Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Sechstes Kapitel.

Der Lärm, mit welchem Edwin's Zimmernachbar, der dicke Rittergutsbesitzer, sich in aller Frühe zur Jagd rüstete, weckte unsern Freund aus einem festen Morgenschlaf. Er mußte sich eine Weile besinnen, wo er war, und daß die Ereignisse des gestrigen Tages nicht bloße Träume gewesen. Rasch warf er sich in die Kleider und folgte dem Bedienten, der kam, um nach seinen Befehlen zu fragen, in die große Halle im Erdgeschoß, wo der Frühstückstisch gedeckt war.

Es mochte sieben Uhr sein; der Tag war trübe und verschleiert, ein feuchter Wind verkündigte Regen. Aber das muntere Treiben im Hof, das Getümmel von Pferden und Hunden, das Rufen und Schwatzen der Jäger und Reitknechte ließ sich dadurch nicht herabstimmen. Auch die übrigen Gäste, die sich nach und nach in der Halle einfanden, begrüßten einander mit großer Zufriedenheit über das gute Jagdwetter, da die Hitze von gestern nachgelassen hatte. Nur der Chevalier ließ sich entschuldigen. Die einzige Jagd, die ihm Vergnügen macht, 84 flüsterte Graf Gaston Edwin zu, ist die Fuchsjagd, wenn es auf Goldfüchse geht.

Dagegen war der polnische Oberst in vollem Waidmannsfeuer, erzählte mit ernsthafter Miene unglaubliche Geschichten, über die der Rittergutsbesitzer in sein dröhnendes Lachen ausbrach, während die Gebrüder von der Wende am Morgen nicht aufgeweckter schienen, als am Abend.

Der kleine Leibarzt zeigte sich nicht, eben so wenig die anderen Beamten des Hauses. Dafür hatte sich ein schlichter alter Mann mit hageren, pergamentnen Zügen und ruhigen grauen Augen eingefunden und sich, ohne am Frühstück Theil zu nehmen, zu den Herren gesetzt. Gaston stellte ihn Edwin als den Herrn Forstmeister vor. Ein leises Zucken des Mundwinkels unter dem strohgelben Schnurrbart sagte unserm Freunde, welche richtige Schätzung er als dilettantischer Jagdgenosse von diesem alten Meister des edlen Waidwerks erfuhr.

Der Hausherr erschien zuletzt, begrüßte Alle mit seiner verbindlichen Einsilbigkeit und näherte sich dann seinem fremden Gast.

Ich danke Ihnen, Herr Doctor, sagte er, daß Sie mir die Freude machen, unserer Jagd beizuwohnen, obwohl Sie gestern erklärt haben, daß Sie kein Jäger sind. Sie haben nur zu bestimmen, ob Sie mit uns reiten wollen, oder es vorziehen, in einem leichten Wagen die schöne Fahrt durch den Wald nach dem Jägerhause zu machen, wo der point de réunion ist und nach beendigter Jagd das Dejeuner eingenommen wird. 85

Wenn Sie nicht zufällig einen Nachkommen von Gellert's Schimmel im Stall haben, muß ich mich für den Wagen entscheiden, erwiederte Edwin lächelnd. – Der Graf nickte nachlässig mit dem Kopf, es unentschieden lassend, ob seine Pferdekenntniß so weit zurückreichte, und gab dem harrenden Jäger einen Befehl. Er schien noch zerstreuter und unfroher, als Abends zuvor, nestelte an seinem Jagdrock und sah von Zeit zu Zeit nach der Uhr. Es wird spät, sagte er zu dem Forstmeister hinüber, der aufgestanden war und mit einer gelassenen Dienstmiene der Befehle seines Herren harrte. Die Gräfin pflegt sonst nicht warten zu lassen.

In diesem Augenblick erschien der Haushofmeister in der Thür und meldete: Ihro Erlaucht steigen eben die Treppe herunter.

Eh bien meine Herren, wenn es gefällig ist, brechen wir auf, und Waidmanns Heil!

Er ging rasch voran in die Vorhalle hinaus, die Andern folgten. Das Treppenhaus war trotz des umwölkten Morgens hell genug, um bis in das obere Stockwerk hinauf ein Gesicht zu unterscheiden. Edwin war der Letzte, der in den Flur hinaustrat; er zitterte und mußte an der Schwelle stehen bleiben und die Augen schließen, vor denen sich Alles im Kreise drehte. Als er sie wieder aufschlug, sah er oben auf den breiten Marmorstufen eine schlanke Frauengestalt herabkommen, die Schleppe des grünen Sammetkleides unter den linken Arm aufgenommen, die rechte Hand leicht auf das Geländer gestützt. Graf Gaston ging neben ihr, ein Jäger, 86 den Federhut in der Hand, folgte. Sie trug ein grünes Sammetkäppchen mit langem grauem Schleier, die Haare schlicht in breiten Flechten aufgesteckt. All das konnte Edwin mit Muße sehen, da sie, mit ihrem Begleiter sprechend, das Gesicht ihm abgewendet hatte. Jetzt erreichte sie den Treppenabsatz des ersten Stockwerks und drehte sich mit einer leichten Bewegung nach ihrem Gemahl um, der mit ritterlicher Courtoisie ihr entgegenkam. Sie nickte ihm einen guten Morgen zu, wobei ihr Gesicht weder heiter noch traurig erschien. Dann hob sie die Hand gegen den Rand ihres Jagdmützchens, um die unten Harrenden zu begrüßen. In diesem Augenblick schien sich ihr Fuß in den Falten des Reitkleides zu verwickeln, man sah sie straucheln, erbleichen und mit einer Geberde des Schreckens und einem halb unterdrückten Schrei zurücksinken in die Arme Gaston's und des Jägers, die rasch hinzugesprungen waren.

Sie konnte sich nicht weh gethan haben, und doch dauerte es wohl fünf Minuten, bis sie sich mit Hülfe der Männer wieder aufrichtete, das Gesicht so geisterhaft entfärbt, wie es der kleine Schrecken nicht werth zu sein schien. Die übrigen Jagdgenossen waren die Stufen hinaufgeeilt, ihre sehr überflüssigen Dienste anzubieten; nur Edwin und der Forstmeister blieben auf ihrer Stelle.

