Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Sechstes Kapitel.

Seit Christiane das Paar im Wagen vorbeifahren sehen und sich von der breiten Straße seitab in den dichteren Park geflüchtet hatte, war sie stundenlang ohne Weg und Ziel herumgeirrt, nur zuweilen athemlos auf einer Bank rastend.

Der Nebel war so undurchdringlich geworden, daß die Mondsichel kaum noch wie eine blasse Lichtflocke am grauen Himmel hing und unten in den vielfach sich kreuzenden Wegen des Thiergartens völlige Finsterniß herrschte. Sie begegnete Niemand, die Nacht war für einsame Spaziergänge nicht gemacht; sie fürchtete aber auch nicht, Jemand zu begegnen. Was konnte ihr geschehen? Von einem betrunkenen Strolch überfallen, beraubt, wohl gar todtgeschlagen zu werden? Darauf ließ sie es ankommen. Andere Gefahren, denen ein einsames Mädchen bei nächtlichem Herumschweifen ausgesetzt ist, schreckten sie nicht. Als Adele sie einmal gefragt, wie sie nur so dreist zu jeder Abendstunde allein gehen möge, hatte sie geantwortet: Ich trage mein Gesicht immer unverschleiert; einen besseren Schutz brauche ich nicht. 98

Heute zumal, alle Qual verschmähter Liebe im Herzen, mehr als je überzeugt, daß sie ein verstoßenes Stiefkind der Mutter Natur und zu ewigem Entsagen verdammt sei, fühlte sie eine Art bitterer Wollust bei dem Gedanken, daß sie mit den Menschen in Liebe und Haß nichts gemein habe, gleichsam ein Wesen für sich und unbekannten Nachtgeschöpfen verwandt, die häßlich seien, wie sie, und darum klug genug, das Tageslicht zu meiden. Sie wäre – in der wilden Laune, die sie mehr und mehr überkam – kaum erschrocken, wenn sie an einem Kreuzweg auf Nachtgespenster gestoßen wäre, die sie eingeladen hätten, sich zu ihnen zu gesellen. Alles lieber, als zu den Menschen zurück, bei denen immer die Besten und Liebenswürdigsten sie am meisten elend gemacht und es nicht einmal geahnt hatten! – Es kamen ihr auch keine Thränen, und mehr und mehr trat alles Persönliche zurück, die Eifersucht auf das schöne Mädchen, selbst die Leidenschaft für Edwin: nur ihr Schicksal und ihr gegenüber die Welt, an der ihr heißes Herz zu Grunde ging, die Qual verlorener Jugend, das Grauen vor der Oede eines liebelosen Alters – das stand in spukhaft übertriebenen Nebelumrissen vor ihrer Seele und preßte dann und wann aus ihrer Brust einen Laut hervor, vor dem sie in der tiefen Stille selbst erschrak.

Als sie zu den stehenden Weihern kam, über denen dichtere Nebelschichten schwammen, hemmte sie unwillkürlich ihren Schritt. Sie stand lange und starrte in das unheimliche Weiße, das sich nicht regte und zu warten 99 schien, ob vielleicht ein todtmüde gehetztes Leben sich dort zur Ruhe betten wolle. Ihr wallendes Blut, durch den ungewohnten Genuß des Weines entflammt, schauderte dennoch vor dem Gedanken eines solchen Endes zurück. Mechanisch, ohne etwas dabei zu denken, nahm sie einen Stein vom Rande des Weges und schleuderte ihn in den nebelüberschleierten Teich. Das dumpfe Geräusch des Versinkens brachte sie wieder zu sich selbst. Sie athmete hoch auf, schüttelte sich zitternd und hüllte sich fester in ihren Mantel. Dann ging sie langsamer und jetzt in der geraden Richtung nach der Stadt, die sie nach einer halben Stunde erreichte.

