macht des Himmels oder der Hölle kann uns scheiden.

Nun setzte er sich neben sie und fing ruhig an zu erzählen, von dem Augenblick an, wo er den Brief an sie geschlossen hatte und Marquard in sein Zimmer getreten war, bis zu seinem Wiederfinden mit Mohr im Walde, wo ihn nach der langen, übermenschlichen Anspannung aller Sinnen- und Seelenkräfte einen Augenblick das Bewußtsein verlassen hatte. Nichts verschwieg, nichts beschönigte er. Es that ihm offenbar wohl, all seine Qualen, seine Schwäche und seinen redlichen Kampf sich selber noch einmal zurückzurufen, jetzt, wo er sich geborgen wußte, wo die Dämonen, die sich an seine Ferse geheftet hatten, ihn nicht verfolgen durften in die geweihte Stätte seines Friedens. Je länger er sprach, je ruhiger wurde seine Stimme, je heiterer sein Blick. Es ist überstanden, schloß er, indem er ihre Hand an seine Wange drückte. Ich hoffe, du wirst mich loben, Liebste, daß ich mich den Umständen nach so tapfer gehalten habe. Ich habe freilich nicht die groben Nerven, die zur Bauerncourage nöthig sind, und wenn ich mich irgendwo heroisch benehme, spüre ich's noch lange hernach an einem nichtswürdigen Zittern meines Herzens, was mich das Aufgebot des moralischen Muthes gekostet hat. Aber sei ruhig, Kind, dies war die letzte Attaque. Es wird mir noch 219 eine Weile nachgehen; wenn du sie gesehen hättest – auch ohne den alten Schicksalszug, der mich an dies unheilvolle Wesen kettet – du hättest dich des tiefsten Mitgefühls ebenfalls nicht erwehren können. Welch ein Leben liegt vor ihr! Und nichts als die Hoffnung auf irgend eine Wendung aus dem Blauen, die sie befreit und dann ihr noch einmal ein Warum zeigt, das ihr das Leben lieb macht. Mein geliebtes Warum, das mir über alle andern ungelös'ten Fragen hinweghilft – das sitzt ja leibhaftig neben mir, das wird mir alle künftigen Schmerzen –

Du hast mir ihren Brief noch nicht gezeigt, unterbrach sie ihn mit tonloser Stimme. – Es war das erste Wort, das sie seit einer halben Stunde sprach.

Ihren Brief, Kind? Wozu den noch lesen? Es ist ein so kopfloses Stück Papier, wie es jemals eine gequälte arme Seele vollgekritzelt hat. Ich selbst – ich schwöre es dir – ich habe ihn nicht wiedergelesen.

Wenn ich sie ganz kennen soll, um so recht Mitleid mit ihr zu haben, muß ich ihn doch lesen, Edwin. Gieb ihn mir nur. Du siehst, ich bin ruhig. Daß es einmal so kommen würde, hab' ich mir oft genug gesagt. Es ist ein Unglück, wie ein anderes auch, nur viel trauriger, als so die alltäglichen. Aber mit gutem Willen und – mit der Zeit –

O Kind, rief er, sie mit inniger Zärtlichkeit an sich ziehend, habe Geduld mit mir, laß der Zeit nur Zeit, zweifle nicht an meinem guten Willen! Ich habe es ja gewußt: nur eine Stunde wieder neben dir – und diese 220 Bezauberung läßt mich los, diese magische Gewalt wird zu Schanden an deiner lieben Nähe. Ich danke dir, daß du darauf bestanden hast, heute noch Alles zu wissen. Nun erst kann ich auf Schlaf hoffen. Denn die zwei letzten Nächte, trotz Heinrich's freundlicher Gesellschaft und aller Strapazen, sah es noch kümmerlich damit aus. Ich habe Träume gehabt, die ich keinem Verurtheilten gönne. Jetzt – wenn ich deine Hand beständig halten kann –

Gehe nur immer voran, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Ich komme gleich nach – sobald ich nur erst den Brief gelesen habe.

Du könntest das wohl bis morgen –

Heute noch! Thu mir die Liebe – es ist dann morgen Alles überstanden.

Er nahm seine Brieftasche heraus und suchte darin nach dem verhängnißvollen Blatt. Da ist es! sagte er. Ich selbst weiß kaum noch, was sie eigentlich geschrieben, nur daß es mich unsäglich aufgeregt und geschmerzt hat. O ein Ausweg, ihr ins Leben zurückzuhelfen! – Denke darüber nach, meine geliebte Klugheit. Ich habe mich zu Schanden gedacht, umsonst! Vielleicht weißt du Rath.

Sie nickte, scheinbar ganz gefaßt, und hielt, so lang er noch im Zimmer war, den Brief in der Hand, ohne ihn zu öffnen. Kaum aber war er mit dem kleinen Nachtleuchter, den er angezündet hatte, in das Nebenzimmer gegangen, als sie mit zitternden Händen, die Wangen von einer plötzlichen Röthe übergossen, das Couvert öffnete und mit irrenden Augen die Zeilen überflog. – 221

Als am andern Morgen in aller Frühe die Magd in das Wohnzimmer kam, erschrak sie sehr, ihre Frau auf dem grünen Sopha schlafend zu finden, die Lampe auf dem Tische neben ihr ganz ausgebrannt. Noch betroffener war sie, als sie durch die halboffene Thür des Schlafzimmers sah und den Herrn, von dessen später Heimkehr sie nichts mehr gehört hatte, ruhig schlafend in seinem Bett erblickte. Das Geräusch, das sie machte, als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, weckte die junge Frau; sie sah mit verstörten Augen umher und konnte sich offenbar nicht besinnen, wie sie zu diesem ungewohnten Nachtlager gekommen war. Der verhängnißvolle Brief lag noch vor ihr auf dem Tisch; da wußte sie plötzlich wieder Alles. Sie machte der Magd ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, und schlich auf den Zehen an die Schwelle des Nebenzimmers. Da stand sie still und horchte auf Edwin's friedliche Athemzüge. Im nächsten Augenblick hatte sie die Kleider abgestreift und sich geräuschlos an seiner Seite niedergelegt. So erwartete sie, mit offenen Augen in die Dämmerung starrend, sein Erwachen. 222



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