Es ist Nichts, hörte man jetzt die Gräfin sagen. Ich bin ausgeglitten, und das Blut schoß mir einen Augenblick zu Kopf. Besten Dank, meine Herren!

Sie neigte sich mit einem reizenden Lächeln gegen die Jagdgesellschaft und ging dann langsam an Gaston's 87 Arm die Treppe vollends hinab. Als sie sich unten dem Hauptportal näherte, neben welchem Edwin stand, schien sie zu stutzen, als ob sie ihren Augen nicht traute.

Ich habe das Vergnügen, dir einen alten Bekannten vorzustellen, liebe Frau, sagte der Graf: Herr Doctor Edwin, der schon seit gestern unser Gast ist. Ein zufälliges Begegnen auf dem Bahnhofe – der Herr Doctor ist auf einer kleinen Fußtour begriffen – ich wußte, es würde dir Freude machen.

Sie antwortete nicht gleich; ihre Augen waren ohne jeden bestimmten Ausdruck auf Edwin geheftet. Sind Sie es wirklich? sagte sie dann, indem sie sich plötzlich Gewalt anzuthun schien. Das ist schön, daß Sie sich einmal sehen lassen. Ich danke dir, fügte sie gegen ihren Gemahl gewendet hinzu. Aber warum hast du mich erst heute –

Wir kamen spät Abends an. Du pflegst dann nicht mehr für uns sichtbar zu sein.

Es ist wahr, erwiederte sie mit einem zerstreuten Lächeln. Indessen, einem alten Bekannten zu Liebe hätt' ich vielleicht eine Ausnahme gemacht. Seien Sie mir bestens willkommen, Herr Doctor. Sie bleiben hoffentlich einige Zeit der Unsere?

Sie hatte ihren Handschuh ausgezogen und reichte Edwin, der ein paar nichtssagende Worte stammelte, die Hand, die er in Verwirrung an seine Lippen drückte. Dann wandte sie sich zu den übrigen Herren, indem sie an Jeden ein freundliches Wort richtete. Es war ihr nicht anzumerken, ob das Wiedersehen des alten Freundes 88 irgend einen tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte. Er aber konnte kein Auge von ihr abwenden. Als Graf Gaston an ihm vorbeiging und ihm zuflüsterte: Nun? hab' ich zu viel gesagt? – hatte er nur ein gezwungenes Lächeln als Antwort. Er schämte sich, wie hölzern und unweltläufig er erscheinen mußte, nicht vor den Andern, sondern vor ihr. Aber es lag wie ein Bann über ihm.

Sie war auf die Freitreppe hinausgetreten, an deren unterster Stufe der Stallmeister ein schönes englisches Pferd mit einem Damensattel beim Zügel hielt. Als es seine Herrin sich nähern sah, wandte es mit einem freudigen Wiehern den kleinen Kopf nach ihr und scharrte den Boden. Die Gräfin blieb einen Augenblick stehen, klopfte dem schlanken Thier den Hals und ließ es mit den rosenfarbenen Lippen ein Stück Zucker ihr aus der Hand nehmen. Dann schickte sie sich an, in den Sattel zu steigen. Aber als sie den Fuß schon in den Bügel gesetzt hatte, zog sie ihn wieder zurück.

Ich merke, daß es mit dem Reiten heute nicht geht, sagte sie unbefangen. Von dem Ausgleiten ist doch eine Schwäche im linken Fuß zurückgeblieben.

Wenn das ist, sagte der Graf, so ermüde ihn ja nicht. Der Hirsch wird uns ohnehin heute in Athem halten; es ist der alte Vierzehnender, der uns schon im vorigen Jahr gehörig herumgehetzt hat und doch endlich ausgekommen ist. Ich habe den Jagdwagen für den Herrn Doctor anspannen lassen. Vielleicht ist es dir angenehm – 89

Gewiß, warf sie leicht hin, ohne Edwin anzusehen. Wir können zusammen nach dem Jagdhaus fahren. Ich will Jean mitnehmen.

Der Genannte trat mit sichtbarem Stolz auf diesen Vorzug aus der Schaar der übrigen Lakaien heraus, eilte zu dem Wagen, der etwas abseits hinter den Reitpferden und Koppeln der Jagdhunde hielt, und indem er auf dem Bedientensitz sprang und die Zügel dem Stallknecht abnahm, fuhr er mit geschickter Wendung durch die Gruppen der Jagdgehülfen und müßig herumstehenden Knechte an der Freitreppe vor.

Sie sollen meine Talente als Wagenlenkerin kennen lernen, sagte die Gräfin mit scherzendem Ton zu Edwin, der rasch herangetreten war. Fürchten Sie nichts; ich weiß, welche Verantwortung ich vor der Wissenschaft hätte, wenn ich Sie umwürfe. Auf Wiedersehen also in einigen Stunden! rief sie den Herren zu. Dann stieg sie in den Wagen, ließ sich die Zügel und Peitsche reichen, Edwin folgte ihr, und mit einem leisen Ruf die schönen Thiere antreibend, lenkte sie den leicht dahinrollenden Wagen durch das Portal des Hofes in die breite Waldallee hinaus.

Sie schien ganz mit der Führung der Pferde beschäftigt, wenigstens verwandte sie in den ersten zehn Minuten kein Auge von ihnen und sprach kein Wort. – Wie schön ist dieser Wald! sagte Edwin. – Sie lächelte und nickte dann ernsthaft mit dem Kopf, schwieg aber weiter. Sie hatte offenbar nicht gehört, was er sagte. So hatte er alle Muße, sie zu betrachten, und mußte sich 90 gestehen, daß ihre Schönheit in der That an geheimnißvollem Reiz noch zugenommen hatte. Das Gesicht war länglicher, das Näschen schien sich gestreckt zu haben, die Augen größer und dunkler geworden zu sein, aber ihr Lächeln war nicht mehr das alte. Es war nicht jenes seltsame müde und traurige Frauenlächeln, das sich einstellt, wenn man zu stolz ist, um zu zeigen, daß man Grund zum Weinen hätte. Es war noch viel trostloser: etwas Fremdes, Wildes und Unversöhnliches zuckte um diese Lippen, wie es nach großen Stürmen, in denen alle Hoffnungen gescheitert sind, zurückzubleiben pflegt, oder dem Irrsinn vorangeht. Edwin überkam eine so tiefe Traurigkeit, daß er nach dem ersten Versuch, das Eis zu brechen, völlig verstummte. Auch war die Luft still und drückend, einzelne Tropfen fielen, ohne daß es zum Regnen kommen wollte, in den Wäldern rührte sich kein Vogel, kein Mensch begegnete ihnen; nur ganz von fern hörte man einzelne Laute der ausziehenden Jagd, Hundegebell und Hufschlag, die endlich auch tiefer in den Forst hinein verhallten.