In der rasenden Gedankenflucht, die im Gehen durch ihren Kopf jagte, war nur Ein fester Punkt, zu dem sie immer wieder zurückkehrte: sie wollte das Haus verlassen, morgen schon eine andere Wohnung beziehen und dann überlegen, ob es nicht besser sei, auch der Stadt den Rücken zu kehren und irgend einen Weltwinkel aufzusuchen, wo das Leben am reizlosesten, die Natur am kargsten sei und die Menschen am unfrohesten. Kranke reisen in Curörter, oft nur um Leidensgefährten zu finden und ihren Zustand dadurch erträglicher zu machen. Warum sollen Glücklose nicht aus der Nachbarschaft von Glücklichen entfliehen, um unter Schicksalsgenossen die eigene Last leichter zu ertragen?

Wie sie den kleinen Hof des Hauses in der Dorotheenstraße betrat, fiel es ihr auf, daß in ihrem Zimmer Licht war. Sie glaubte aber, die Magd, die auch sie bediente und einen zweiten Schlüssel hatte, habe bei ihr 100 zu thun, und stieg arglos die Stufen hinauf. Nach Edwin's Fenstern zu sehen, hatte sie nicht übers Herz gebracht.

Oben indeß fand sie den Schlüssel nicht im Schlosse. Vielleicht hat sie nur die Lampe angezündet und ist wieder gegangen, dachte sie, während sie hastig aufschloß. Das kleine Vorzimmer war dunkel, nebenan regte sich Nichts. Sie öffnete rasch die Thür zu ihrem Wohn- und Schlafzimmer, blieb aber höchst betroffen an der Schwelle stehen, als sie Lorinser im Winkel des Sophas sitzen sah, ein Buch auf dem Schooß, von dem er selbst bei ihrem Erscheinen die Augen nicht sogleich losmachte.

Die kleine Lampe mit dem grünen Schirm brannte neben ihm auf dem Tisch und beleuchtete das merkwürdige Gesicht, die hohe, blanke Stirn, den festgeschlossenen Mund. Keine Miene verrieth eine besondere Gemüthsbewegung; und wie er jetzt den Blick auf die dunkle Gestalt des Mädchens heftete, das immer noch stumm und starr ihren Augen nicht zu trauen schien, hätte ein Fremder nicht geahnt, daß hier ein Gast den Herrn im Hause spielte, der eigentlichen Bewohnerin gegenüber; so gleichmüthig freundlich lächelte er der Eintretenden entgegen.

Guten Abend, sagte er. Sie kommen spät. Sie werden entschuldigen, daß ich es mir inzwischen hier bequem gemacht, für Licht und Wärme gesorgt habe, und diese langen Stunden – Aber mein Gott! unterbrach er sich plötzlich, wie sehen Sie aus, Christiane? Sie sind todtenblaß und zittern – legen Sie doch den 101 Nebelmantel ab – kommen Sie – hier ist es warm in der Sophaecke – wollen Sie mir sagen, wo Ihre Theemaschine steht? Sie müssen sich durchaus erst wieder ins Leben zurückwärmen. –

Lassen Sie mich! brach sie mit rauher Stimme hervor, indem sie seine Hände abwehrte, die nach ihren feuchtkalten Fingern griffen. Ich brauche Niemand – mir ist ganz wohl – es ist nur das Erstaunen, die Entrüstung, Sie hier zu finden, nachdem ich Ihnen neulich verständlich genug erklärt hatte, daß ich Ihre Besuche nicht wünsche, daß ich Sie nie mehr empfangen würde.

Eben deßhalb bin ich gekommen, erwiederte er mit dem ruhigsten Ton, indem er die Augen nach der Zimmerdecke wandern ließ. Sie haben mich ausgestoßen, wie man nur Den ausstößt, den man sehr haßt oder – ein wenig liebt, und darum fürchtet. Glauben Sie, daß ein Mann das erträgt, ohne wenigstens wissen zu wollen, in welchem der beiden Fälle er sich befindet? Ich wenigstens, auch wenn Sie mir nicht das wären, was Sie mir sind, ich bin nicht der Mann, blindlings zu gehorchen. Es hat mir keine Ruhe gelassen, Christiane; darum sehen Sie mich hier, nur mit einer Frage; wenn ich die Antwort habe, gehe ich. Aber es muß klar zwischen uns werden.

