Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Er hatte den Brief eben geschlossen und stand auf, um ihn selbst auf die Post zu tragen, als ein Klopfen an seiner Thür erklang, das er lange nicht mehr gehört.

Ehe er noch Zeit hatte, »herein!« zu sagen, ging die Thür auf, und aus dem dunkeln Corridor tauchte ein runder Kopf mit spärlichem blondem Haar und einer goldenen Brille hervor, eine wohlbeleibte, aber bewegliche Figur schob sich hastig herein – »Er ist es!« erklang gleichzeitig aus zwei Freundeskehlen, und im nächsten Augenblick lagen Edwin und Marquard einander in den Armen.

Wunder über Wunder! rief Edwin, indem er den Freund näher ans Fenster zog. Hast du dich auf den thierischen Magnetismus gelegt und reisest mit einer Somnambule, daß du mich hier aufgefunden? Du warst zwar immer eine Art Repertorium für alles Wissenswürdige. Aber da ich hier im Ort keine lebende Seele kenne, diese vier Wände nicht verlassen, auch meinen Namen noch nicht ins Fremdenbuch eingetragen habe –

Das Räthsel wird zu seiner Zeit sich lösen, 22 unterbrach ihn Marquard mit ernsthaftem Gesicht. Komm, setzen wir uns auf dieses abgemagerte Canapee und erlaube, daß ich mir eine meiner Cigarren anzünde. Ich fürchte, ich bin nicht Idealist genug, um die deinigen rauchbar zu finden. Und nun laß sehen und hören, was diese vier Jahre aus dir gemacht haben. Du bist auch nicht gerade runder geworden. So ein Lehrer der Mathematik sollte doch billig einmal über die Anfangsgründe, die geraden Linien und spitzen Winkel hinauskommen. Ich, wie du mich da siehst, arbeite stark auf den Geheimerath los, und da Adeline gleichfalls ihre natürlichen Grenzen behaglich erweitert, eine Folge unseres glücklichen häuslichen Lebens und ungestörter Harmonie der Seelen –

Hast du sie endlich geheirathet?

Nicht gerade in aller Form, aber in der Sache kommt's doch so ziemlich auf Eins heraus. Wir haben beschlossen, uns nie zu trennen, außer wenn es uns rathsam scheinen sollte, uns doch zu trennen. Ist denn die legitime bürgerliche Ehe nicht auch nur ein Vertrag auf Kündigung, und sagt nicht Schiller, Schönheit sei Freiheit in der Nothwendigkeit? Nun, so etwas Schönes ist es um unser Bündniß. Wir beide sind frei und finden es beide nothwendig, beisammen zu sein. Das gute Wesen hat sich vom Theater zurückgezogen und verschönert meine Einsamkeit durch ihre häuslichen Talente. Auch hilft sie mir im Stillen bei einer wissenschaftlichen Arbeit.

Die Nachtigall hat auch Talent für die Medicin?

Nur für die angewandte. Wir schreiben zusammen 23 ein Kochbuch, oder vielmehr ein Buch über die Kunst zu essen. Brillat-Savarin ist zwar klassisch, aber doch nur ein Kind seiner Zeit.

Und die deine erlaubt dir, dich so tiefen Studien auf einem Nebengebiet hinzugeben? Freilich, von dir gilt das Wort nicht: »Wie schwer sind nur die Mittel zu erlangen, durch die man zu den Quellen steigt!«

Allerdings nicht; aber eben weil ich, als ein gesuchter Frauenarzt und in dieser Specialität nachgerade Nummer Eins, meinen Tag sehr auskaufen muß, würde ich das schwierige Werk ohne die Hülfe eines so geschmackvollen Mitarbeiters, wie Adeline, nicht zu Stande bringen. Nun, du wirst uns ja einmal besuchen, es ist die höchste Zeit. Wir führen dich dann in unser Laboratorium, und du sollst uns das Zeugniß geben – aber vor allem Andern: was hat dich denn hieher verschlagen, ohne deine theure Hälfte?

Dieser Glückliche, lachte Edwin, der außer der Zeit lebt und nicht ahnt, was Hundstagsferien für einen armen Gymnasiallehrer bedeuten! Bis jetzt habe ich sie noch immer mit Lea zusammen auf der Wanderung verbracht, und nur diesmal zwangen mich geheimnißvolle höhere Rücksichten –

Darf man gratuliren, alter Freund? Nur keine verschämten Winkelzüge deinem alten Medicinalrath gegenüber! Der Papa wird dir gut stehen. Schade, setzte er leiser hinzu, daß Onkel Balder das nicht mehr erlebt!