Der Fahrweg ging durch das Dorf am Fuß des Schloßberges. Bauernweiber mit ihren Kindern standen in den Thüren, als sie vorüberfuhren, und grüßten die junge Gräfin mit großer Zuthulichkeit. Eine ganz junge Frau mit einem säugenden Kinde trat dicht an den Weg heran. Toinette hielt einen Augenblick, ließ sich das rothwangige Püppchen in den Wagen reichen, küßte es und fragte die Mutter nach Diesem und Jenem. Als sie es zurückgab, hatte sich ein großer Haufen Dorfkinder 91 versammelt, die alle ihre Händchen herausreichten und guten Tag sagten. Dem ältesten gab sie eine Handvoll blanker Silbermünzen. Das sollst du austheilen, Hans, sagte sie. Jeder muß Etwas bekommen. Aber ihr müßt auch brav sein und fleißig in die Schule gehen. – Die Mütter kamen und bedankten sich im Namen des kleinen Volkes. Im nächsten Augenblick zogen die Pferde wieder an, und das Dorf blieb hinter ihnen.

Man hat Sie hier sehr lieb, sagte Edwin.

Ich kann nichts dafür, erwiederte sie. Es ist leicht, diesen armen Leuten als eine Gottheit zu erscheinen, wenn man sich ihnen nur menschlich zeigt. Aber wenn Götter keine andere Seligkeit haben, als vergöttert zu werden, sind sie wahrlich nicht zu beneiden.

Dann schwiegen sie wieder Beide. Sie hatten die breite Straße verlassen und in einen dichteren Waldweg eingelenkt, wo der Wagen auf dem weichen Boden völlig geräuschlos dahinfuhr. Indessen wurde der Himmel trüber, und ein feiner, warmer Sommerregen fing an ihnen ins Gesicht zu sprühen.

Plötzlich hielt sie still.

Wenn es Ihnen recht ist, sagte sie, steigen wir hier aus und gehen eine Strecke zu Fuß. Wir kommen immer noch viel zu früh nach dem Jagdhaus.

Er sprang hinaus und bot ihr den Arm, den sie nur leicht mit ihrer Hand berührte. Jean, der auf dem Rücksitz stehend die Zügel hielt, fragte, ob die Frau Gräfin den Schirm befehle. Wozu? sagte sie. Es regnet ja kaum. Oder doch; nimm ihn nur immer aus 92 dem Futteral, der Herr Doctor ist so freundlich, ihn aufzuspannen.

Darf ich Ihnen meinen Arm bieten, gnädige Gräfin? sagte Edwin.

Sie schien wieder nicht zu hören, sondern stand eine Weile und sah den stillen, dunklen Wald hinab wie in tiefen Gedanken. Dann schüttelte sie das Haar zurück – unwillkürlich mußte Edwin an die Park-Scene der letzten Nacht denken – und ergriff seinen Arm. Kommen Sie, sagte sie ruhig. – Machen Sie den Schirm nur immer auf. Erinnert es Sie nicht an Etwas? Sind wir nicht schon einmal so mit einander im Regen spazieren gegangen? Es ist freilich ein bischen lange her. Ein ganzes Leben liegt dazwischen. Finden Sie nicht, daß ich mich sehr verändert habe?

Gewiß. Sie haben das Kunststück zu Stande gebracht, noch schöner zu werden.

Sie sah ihn still und fast strenge an. Versprechen Sie mir, so etwas nicht wieder zu sagen, versetzte sie. Es steht Ihnen schlecht und thut mir weh. Auch nennen Sie mich nicht »gnädige Gräfin«. Ich weiß nicht, ob ich Sie noch, wie sonst, »lieber Freund« nennen darf; aber so ganz auf dem Fuß einer der gewöhnlichen höflichen Bekanntschaften möcht' ich doch nicht von Ihnen behandelt werden. Nein, ich bin alt geworden, viel älter als Sie glauben, so alt, daß ich manchmal denke, ich habe mich selbst überlebt, und das müssen Sie mir auch ansehen. Aber wir wollen nicht davon reden. Sagen Sie mir nur, warum sind Sie gekommen? Ich wußte, 93 Sie würden einmal kommen; wenn ich davon nicht überzeugt gewesen wäre, wer weiß, ob ich noch lebte! Und doch hat es mich überrascht; denn ich konnte mir nie denken, was Sie überhaupt noch einmal zu mir führen sollte, nach Allem, was –

Sie stockte. Er erzählte ihr unbefangen sein Begegnen mit Marquard, und daß sein altes Interesse an ihr durch die Nachricht, er sei nur zwei Stunden von ihr entfernt, aufs Lebhafteste wieder erweckt worden sei.

Nein, nein, sagte sie wie für sich, das ist es nicht gewesen, Sie sagen mir nicht Alles. Aber wie Sie wollen. Ich habe mir abgewöhnt, etwas wissen zu wollen, was man mir verbergen möchte. Es ist selten etwas Erfreuliches. Je mehr man den Menschen und den Dingen auf den Grund kommt, desto häßlicher werden sie. Genug, Sie sind da, und es freut mich, Sie wiederzusehen, obwohl es mich zuerst so heftig erschreckt hat, als säh' ich Ihr Gespenst. Gerade so, wie Sie da unten vor mir standen, habe ich Sie mehr als einmal – auf einsamen Spaziergängen und in großer Gesellschaft – zu sehen geglaubt, und dann war es immer nur ein Spuk der Erinnerung. Sie haben sich auch nicht ein bischen verändert. Wenn ich diese vier Jahre nur einen Augenblick vergessen könnte, könnte ich mir einbilden, wir gingen jetzt wieder wie damals am Goldfischteich und ich erzählte Ihnen die Geschichte von Toinette Marchand. Das waren noch gute Zeiten.