Sie war auf einen Stuhl gesunken, der nahe am Fenster stand. Der feuchte Mantel hing ihr noch über den Schultern, nur den Hut hatte sie rasch abgenommen, als ob die Bänder ihr die Kehle zuschnürten. Wie sie 102 jetzt vor sich hin sah, glaubte er, sie sinne über seine Worte nach. Es war aber nur, weil sie Edwin's Schritt über sich hörte und Alles wieder in ihr auflebte. So vergaß sie, daß er sie gefragt hatte, ja daß er überhaupt bei ihr im Zimmer war.

Sie zaudern mit der Antwort, Christiane, fing er wieder an. Ich wundere mich nicht darüber. So sehr ich wünschte, daß es klar zwischen uns werden möchte, so wenig will ich diese Klarheit übereilen. Vielleicht ist es noch das Günstigste, was ich zu hoffen habe, daß Ihre Seele mir gegenüber in einem Zwielicht schwebt, aus finsterem Haß und aufglimmender Neigung so wunderlich gemischt, daß keines zum Siege kommt. Dergleichen Zustände mögen Ihrer starken, sonst immer rasch entschiedenen Natur fremd und unheimlich sein; Sie glauben, davon frei werden zu können, wenn Sie nur Denjenigen loswerden, der Sie in diese Stimmung versetzt. Sie irren sich, Christiane. Mögen Sie es sich selbst verleugnen: ich weiß, daß ich Ihnen schon zu nahe stehe, um so leichten Kaufs aus Ihrem inneren Leben verdrängt werden zu können. Sie müssen weitergehen, mich entweder ganz hassen oder ganz lieben lernen. Eine halbe Empfindung mir gegenüber hat noch Niemand ertragen, der überhaupt ganzer Empfindungen fähig war.

Er war ihr näher getreten und stand mit gekreuzten Armen neben ihr, ihr Profil betrachtend, das sich deutlich in dem grünen Lichtschein gegen das dunkle Fenster abhob. Seine Nähe, sein leises, ruhiges Sprechen, die Sicherheit, mit der er seinen Platz behauptete, das Alles empörte 103 sie mehr und mehr. Mit einer hastig unwilligen Geberde warf sie den Mantel über die Stuhllehne und stand auf.

Ich muß Sie ernstlich bitten, mich allein zu lassen, sagte sie. Nur wenn Sie jetzt meinen Willen respectiren, werde ich über die Art, wie Sie sich hier eingeschlichen, nichts weiter sagen. Wenn Sie der Menschenkenner wären, für den Sie sich halten, würden Sie den verrückten Gedanken aufgeben, daß ich Ihnen je Macht über mich einräumen könnte, sei es im Guten oder Bösen. Unsere Naturen sind himmelweit verschieden.

Sie reden wie ein Kind, versetzte er ruhig, oder Sie wissen nicht, was Sie sagen. Wenn nicht Himmel und Hölle zwischen uns lägen, könnten wir uns je etwas sein? Nur das Fremde, nur die Gegenpole vermögen sich anzuziehen, gerade weil sie sich abzustoßen scheinen. Was ist Sieg ohne Kampf? Was Sie mir sind, Christiane, weiß ich nur zu gut. Was ich Ihnen bin oder sein werde, – die nächste Zeit wird es Sie lehren, Sie mögen es noch so weit von sich wegstoßen.

Oder wissen Sie einen andern Menschen, fuhr er fort und sah ihr fest ins Gesicht, der in der Stunde, wo Alles Sie verlassen hat, wo Sie sich elend fühlen, wie nie zuvor, zu Ihnen träte und Ihnen die Hand zur Rettung böte, Ihnen das Leben, das Sie wie ein werthloses Gut hinwerfen möchten, wieder lebenswerth machen könnte?

Ein rascher Blitz aus ihren düstern Augen traf ihn; er hielt ihn gegen seine Gewohnheit auf und verhehlte 104 seinen Triumph, daß er die wunde Stelle ihres Innern mit seiner dreisten Ahnung getroffen hatte.

Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mich elend fühle? rief sie leidenschaftlich. Und wenn es wäre, wer sagt Ihnen, daß ich es nicht lieber tausendmal bleiben mag, als mich von Ihnen und Ihrem Gotte retten lassen? Wenn Sie Recht hätten, daß Alle mich verlassen haben, wollen Sie mir das Einzige rauben, was mir noch bleibt, mein eigenes Ich, meine Freiheit, meine Einsamkeit, in der ich von Allem, was ich leide, Niemand Rechenschaft zu geben brauche? Sie haben mich gefragt, wie das Gefühl heißt, das mich von Ihnen fern hält. Wenn Sie es denn wissen wollen: mir graut vor Ihnen! Von der ersten Stunde an habe ich den Dämon in Ihnen gewittert, dem Nichts heilig ist., nicht einmal der Schmerz eines armen, unseligen Weibes; der über Alles Macht gewinnen möchte, nur um seine Selbstsucht zu sättigen, und darum auch das, was Andere verachten oder übersehen, ein von Niemand geliebtes, von allen Freuden gemiedenes Geschöpf, wie ich, nicht zu gering hält, es sich dienstbar zu machen. Aber Sie verrechnen sich, und weder Ihr Himmel noch Ihre Hölle wird Ihnen helfen; dies wird das letzte Mal sein, daß Sie mich sehen, so wahr ich –

Still! rief er gebieterisch. Verschwören Sie nicht Ihr eigenes Heil; berufen Sie die Dämonen nicht, die nur auf ein solches Wort lauern, um Seelen zu verderben. Auch bedarf es keiner feierlichen Worte. Wenn ich heute umsonst rede, – glauben Sie mir, Christiane, 105 auch ich habe Stolz und die Kraft, um seinetwillen zu dulden – dann bin ich es, der Ihnen ausweicht. So lange aber müssen Sie mich hören. Sie sind zu gerecht, um ungehört zu verdammen.

Er athmete tief auf, als müsse er neuen Muth schöpfen zu dem, was er sagen wollte. Dann plötzlich, mit seiner weichsten Stimme, die, wenn er wollte, einen bestrickenden Zauber übte: Setzen Sie sich ruhig nieder, sagte er. Ich werde zwar mich kurz zu fassen suchen. Aber ich sehe, Sie sind sehr erschöpft. Sie haben eben erst wieder viel gelitten – leugnen Sie es nicht, Christiane. Ich habe den Scharfblick eines sehnenden, eifersüchtigen Herzens. Ich könnte Ihnen nicht sagen, was es war, wer es war, um den Sie gelitten. Aber Ihre Seele zittert noch jetzt von den Nachwehen dieses Schlages. Ist es nicht so?

Er schwieg und betrachtete sie gespannt. Sie sah gerade vor sich hin, ihre Lippen bebten. Sie sind ein Dämon, hauchte sie. Aber weiter – weiter –! kommen Sie zu Ende!