Edwin schüttelte den Kopf. Ich fürchte, es handelt 24 sich nicht um so große Dinge, sagte er. Ich wäre sonst wohl im Geheimniß. Freilich, möglich wäre es trotzdem. Wer lernt die Frauen aus! Solltest du es zum Beispiel glauben, daß diese zärtliche Tochter, die sich mit bittern Thränen von ihrer Lagunenhütte trennte, weil sie den Vater einsam darin zurückließ, nun doch sich nicht entschließen kann, ihn einmal wieder zu besuchen, bloß weil er das Klügste gethan, was er unter seinen Umständen thun konnte, und seine alte Freundin, die Professorin, geheirathet hat?

Also doch! rief Marquard. Adeline wollte es in der Zeitung gelesen haben, hernach war das Blatt nicht mehr aufzufinden, um die Namen zu constatiren, und Karten haben sie uns natürlich nicht geschickt. Nun, ich glaube, sie werden wie zwei Tauben im Taubenschlag mit einander leben, in ihrem Gott vergnügt, und die guten Werke werden jetzt in Compagnie floriren. Was ficht denn nur deine Lea an, daß sie eine solche Ehe, die doch gewiß im Himmel geschlossen ist – und nebenbei eine so vernünftige Sache – denn wo sollte der einsame alte Herr, da man seinen venezianischen Palast mit einer großen Miethkaserne überbaut hat, besser unterkriechen, als unter die schützenden Fittige dieser vortrefflichen alten Flamme?

Das ist es eben, versetzte Edwin; das hat einen Punkt im Herzen seiner Tochter berührt, der keine Räson annimmt. Hätte sich's einfach um eine neue Lebenseinrichtung gehandelt, wobei die äußeren Rücksichten auf das Behagen und die Pflege des Vaters den 25 Ausschlag gegeben, so wäre Niemand froher gewesen, als mein gutes Weib. Aber Papa Zaunkönig theilte ihr seinen Entschluß in einem Briefe mit, der allerdings merkwürdig genug war. Die Rollen waren geradezu vertauscht; der Vater sprach zu der Tochter in einem Ton, wie etwa ein guter Sohn oder jüngerer Bruder einer sehr respectirten Mutter oder Schwester von einer Heirath berichtet, die sie wahrscheinlich mißbilligen würde, aber, als eine vollendete Thatsache, mit möglichst guter Manier hinnehmen möge. Er kannte sein Kind; er wußte, daß sie mit einer tiefgewurzelten Eifersucht darüber wacht, das Bild ihrer todten Mutter nicht verdrängt zu sehen. Gegen eine sogenannte Vernunftheirath mit einer Andern als seiner alten Flamme hätte sich ihre leidenschaftliche Pietät nicht aufgelehnt. Aber zwischen den Zeilen des Briefes war deutlich zu lesen, daß in diesen beiden durchaus nicht herbstlichen Seelen eine Nachblüte ihrer Jugendgefühle, ein fröhlicher Johannistrieb aufgewacht sei, und daß die ganze Schüchternheit und Verschämtheit eines wirklichen Liebesglückes die beiden guten Menschen überkommen habe. Auch der Brief der Professorin war verlegen, und trotz der Aeußerung: »sie hätten erkannt, daß es Gottes Wille sei, und fügten sich seinem Rathschluß« – ließ sich leicht erkennen, daß sie sich herzlich gern diesem höheren Willen gefügt hatten. Darüber kam nun meine kleine Philosophin nicht hinweg, und nie ist ihr ein Brief so sauer geworden, wie die Antwort auf diese Anzeige. Ja, obwohl in den zwei Jahren, die seitdem verflossen sind, Dank dem wahrhaft 26 christlichen Sinne, der in dieser Ehe waltet, auch die Empfindung der Tochter gegen ihre neue Mutter milder und fast versöhnt worden ist – noch immer sträubt sie sich gegen ein Wiedersehen des Vaters in den neuen Verhältnissen. Wenn das an meiner kleinen Philosophin geschieht –! Und da giebt es Leute, die bestreiten wollen, daß die Frauen ihre besondere Ethik haben!