Plötzlich in einen anderen Ton fallend: Sie sind verheirathet, wie ich gehört habe? Ihre Frau ist eine 94 ehemalige Schülerin von Ihnen? Haben Sie Kinder? Nicht? Das ist Schade. Obwohl, wenn es sonst an nichts fehlt –! – Erzählen Sie mir von Ihrer Frau. Aber nein, was kann man von Anderen mittheilen, als so und so viele Eigenschaften? Das eigentliche Wesen ist unbeschreiblich. Sie müssen sie mir einmal bringen, wollen Sie?

Er nickte stumm; er wußte, daß er es nie thun würde.

Sie haben ein Kind gehabt und es wieder verloren, sagte er nach einer Pause. – Was müssen Sie gelitten haben!

Sie blieb plötzlich stehen und ließ seinen Arm fahren. –

Mehr als eine Menschenseele ahnt! sagte sie mit großem Nachdruck, Silbe für Silbe betonend. – Sprechen wir nicht davon! Und doch, warum soll ich nicht davon sprechen, mit Ihnen, dem einzigen Menschen, der allenfalls verstehen kann, was das für Schmerzen waren, und auch dem Einzigen, der nicht so grausam sein wird, zu sagen: dir ist Recht geschehen! – weil er mehr Recht hätte, es zu sagen, als irgend ein anderer Mensch! –

Sie sah sich nach dem Wagen um, der zwanzig Schritte hinter ihnen langsam in der Mitte des Weges hinfuhr.

Machen Sie lieber den Schirm zu, bat sie jetzt leise. Mir ist so heiß, die nasse Luft thut mir wohl. Lieber Freund, wie manchmal habe ich gewünscht, so mit Ihnen 95 sprechen zu können; ich dachte, es würde dann Alles leichter. Obwohl – gerade in der schwersten Zeit hätte ich mich auch Ihnen nicht zeigen können, wie ich war. Ich mochte es mir selbst nicht eingestehen – ich sah nicht mehr in den Spiegel, als stände es mir auf der Stirn geschrieben und ich müßte vor Scham vergehen, wenn ich es läse. Jetzt – wo Alles hinter mir liegt – auch die Schuld, für die ich nichts konnte – jetzt denke ich nur daran wie an ein großes Unglück, das größte, das einer Frau begegnen kann. Sie sagten, ich müsse viel gelitten haben, als das Kind starb. Wofür werden Sie mich halten, wenn ich Ihnen sage: ich litt, so lang es lebte, und ich hörte auf zu leiden, als ich es verlor!

Klingt das nicht schauerlich? Und doch ist es buchstäblich wahr. Sie werden mich für eine unnatürliche Mutter halten, und Sie haben Recht. Aber kann ich dafür, daß ich so unnatürlich auf die Welt kam, daß Alles, was Andere glücklich macht, mir zur Qual wird?

Sie schweigen, lieber Freund. Was sollten Sie auch sagen? Was die Natur beleidigt, darüber wirft man einen Schleier – und wendet sich ab. Sie haben auch damals geschwiegen, als ich Ihnen durch Balder sagen ließ, warum ich leider als ein solches Ausnahmegeschöpf, eine so unselige Spielart durch die Welt gehen muß. Anfangs hat es mich sehr geschmerzt; ich dachte, ein Freund könne und dürfe uns nicht so hart entgelten lassen, was wir nicht verschuldet haben. Nachher habe 96 ich eingesehen, daß Sie Recht hatten, es zu machen wie die himmlischen Mächte:

Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn jede Schuld rächt sich auf Erden!

Warum nicht auch die Sünde der Eltern an den Kindern bis ins siebente Glied?

Er blieb stehen. Ich verstehe kein Wort von Allem, was Sie da sagen, meine theure Freundin. Wie? durch Balder hätten Sie – aber wissen Sie denn nicht, daß die Unterredung mit Ihnen, oder vielmehr mit dem Grafen, das Letzte war, was von seinen Lippen kam? Und ihm haben Sie aufgetragen – was? was, um Gotteswillen?

Er hatte ihre Hand gefaßt und drückte sie heftig. Toinette, sagte er, sprechen Sie, sprechen Sie Alles aus. Was geschehen ist und nicht mehr ungeschehen zu machen – es wird wenigstens erträglicher, menschlicher, wenn wir es von alle Dem reinigen, was die plumpe Hand jener tückischen Zufallsmächte hineingemischt hat. Sie sind an mir irre geworden, wie ich jetzt erst erfahre, und ich damals an Ihnen. Reden Sie, reden Sie – was hat der Tod abgeschnitten, welchen Faden, der uns wieder aus der Irre auf den rechten Weg geführt haben würde?

Sie schüttelte den Kopf. Wer weiß! sagte sie. Sie wären am Ende doch nicht wiedergekommen, auch wenn meine Botschaft Sie erreicht hätte. Wozu auch? Wird ein Herz, das nicht lieben kann, liebenswürdiger, wenn man erfährt, daß diese Unnatur ihre sehr natürlichen 97 Gründe hat? Eine Laune, ein Eigensinn, ein kindischer Trotz – so eine Widerspenstige wie das böse Käthchen, das ist nicht hoffnungslos, da braucht man nicht ein für alle Mal das Kreuz darüber zu machen und seiner Wege zu gehn. Aber ein Kind aus einer Zwangsliebe, die Frucht eines verkauften Mädchenlebens – was ist da zu hoffen oder zu helfen?

Und das – das hätt' ich damals erfahren sollen, wenn mein armer Balder den Tag überlebt hätte? – O ihr ewigen Mächte! –

Ja wohl, nickte sie mit einem bitteren Lächeln. Ich bildete mir ein, Sie würden dann Mitleid mit der armen Mißgeburt haben und es noch eine Weile mit ihr aushalten. Drei Tage lang hoffte ich das. Dann, wie gesagt, dacht' ich: er hat Recht! – und bin mit der alten Gräfin hieher gefahren!