Zu Ende? sagte er. O Christiane, wenn Sie menschlich fühlten, wenn Ihr Schmerz Sie nicht stumpf gemacht hätte gegen fremde Schicksale, Sie würden mich jedes weiteren Wortes überheben. Hab' ich Ihnen nicht schon gesagt, daß ich vom ersten Augenblick an das unentrinnbare Verhängniß erkannt habe, Ihnen zu gehören? Daß ich umsonst mit allen Kräften der Seele und des Geistes danach gerungen habe, mich diesem Zwange zu entziehen? Ich habe mir Nichts von alle dem 106 verschwiegen, was sonst Flammen dämpfen kann: Ihren Starrsinn, Ihre Gottlosigkeit, Ihr Erhabensein über Allem, was sonst Ihr Geschlecht reizt und verführt. Ich sagte mir, daß ich kein Glück von dieser Liebe zu hoffen hätte, keine Zukunft, keine Hülfe für meine eigenen Nöthe; daß jene Herrschsucht, die Sie mir andichten – oder nein, die sonst vielleicht sich in mir geregt – nie so schmählich gescheitert sei, als Ihnen gegenüber. Alles, was die Eitelkeit, den Stolz, selbst die Ehre eines Mannes verletzen oder Neigung zurückschrecken kann, habe ich von Ihnen erfahren. Und nun frage ich Sie, Christiane, auf Ihr redliches Gewissen: zweifeln Sie an der Naturgewalt oder, wie ich es nenne, an dem mystischen Zwange, der allein fähig ist, mich trotz alledem immer wieder zu Ihren Füßen zurückzuführen? Ich war auch heute völlig darauf gefaßt, verkannt, geschmäht, mißhandelt zu werden. Aber das eben ist das Wunder der Liebe: sie will von dem Geliebten lieber mit Füßen getreten, als von ungeliebten Händen geliebkos't werden. Haben Sie noch das Herz, mich für einen Teufel zu erklären, den es nur reizt, Ihre Seele in Ihre Gewalt zu bekommen? Ihre Seele – o mein Gott! Auf die habe ich verzichtet, so weh es mir gethan. Ich verzweifle daran, Sie in die Tiefen meines Gotteslebens hineinzutauchen, Ihnen die Wonnen meines Schauens und Ahnens mitzutheilen. Aber glauben Sie mir, Christiane: es giebt irdischen Ersatz für die höchsten göttlichen Verzückungen, deren nicht alle Geister fähig sind, einen Ersatz, der zugleich die Seele reift und für höhere Stufen des Erkennens 107 vorbereitet: den Ueberschwang seelisch-sinnlicher Leidenschaft, wie er mich ahnungsvoll überschauert, wenn ich nur Ihre Hand fasse, wenn Ihr Auge mich streift, Ihr Athem über mein Gesicht weht. Niemand, er mag gelitten haben so viel er will, geht unverjüngt und ungelabt aus diesem Bad der Seele hervor, und wahrlich, meine Freundin, schon um Ihrer selbst willen würde ich Ihnen den Muth wünschen, sich mit zugedrückten Augen in die Flammen zu stürzen, aus denen das arme, unsterbliche Geschöpf von allen Schlacken irdischen Schmerzes gereinigt als ein neues, göttlich beruhigtes Gebilde hervorgeht.

Das ist das Mysterium, fuhr er fort, da sie noch immer schwieg: Niemand kommt zum Vater, als durch den Sohn, zur himmlischen Liebe Niemand, der sich der irdischen verschließt. Sie haben Ihren Gott nicht gefunden, meine Freundin, weil Sie Ihrem Gottmenschen nicht Macht über sich einräumen wollten, Ihrem Erlöser, der Sie erlöset hätte von Ihrem eigenen Selbst. Wissen Sie, was Lucifer gesündigt hat, daß er vom Angesicht des Ewigen verstoßen wurde? Er hat hochmüthig in vermessener Unschuld sich selbst behalten wollen, er hat es verschmäht, sich hinzugeben an die Macht der Liebe. Nun friert er in seinen Flammen, wie Sie der Frost schüttelt, Christiane, während Ihre Sinne Sie umlodern. O meine Freundin, Sie schweigen! Daß ich Engelszungen hätte, Ihnen ein Echo abzulocken, Ihnen das starre Herz aufzuthauen! Sie sagen, es graut Ihnen vor mir. O nicht vor mir, dem armen willenlosen 108 Menschen, den ein Blick von Ihnen bändigt; vor Ihrem eigenen Untergang graut Ihnen, der Ihrer Erlösung vorhergehen muß, vor dem Verlust, durch den Sie gewinnen, dem Tode, durch den Sie leben sollen. »So schaudert vor der Lieb' ein Herz, als ob es sei von Tod bedroht.« Aber Sie haben eine starke Seele, Christiane, Sie werden diese Feigheit abschütteln und Alles an Alles setzen, den Tod an das Leben, die Sünde an die Gnade, den Haß an die Liebe. –

Ich habe es gewußt, flüsterte er, und seine Stimme wurde fast tonlos, ohne ihren leidenschaftlichen Ungestüm zu verlieren, da ich dich zuerst sah und sofort dein Schicksal erkannte: diese Stunde würde kommen, so sehr du widerstrebtest, so sehr mein Stolz mir Dornen in die Seele trieb. Ich habe dich von Anfang an gesehen, wie ich dich jetzt sehe, und heimlich lachen müssen über deinen thörichten Schmerz, daß du dich nicht geschaffen glaubtest, Liebe zu erwecken. Du, deren Blick und Wort und Geberde Tag und Nacht mich verfolgt, mir das Blut in den Adern in Flammen gesetzt haben, wie nie ein Weib! Du, die mich haßt, mich zu hassen glaubt – denn dies Grauen ist ja die Mutter der Sehnsucht – du hast meine Träume vergiftet mit grausamen Qualen und meine wachen Tage elend gemacht. Wenn du das Alles wüßtest, was ich aus kindischem Stolz dir verschwieg – ich Thor, um jetzt desto willenloser mich auf Gnade und Ungnade unter deine Füße zu krümmen! Und der Allmächtige weiß, nur Ein Gedanke, Eine ahnungsvolle Stimme in mir gab mir die Kraft, all das zu dulden: 109 der Gedanke, daß die Stunde kommen würde, wo das Herz dir plötzlich schmelzen, wo du hingerissen von demselben Sturm mir sagen würdest: du hast genug gelitten; nimm mich hin! Laß uns untergehen, um Eins im Andern wieder aufzuleben.

Er hatte sich näher und näher zu ihr hinabgeneigt, seine Lippen berührten fast ihr Haar, seine Augen ruhten auf ihrer Stirn, die wie von Todesangst feucht war, die Augen hatte sie fest geschlossen, wie eine Ohnmächtige. Als sie noch immer sich nicht regte, überfiel ihn selbst eine plötzliche Angst. Christiane! rief er und umschlang sie heftig mit seinem Arm, indem sein Mund den ihren suchte. In demselben Augenblick fühlte er sich gewaltsam zurückgestoßen.

Sie war vom Stuhl aufgefahren und einen Schritt zurückgetreten. Er sah in dem Halbdunkel des Lämpchens ihre Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck starr geöffnet sich gegenüber.

Sie sind ein Teufel! sagte sie. Sie verlassen mich auf der Stelle, und wenn Sie den satanischen Muth haben sollten, nur noch ein Wort hinzuzufügen, reiße ich dort das Fenster auf und schreie »Mörder!« in die stille Nacht hinaus. Hören Sie, was ich sage? Wenn Ihnen Ihre Ehre nicht so gleichgültig ist, wie die meinige, so gehen Sie – gehen Sie – gehen Sie!

Sie sprach das Letzte so überlaut, die Hand so gebieterisch nach der Thür gerichtet, daß er stumm blieb. Aber es schien ihn dennoch nicht tiefer zu erschüttern; ja ein Lächeln spielte um seine Lippen, als er Hut und 110 Paletot vom Sopha nahm, sich leicht verbeugte und mit einem »Gute Nacht« das Zimmer verließ.

Sie hörte, wie er die Thüre draußen, die auf den Flur ging, öffnete und heftig wieder zuschlug. Tritte die Treppe hinunter vernahm sie nicht. Aber sie kannte sein unhörbares Auftreten. Sie durfte glauben, daß sie endlich allein sei.

Doch ließ die Einsamkeit sie nur zu sich selbst kommen, damit sie sich um so elender fühlte. Sie sank auf den Stuhl zurück, und alle mühsam bezwungene Qual und Angst machte sich in wilden Thränen Luft.

Was hatte sie hören müssen! Wenn es sie auch empörte, wie dieser trübe Schwärmer das Höchste und Niedrigste, göttlichen Trieb und rasende Begier der Sinne durcheinander wirrte und mit dunkelsinniger Keckheit die reine Stimme ihres Gemüths einzulullen unternahm: war es nicht doch Leidenschaft, was aus ihm loderte, die Sprache eines fessellos Verlangenden, der Alles daransetzt, seinen Wunsch zu erringen, Himmel und Hölle aufbietet, ihm beizustehen? Also war sie doch nicht zu ausgestoßen, um solche Flammen zu entzünden, also gab es einen Menschen, der Alles an sie wagte, den weder ihr Haß, noch ihr Abscheu zurückhalten konnte, sie mit glühenden Wünschen zu verfolgen!

Aus dem Frost, der sie auf dem langen Wege durch die Nebelnacht geschüttelt hatte, – in welche Gluten fühlte sie sich hineingerissen! – nein, noch nicht hinein in diesen lodernden Abgrund, aber die Flammen, die 111 aus ihm emporschlugen, waren nahe genug, um ihr den Athem zu rauben.