Entsetzlich! rief er, sich die Stirne trocknend, die ein kalter Schweiß bedeckte. Und so bin ich – Niemand anders, als ich selbst – blind und ahnungslos, wie ich war – und Ihr Brief, den ich damals nicht verstand – die Frist jener drei Tage –

Beruhigen Sie sich, mein Freund! – Es ist nicht Ihre Schuld; die Fäden dieses Schicksals waren zu fein gesponnen. Wenn Sie nun auch gekommen wären, wer weiß, ob ich nicht dennoch jetzt hier wäre? Hätte ich freilich damals schon gewußt, was ich jetzt weiß –

Was, Toinette, was? – –

Sie zögerte einen Augenblick. Dann, die Augen zugedrückt und die feinen Brauen mit einem fast 98 drohenden Ausdruck zusammengezogen, sagte sie langsam und leise: Daß das Weib in mir doch einmal aufwachen würde, daß die Stunde kommen sollte, wo ich mich nach glücklicher Liebe sehnen würde, wie jede andere einsame Creatur, – und daß ich dann – einem Menschen gehören würde, von dem meine Seele nichts weiß, und der allen Jammer, der meiner Mutter das Herz gebrochen, nun auch mich bis auf die Neige würde auskosten lassen! – –

Sie sank auf einen moosbewachsenen Stein, der unter dichtem Buschwerk am Wege lag, und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Edwin stand vor ihr, er fühlte den Regen nicht, der jetzt in dichten Tropfen zu fallen begann, er hob ihren Handschuh nicht auf, der ihr vom Schooß geglitten auf der nassen Erde lag, er gab dem kleinen Jean keine Antwort auf die Frage, ob er den Wagen aufschlagen solle. Nur eine Bewegung mit der Hand machte er, die den Störer zurückwies. All seine Gedanken waren wie verschüttet von dem Einen Gefühl des Mitleidens mit dem einst geliebten Wesen, das über die Kluft der Jahre hinweg ihm plötzlich wieder so nahe gerückt war, als wäre nie etwas dazwischen getreten.

Liebe, arme Freundin, stammelte er endlich, kommen Sie, fassen Sie sich, Sie sind ja nicht mehr allein, ich bin hier, ich –

Er verstummte. Er fühlte wohl, wie falsch und ohnmächtig Alles war, was er sagen konnte.

Plötzlich erhob sie sich wieder, schüttelt die Haare 99 in den Nacken, wie man wohl thut, wenn man sich daran erinnert, daß man den Kopf oben behalten muß, und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:

Ich glaube, wir werden naß. Es ist doch ein Segen um die kleinen Unbequemlichkeiten des Lebens, daß sie einem mitten in großem Elend plötzlich zu schaffen machen. Geben Sie mir wieder Ihren Arm und beschirmen Sie mich. Noch zehn Schritte, dann kommt ein Buchenwald, der ist so dicht, daß man die Sündflut darunter abwarten könnte. Mein Sammetkleid freilich – das ist ruinirt, und ich bin doch nicht »Herzogin« genug, daß es mich nicht dauern sollte. Indessen, das ist zu ersetzen. Wenn es nichts Anderes gäbe – aber kommen Sie, kommen Sie; Sie sind ja wie eine Bildsäule!

Mechanisch gehorchte er, betroffen über ihren verwandelten Ausdruck, und sie gingen wieder eine Strecke weiter. Ja wohl, sagte sie wie zu sich selbst, auch in andern Dingen könnte ich mir meine jetzigen Standesgenossen zum Muster nehmen. Es ist doch ein sehr schlechter Ton, überhaupt Gefühle zu haben, und vollends, davon zu reden, alte Freunde damit zu behelligen. Aber Sie müssen billig sein. Diese hochgebornen Nothbehelfe habe ich Jahrelang erschöpft; der Stolz ist eine Waffe, ja, aber eine zweischneidige, gleichsam ein Schild, der sich mit Stacheln in den Arm einbohrt. Nun ist es einmal wieder mit mir durchgegangen, das gar nicht gräfliche Herz. Und wozu hat man Freunde, als um sie zu mißbrauchen? Aber jetzt wollen wir vernünftig 100 sein und von lustigeren Dingen reden. Ihr Freund Marquard z. B., was halten Sie eigentlich von Dem? Er hat so seltsam widersprechende Eigenschaften, wie es Menschen giebt mit einem blauen und einem schwarzen Auge, man weiß nie, welches nun das richtige ist. So ist auch er in demselben Augenblick ernsthaft und frivol, redlich und unzuverlässig. Eine wunderliche Mischung.

Edwin antwortete nicht, er schien gar nicht zu hören, was sie sagte. Nach einer langen Pause, während welcher er vor sich hingesehen hatte: Und das Kind – Ihr Kind? fragte er plötzlich. Wenn Sie zu spät Weib geworden sind, wurden Sie nicht früh genug Mutter, um daran wenigstens einen Trost zu haben?

O mein Freund, erwiederte sie, nun auch ihrerseits wieder mit dem alten Ton, das sind traurige und trostlose Räthsel! Dieses Kind – ich hätte mich vielleicht darein finden können, wie ich seine Mutter geworden. Aber nun sah es zum Unglück seinem Vater so ähnlich, daß es mich mit Schauder daran erinnerte, um welchen Preis ich es erhalten hatte. Bitte, verschonen Sie mich mit der Erinnerung an die Zeit, wo ich jeden Tag mich fragte, ob ich in dieser Welt noch aushalten dürfe! Es giebt Mütter, die sich wenig aus ihren Kindern machen und lieber tanzen oder sich den Hof machen lassen, als sich um ihre Pflege bekümmern. Ich – mit meinem spät erwachten Bedürfniß, zu lieben, etwas recht fest ans Herz zu drücken – jeden Tag stand ich mit dem Vorsatz auf, nur für das Kind zu leben; und wenn ich dann an seine Wiege trat und es mich mit dem feinen, kühlen, 101 aristokratischen Gesichtchen ansah, die Augenlider schon ganz so bewegte und manchmal halb zudrückte, wie sein Vater – ich konnte mich nicht bezwingen, konnte es nicht herzen und küssen, mich nicht an seinen unschuldigen Tönchen und kleinen Künsten freuen. Ich saß wie erstarrt neben ihm, und es war mir, als läse ich mein Gericht in seinen Zügen, als sagte der kleine stumme Mund: Mutter, warum hast du das gethan, dich verkauft, dich entwürdigt ohne Liebe! Nun werde ich deine Sünde büßen, wie du die Sünde deiner Mutter, die es doch wenigstens nicht aus freiem Willen that. – Und dann, als es starb, und ich sah es vor mir im Sarge liegen, das vornehme, bleiche Mündchen verzerrt, die Augen so traurig eingesunken – o mein Freund, daß ich nicht selbst entseelt daneben hinsank! Wissen Sie, wie furchtbar das ist, wenn ein Todter einem sagt: ich bin aus dem Leben gegangen, um dir Platz zu machen – denn wir zwei taugen nicht in dieselbe Luft – –?

Nichts mehr! Nein! Es macht mich toll – noch jetzt, wenn ich nur zwei Minuten daran denke!

Er fühlte, wie sie mühsam neben ihm hinwankte, ihre Hand schloß sich fester um seinen Arm; einen Augenblick war es, als verlasse sie die Kraft, sich aufrecht zu erhalten; sie hatte die Augen zugedrückt und die Lippen wie eine Verschmachtende geöffnet. Bald aber ging das vorbei. Sie athmete tief auf, blieb plötzlich stehen und sah ihn an mit einem traurigen, aber stillen Gesicht.

Entsinnen Sie sich wohl, sagte sie, wie wir damals 102 auf der Fahrt nach Charlottenburg so nachdenkliche Gespräche führten, und ich, unerfahren wie ich war, ich sagte, es könne einem Menschen nicht schwer werden, das Geschäft das Lebens aufzugeben, wenn er dabei nicht auf seine Kosten komme oder gar Bankerott mache? Sie waren so ziemlich einverstanden, nur formulirten Sie es anders: wenn man weder sich noch Andern mehr nutzen oder Freude machen könne, dürfe man sich selber von seinem Posten ablösen. Nun, so weit wäre ich denn glücklich gekommen, daß ich mich ohne Ueberhebung zu diesen Auserwählten rechnen darf. Für die Dorfkinder, die einzigen, die ich noch dann und wann zu erfreuen vermag, könnte ich etwa ein Legat hinterlassen, und die Uebrigen, denen ich vielleicht noch drei Tage nach den letzten Ehren fehlen würde, müßten sich eben darein ergeben. Aber sehen Sie, lieber Freund, das ist das Empörendste am Unglück, daß es auch eine muthige Seele feig und weibisch macht. Der Tag kommt zum Tage, jeder bringt seinen Beitrag zu der Last, die wir tragen, unsere Schultern werden hart, und das Herz bekommt Schwielen. Wie oft habe ich an Hamlet's Monolog denken müssen! Aber obwohl er in Wittenberg Philosophie studiert hat und ich nur ein paar Lectionen bei Ihnen genommen habe – ich weiß doch besser, als er, was das für Gedanken sind, deren Blässe unsern Willen ankränkelt. Nicht »die Furcht vor Etwas nach dem Tod«! Was uns feige macht, ist die Furcht, das Lohnendste und Lustigste vom Fest des Lebens möchte erst noch kommen, gerade wenn wir uns aus dem Saal entfernt haben, 103 um von allem Ennui und Herzweh auszuschlafen. Es ist vielleicht kindisch, aber ich stehe keinen Tag auf, ohne auf etwas Unerwartetes, Unbekanntes zu hoffen, das mich erlösen möchte. Zahllose Freuden giebt es auf Erden – und nur für mich wäre keine bestimmt? Nur ich sollte niemals sagen: jetzt kann ich ruhig sterben, da ich weiß, warum ich gelebt habe? – Nun, heute ist es mir doch lieb, daß ich die Geduld noch nicht verloren und fortgelebt habe, obwohl jeder Abend die Hoffnungen des Morgens zu Schanden machte. Heute bin ich mit schwererem Herzen, als je, aufgestanden. Ich entschloß mich nur darum, mit von der Partie zu sein, weil ich mir sagte: Einmal wird doch dein Pferd mehr Menschenverstand, als du, haben und dich abwerfen, daß du den Hals brichst. Und da seh' ich Sie – Ihren Geist, wie ich erst dachte – unter all den Menschen stehen, die bei der Komödie meines Lebens die Statisten abgeben; da hatte ich endlich, was ich immer ersehnt habe, eine Freude, eine große, starke, wirkliche Freude, – nur allerdings im ersten Moment zu stark, so daß sie mich umwarf. Ich bin eben ganz aus der Uebung gekommen, mich zu freuen!

Meine arme Freundin, sagte er tief ergriffen, Sie werden, Sie müssen wieder in die Uebung kommen. Wenn es mir gelänge, Sie mit dem Leben auszusöhnen, wie glücklich wäre ich! Ich bin freilich noch zu neu hier, um Ihr Verhältniß ganz zu verstehen. Aber die flüchtige Bekanntschaft mit Ihrem Gemahl hat mir Nichts enthüllt, was Ihre Entfremdung unversöhnlich machen 104 müßte. Sie selbst wissen, und auch der Fremdeste sieht es, wie schwer es auf ihm drückt, daß er Sie verloren hat, obwohl er Sie besitzt. Er scheint – was ihm sonst auch fehlen mag – ein Gentleman, den nur eben die falsche und flache Bildung seines Standes nicht dazu hat kommen lassen, etwas mehr aus sich zu machen. Ich sollte meinen, wenn Sie nur wollten: für einen guten Blick, für ein gutes Wort von Ihnen thäte er das Unerhörteste. Können Sie es ihm verdenken, daß er sich mit solcher Gesellschaft umgiebt, wenn Sie ihm die Ihrige verweigern? Vielleicht ist gerade das Bittere, was zwischen Sie getreten, nothwendig gewesen, um auch ihn mehr in die Tiefe zu führen. Nun brauchten Sie ihm nur den kleinen Finger zu gönnen, und ich glaube, Sie könnten ihn ein gut Stück in die Höhe hinaufführen, so hoch, daß Ihnen diese Ihre »Statisten« nicht nachzuklimmen vermöchten.