Sie konnte auf dem Stuhl nicht ruhig bleiben, die Luft war so beklemmend schwül. Einen Augenblick öffnete sie das Fenster, schloß es aber gleich wieder, da der Nebel naßkalt und schaurig wie aus einer Todtengruft hereindrang und sie frösteln machte. Das kleine Feuer im Ofen war längst ausgegangen; nun erlosch auch das Lämpchen. Sie war im Finstern und achtete es nicht. Hin- und hergehend, von rastlosen Gedanken im Kreise umgetrieben, warf sie, mehr um sich zu kühlen, ihre Kleider ab, mechanisch ein Stück nach dem andern fallen lassend, wo es sich gerade traf. So im Herumtappen stieß sie an ihr Bett und sank darauf nieder. Schlafen! sagte sie ganz laut und erschrak vor ihrer eigenen Stimme; dann kauerte sie sich rasch unter die Decke, als ob sie da geborgen wäre. Sie schloß aber noch nicht die Augen; die brannten ihr noch zu sehr von dem weiten Gang durch die Nebelnacht. Und es half auch nichts. Die Augen des gefährlichen Menschen, den sie eben von sich gestoßen, wurde sie darum nicht los; sie leuchteten überall ihr entgegen, aus dem Dunkel um sie her und hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie versuchte es in ihrem Grauen, den Spuk zu bannen durch einen Zauber, der ihr sonst in einsamen Nöthen nie versagt hatte, indem sie Edwin's Gestalt vor ihre Seele beschwor. Heute mißlang auch das: sie konnte mit aller Mühe sich auf die sonst so deutlichen Züge nicht besinnen; nur Toinettens reizendes Gesicht stand plötzlich hell und lachend 112 vor ihr da, daß sie einen stechenden Schmerz fühlte und die Decke über ihre Augen zog, um diese Erinnerung wegzudrängen.

Im nächsten Moment stieß sie die Decke wieder zurück, hob den Kopf vom Kissen und richtete sich halb in die Höhe, wie um nicht zu ersticken. Ein müdes Stöhnen brach ihr von den Lippen, sie drückte den nackten Arm gegen ihr Gesicht und vergrub die Zähne in ihr eignes Fleisch, bis der heftige Schmerz sie zur Besinnung brachte.

Er hat Recht, sagte sie dann vor sich hin; es giebt nur Einen Zauber, den Zauber der Sünde. Wer jetzt einen Gott hätte, zu ihm zu beten: erlöse uns von dem Uebel! – aber ein Gott, der sich erst darum bitten lassen müßte –!

So saß sie eine Weile aufrecht, in verworrenem Schmerz, mit stürmisch klopfendem Herzen. Dann sank sie nach und nach zurück, lag lang ausgestreckt und schlief endlich halb ein. Die Nacht wurde immer stiller, die Welt schien ihr wie ausgestorben, und nur sie mit ihrer ewig ungestillten Sehnsucht nach Glück konnte noch nicht sterben.

Plötzlich glaubte sie ein seltsam knisterndes Geräusch zu hören, wie wenn eine Fledermaus dicht über dem Fußboden hinschwirrte. Ein Schauder lief ihr über den Nacken, aber sie konnte sich nicht aufrichten, ihre Glieder waren wie vom nahen Tode gelähmt. Wer ist da? rief sie.

Keine Antwort. 113

Ist Jemand im Zimmer?

Alles todtenstill.

Ich bin im Fieber, sagte sie zu sich selbst. O diese Nacht! wenn es nur erst Morgen wäre! Schlaf – eine Stunde Schlaf!

Sie vergrub den Kopf in die Kissen und schlummerte nun wirklich ein. Der Traum führte sie mit Edwin zusammen, er war aber ein Anderer gegen sie, als sie ihn je gesehen. Er lächelte sie an mit seinem heitersten Gesicht, dann wurde er wieder ernst, genau so, wie sie ihn heut im Spiegel beobachtet hatte, in der Fensternische dem schönen Mädchen gegenüber. Jetzt aber galt all sein Flüstern und inniges Anblicken ihr. Ihr entwöhntes Herz wollte nicht daran glauben – es muß ein Traum sein, klang ihr immer im Ohr – er aber redete ihr so beharrlich und dringend zu – so mit Ton und Blick ernsthafter Leidenschaft – nur seltsam! genau mit denselben Worten, die sie vorhin von Lorinser gehört, daß ihr selig erschreckendes Herz sich nicht länger gegen das Wunder sträuben konnte: von ihm geliebt zu sein! Ein Wonneschauer überrieselte sie. Sie sah, wie er sich über sie herabneigte, ganz deutlich fühlte sie den Hauch seines Athems über ihr Gesicht wehen, ihre heißen Lippen waren halb geöffnet in die leere Finsterniß gestreckt und lallten dann und wann ein sinnloses Wort. – –