Ist das Ihr Ernst? fragte sie, ihn ruhig anblickend. Aber warum sollten Sie es auch nicht glauben? Sie haben mit diesen Menschen nicht gelebt. Wußte ich es doch selbst nicht vor vier Jahren, daß Nichts hoffnungsloser ist, als was Sie einen Gentleman nennen. Freilich, in Ihrem Sinne, so wie Sie es sind und Ihre Freunde – wo die Unfähigkeit, etwas Unwürdiges zu thun, aus der Natur stammt und aus dem redlichen Willen, der Menschheit keine Schande zu machen. Aber wo es nur gilt, sein Standesbewußtsein nicht zu beleidigen – o lieber Freund, ich könnte Ihnen Etwas erzählen, was Sie empören würde, und was doch einem 105 gewissen Gentleman durchaus nicht ehrenrührig schien. Nein, nein, ich finde es recht hübsch, daß Sie zum Guten reden, aber ich bedaure, keinen Gebrauch von Ihrem guten Rath machen zu können. Wenn einem die Hand abgenommen worden ist, können Sie sie nicht wieder an den Rumpf heilen mit einem Zugpflaster. Sehen Sie, so steht es zwischen mir und ihm. Der Schnitt hat das Gelenk getrennt. So ein verstümmeltes Verhältniß –

In diesem Augenblick hörten sie auf dem Waldwege hinter sich den Hufschlag eines Pferdes und sahen sich nach dem Reiter um, der in scharfem Trabe sich näherte. Was ist das? sagte Toinette; der Doctor? Ich wette, er kommt uns nach, weil es ihm keine Ruhe läßt, dahinterzukommen, wie wir Zwei mit einander stehen. Der ist nun kein Gentleman, und hat auch nie Anspruch darauf gemacht, dafür zu gelten. Sein höchster Begriff, sein Ehrgeiz und sein Götze ist die Klugheit, die natürlich sich um nichts Anderes dreht, als um das armselige bischen Vortheil. Er sieht an jedem Menschen sofort die schwache Seite, wie er als Doctor nach dem Sitz des Uebels forscht, und danach behandelt er ihn. Mich haßt er natürlich. Denn körperlich bin ich leider so kerngesund, daß seine Kunst an mir verloren ist, und woran es mir sonst fehlt, das ist seiner Diagnose unzugänglich, während er weiß, daß ich ihn durchschaue. Hüten Sie sich vor ihm. Auch seine Offenherzigkeit ist nur schlaue Berechnung. Nun, Doctor? rief sie dem Heransprengenden entgegen, haben Sie 106 sich heute doch entschlossen, an der Jagd Theil zu nehmen? Sie kommen gerade noch recht zur Curée!

Der Reiter hielt das dampfende Thier mit einem kräftigen Ruck dicht vor der Gräfin an und sagte, indem er seinen sonderbar geformten breitkrämpigen Hut ehrerbietig abnahm: Erlaucht belieben zu scherzen. Ich bin bekanntlich blutscheu, außer in meinem Métier. Was mich bewogen hat, meinen Braunen außer Athem zu jagen, ist eine diplomatische Mission, die mir Niemand aufgetragen hat, als ich selbst, deren ich mich aber dennoch als getreuer Diener meiner Herrschaft entledigen muß.

Zur Sache, Doctor, zur Sache! Sie unterbrechen gerade ein sehr interessantes Gespräch. Also?

So bereue ich fast, mich dieser Sendung unterzogen zu haben, versetzte der kleine Mann mit einem unmerklichen Zug ironischer Schadenfreude um die welken Lippen. Vor einer Stunde sind Ihre Durchlauchten der Herr Fürst und die Frau Fürstin mit hohem und niederem Gefolge eingetroffen, auf der Durchreise nach Italien, wohin Se. Durchlaucht Fürst Bataroff sie begleiten, haben es sehr bedauert, die Herrschaften nicht zu Hause zu finden, jedoch, da Hochdieselben die Nacht im Schlosse zu verweilen gedenken, strengstens verboten, daß irgend ein Bote nach dem Jagdhaus entsendet werde, um den eingetroffenen Besuch anzumelden. Die Frau Fürstin hat sich sogleich auf das Zimmer zurückgezogen, das sie schon im vorigen Jahre bewohnt hat, die durchlauchtigen Herren vertreiben sich die Zeit im 107 Schießstande, da sie zu ermüdet sind, der Jagd zu folgen. Ich habe daher gedacht, es möchte der Frau Gräfin vielleicht erwünscht sein, unter der Hand diese Nachricht zu erhalten. Sollte ich mich hierin geirrt haben, so ist es, als hätte ich Nichts gesagt. Niemand im Schlosse weiß, welchen Weg ich genommen habe.

Ueber das Gesicht der schönen Frau hatte sich eine leichte Wolke gelagert. Warum gerade heute! sagte sie für sich selbst. Dann, mit einem leichten Kopfnicken gegen den diensteifrigen Boten: Es ist gut, Doctor, ich danke Ihnen. Reiten Sie immerhin nach dem Jagdhaus, aber lassen Sie Ihr Pferd zu Athem kommen. Es ist gar nicht nöthig, daß Sie früher bei der Jagdgesellschaft eintreffen, als bis die Herren in aller Ruhe gefrühstückt haben; verstehen Sie? Ich freilich – mit mir ist es etwas Anderes. Ich werde sofort wieder umkehren. Adieu, Doctor! Sie haben einmal wieder bewiesen, daß ein Diplomat an Ihnen verloren ist; Fürst Bataroff kann Ihnen vielleicht zu einer Carrière in Rußland verhelfen. Ich werde Sie ihm dringend empfehlen.

Der Kleine verneigte sich, gezwungen lächelnd und offenbar nicht gerade geschmeichelt, da er einen Nebensinn aus diesen Worten heraushören mochte, begrüßte jetzt erst mit einer leichten Handbewegung auch Edwin und bedeckte dann, als sein Pferd sich schon wieder in Bewegung setzte, seinen hochstirnigen Kopf, den er inzwischen trotz des Regens entblößt hatte.

Die Gräfin stand in Gedanken. Erst als der Doctor, der sich im Schritt entfernte, schon eine gute Strecke 108 waldein geritten war, blickte sie plötzlich auf. Ja so! sagte sie. Wir sind ja noch hier. Dann mit einem bittern Lächeln zu Edwin: Sehen Sie nun, daß man es mir schwer macht, mit dem »Freuen« wieder in die Uebung zu kommen? Nicht einmal einen halben Tag mit dem alten Freunde gönnt man mir. Es ist vielleicht ganz gut, so gewöhnt man sich nicht wieder an eine menschliche Stimme. Lieber Freund, ich muß in der That gleich wieder umkehren. Meine durchlauchtige Schwägerin – aber Sie wissen ja noch gar nicht, daß der Fürst mein Bruder ist – ich will sagen, der Sohn meines Vaters, und auch das ist natürlich ein tiefes Familiengeheimniß, das Jedermann weiß. Ich habe diesen Bruder sehr lieb, und bei näherer Bekanntschaft mußte ich ihm die wenig vortheilhafte Schilderung abbitten, die ich Ihnen damals von meinem erbprinzlichen Anbeter gemacht habe. Sie werden sehen, er ist ein recht menschlicher Gentleman; lieber Gott, er möchte gern noch mehr sein, aber die Regierungssorgen, die ihm seine kleine Frau macht, lassen ihm keine Zeit. Von diesem Vogel Phönix sollt' ich Ihnen nichts sagen, sondern Sie einmal recht auf die Probe stellen. Aber freilich, wenn sie nur Einen Tag bleibt, wird sie Sie bezaubern und Ihnen zu der Entzauberung, die schon am nächsten Tage eintreten würde, keine Zeit lassen. Ihr Charakter ist nämlich, daß sie gar keinen hat und es auch weiß, und daher jeden Tag einen anderen vorzustellen sich bemüht, mit großem Aufwand von Schauspielertalent, heut die Naive, morgen die Sentimentale, 109 übermorgen die Heroische, und immer ein bildhübsches, vom Glück und den Menschen verwöhntes Prinzeßchen. Meinem armen Bruder, der etwas von meinem Sinn für das Echte hat, nicht nur im Luxus, sondern auch im Verkehr mit Menschen, ist natürlich bei diesem ewigen Schillern und Scheinen nicht wohl, und er wäre sogar unglücklich, wenn diese reizende blonde Gauklerin ihn nicht bis über die Ohren in sich verliebt gemacht hätte. Und dann ist auch noch ein gemeinsames Band zwischen ihnen: in ihren Mußestunden, so zwischen Diner und Theater, studiren Beide Theologie. Nichts ist drolliger, als diesen Kindskopf mitten unter dem gewöhnlichen gesellschaftlichen Geplauder von Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhuterei peroriren zu hören. Sie müssen sie darauf bringen, es ist der Mühe werth. Mich selbst hat sie aufgegeben, nach lange fortgesetzten Bekehrungsversuchen. Ich habe ihr aus meiner Gottlosigkeit kein Hehl gemacht und es hinterher bereut. Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, Alles, was ich leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder mit Abscheu zurückweisen läßt! Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen, durch eine große blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Constellation zu Grunde gehen muß – so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein Gottvater aber, der mich unseliges Geschöpf – de coeur léger, oder auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde herumlaufen 110 ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine Gratification in der Ewigkeit zukommen zu lassen – nein, lieber Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir das nicht plausibel machen. Aber kommen Sie, wir wollen einsteigen, um nicht warten zu lassen. Mit dem Verbot, uns zu benachrichtigen, war es natürlich auch nur Schein. Sie würde, wenn wir nicht kämen, es sehr übel nehmen, da sie nicht daran glaubte, daß eine gut geschulte Dienerschaft an ein solches Verbot sich kehren könnte.

Bei diesen Worten schritt sie rasch auf den Jagdwagen zu, den Jean bereits gewendet hatte, und schwang sich, ohne Edwin's Hülfe abzuwarten, hinein. Edwin aber blieb an dem Schlage stehen.

Seien Sie mir nicht böse, theuerste Freundin, sagte er mit einer Stimme, in der eine unterdrückte Bewegung zitterte: ich fühle mich völlig außer Stande, jetzt mit Ihnen zurückzukehren, fremde Menschen zu sehen und das banale Gespräch der großen Welt zu ertragen. Beurlauben Sie mich für ein paar Stunden. Es ist meine alte Unart, daß ich nur in völliger Einsamkeit hören kann, was meine arme Seele bei gewissen Anlässen zu mir sagt. Der Wald ist so schön, auch hat der Regen aufgehört; ich will aufs Gerathewohl mich in die Büsche schlagen. Heut Abend bin ich jedenfalls bei Ihnen, falls Sie mich brauchen können.

Ich will Ihrer Freiheit keinen Zwang anthun, erwiederte die schöne Frau, ohne ihren Blick von den Köpfen der Pferde abzuwenden. Sie haben Recht, zu 111 meiden, was Ihnen gegen die Natur geht; glücklich, daß Sie es noch können! Aber für diese verlorenen Stunden entschädigen Sie mich morgen – übermorgen – die ganze Woche. Nein, keine Widerrede! Sie wollen mich ja wieder in die alte Uebung, mich zu freuen, zurückbringen, das geht nicht so rasch, ich habe zu viel verlernt. Adieu, lieber Freund! Auf heute Abend!

Sie klatschte leicht mit der Peitsche, die Jean ihr gereicht hatte, der lange, ehrbare Jüngling in der grün und silbernen Livree sprang auf den Rücksitz, und fort stob der leichte Wagen, als wenn die Pferde sich für die unwillkommene Rast doppelt entschädigen wollten.

Edwin sah noch lange den grauen Schleier Toinettens wehen. Dann wandte er sich mit einem tiefen Seufzer hinweg und verlor sich seitab von der Straße in dichtverschlungenen Irrwegen. 112



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