Ein gellender Schrei tönte plötzlich durch das stille Haus, ein Schrei, der in seiner furchtbaren Schärfe so wenig nach einer Menschenstimme klang, daß die Schläfer, 114 an deren Ohr er dringen mochte, nur einen Augenblick auffuhren und, da Alles wieder still blieb, ruhig weiter schliefen, in der Meinung, es müsse ein Traum oder eine Sinnestäuschung gewesen sein. Oben in der »Tonne« regte sich Balder in seinem Fieberschlaf und fragte, ob er selbst so geschrieen habe. Mohr war vom Stuhl aufgesprungen und zitterte am ganzen Leibe. Er glaubte deutlich gehört zu haben, daß der entsetzliche Ton aus dem Zimmer unter dem ihren kam. Laß mich hinunter! raunte er Edwin zu. Es klang, wie wenn Jemand um Hülfe schrie gegen einen Mörder. – Edwin hielt ihn zurück. Wo denkst du hin? flüsterte er. Wenn sie es war, so hat ihr vielleicht ein Alp die Brust beklemmt. – Sie lauschten dann gespannt hinunter; es blieb aber todtenstill. Nach und nach beruhigte sich Mohr und fuhr fort, die Eisumschläge zu erneuern.

Aber die alte Hausmagd, die eben zum letztenmal für diese Nacht mit ihrem Schwindellämpchen die Hühnerstiege heraufkam, um oben nachzufragen, ob man sie noch brauche, ging gerade an Christianens Thür vorbei, als der furchtbare Schrei, wie in Todesangst und wilder Verzweiflung ausgestoßen, an ihr Ohr klang. Die gutherzige Person dachte ebenfalls nichts weiter, als daß vielleicht ein Brustkrampf das Fräulein befallen habe, besann sich aber keinen Augenblick, mit dem Drücker, den sie immer bei sich trug, die Thür zu öffnen und rasch hineinzutreten.

Als jetzt der Schein ihres Lämpchens weit vorleuchtend in das dunkle Hinterzimmer fiel, blieb die 115 Hülfreiche wie versteinert in dem Entrée stehen, unfähig, einen Schritt vor- oder zurückzuthun. Sie sah das Fräulein mit bloßen Füßen regungslos an der Wand neben dem Kopfende des Bettes stehen, die Decke fest um den Leib geschlungen, die aufgelös'ten Haare über die Schultern zerstreut, den nackten rechten Arm mit ausgespreizten Fingern vor sich hin gestreckt, die Augen, weit geöffnet, daß man das Weiße glänzen sah, starr auf die dunkle Männergestalt gerichtet, die gleichfalls ohne Regung mitten im Zimmer stand. Keine Silbe wurde gesprochen. Man hörte nur ein ersticktes Geräusch, wie ein Röcheln, von den zusammengepreßten Lippen des Mädchens, und da, wo der Mann stand, einen dünnen, scharfen Laut, wie von knirschenden Zähnen. Jetzt wandte sich der Mann – scheinbar ruhig und völlig lautlos; er schien auf dem Boden etwas zu suchen – dann machte er eine winkende Bewegung nach der Wand hin, und das Gesicht mit der andern Hand verdeckend, dem Lämpchen den Rücken zugekehrt, glitt er baarhaupt an der Alten vorbei, hinaus in den dunklen Flur.

In demselben Augenblick brach die weiße Gestalt neben dem Bette zusammen, und das Lämpchen der hinzustürzenden Alten beleuchtete ein todtblasses Gesicht, verzerrt vom wildesten Krampf eines übermenschlichen Schmerzes. 116



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