Sie schwiegen eine Weile. Es war inzwischen ganz dunkel geworden, nur die goldene Brille blitzte zuweilen, wenn die aufglimmende Cigarre ihr nahe kam. Plötzlich sagte Marquard:

Willst du mir eine Frage beantworten, mein Junge? Eine indiscrete Frage, so was man Gewissensfrage nennt; ich habe aber meine Gründe dazu: – bist du glücklich?

Ich finde diese Frage von Freund zu Freund durchaus nicht indiscret, versetzte Edwin ruhig. Aber um sie gewissenhaft zu beantworten, müßten wir uns erst darüber verständigen, was du unter Glück verstehst. In dem gewöhnlichen Sinne, daß kein Wunsch unerfüllt bleibt, keine Sorge uns zu schaffen macht, in diesem Sinne kenne ich nur Ein glückliches Paar in unserer Nähe: unsern guten Volkstribun und seine kleine Frau. Papa Feyertag hat, wie du weißt, seine schwiegerväterliche Tasche so großmüthig aufgeknöpft, daß Franzel, der darauf bestand, mit mir nach L. überzusiedeln, eine sehr stattliche Buchdruckerei gründen konnte. Wir biegen nur um die Ecke, so sind wir bei ihnen. Und ich brauche dir nicht zu versichern, daß wir gute Nachbarschaft halten. 27 Man kann auch nichts Hübscheres sehen, als dieses kleine, rosige, blonde Hausmütterchen mit ihren drei rothbackigen Schreihälsen.

Drei? Die Hochzeit war doch erst –

Ein Zwillingspaar ist darunter, jetzt eben zwei Jahr alt, dem Papa wie aus den Augen geschnitten und durch ihre kräftigen Stimmen schon von Weitem als junge Volkstribunen kenntlich. Unsern Franzel muß man sehen, wie er sich mit dem kleinen Gesindel schleppt, eins auf jedem Arm und das dritte huckepack, sein schwarzbraunes Gesicht mit den weißen Zähnen unter dem Bartgestrüpp über und über von Vaterfreude glänzend – und wie ihm dann Frau Reginchen, wenn er genug getollt hat, die Zotteln aus der Stirne streicht und ihn schilt, daß er die Buben noch wilder mache, als sie ohnehin seien – und dabei leuchten ihr die Augen –! Ich bin überzeugt, sie haben noch nicht eine halbe Stunde lang zweierlei Meinungen gehabt. Denn noch immer, wie im Brautstand, regiert sie ihn mit ihrem kleinen Finger, was Herz und Haus und Herd betrifft, und ist dabei so gescheidt, in Dinge, die sie wiederum nicht versteht, sein Geschäft und seine Weltverbesserungstheorieen, nicht hineinzureden. In letzteren ist er immer noch stark; wir haben aber einen stillschweigenden Vertrag geschlossen, daß wir nicht mehr über socialpolitische Fragen disputiren, und was er praktisch sich damit zu schaffen macht, hat Hand und Fuß. Wirklich musterhaft ist seine Fürsorge für seine Arbeiter, die alle in bestimmtem Verhältniß am Gewinn Theil nehmen – eine Art 28 Actiengesellschaft, bei der die Einzahlung der einzelnen Actionäre, statt in Geld, in Arbeitskraft geleistet wird – freilich ein System, das von dem guten Willen des Kapitalisten abhängt und erst Nachahmung finden wird, wenn sämmtliche Fabrikbesitzer Menschenfreunde geworden sind, wie unser Franzel. Aber hier finden doch alle Theile ihren Vortheil dabei, und es ist wohlthuend, zu sehen, wie sie an ihm hängen, wie sie Frau Reginchen vergöttern und die Schwarzköpfe und die kleine Blonde verziehen, vom Factor herab bis zum jüngsten Laufburschen. Und dabei ist aus dem Schusterskind, das von seinem Vater mit Künsten und Wissenschaften nicht viel geplagt worden ist, eine sehr reputirliche kleine Frau geworden, die sogar in den üblichen Lesekränzchen, wenn es nicht über Schiller hinausgeht, keine üble Rolle spielt. So sagt wenigstens Lea. Denn vor mir hat sie immer noch einen Respect, als wenn ich der heilige Geist in Person wäre, und vermeidet literarische Gespräche in meiner Gegenwart. Dafür stehen wir auf einem sehr lustigen Neckfuß mit einander, sie heißt mich Herr Gevatter und ich sie Frau Gevatterin – du solltest doch einmal kommen und dir unser Stillleben ansehen – wenn du auch für dein gastronomisches Werk keine neuen Erfahrungen bei uns sammeln könntest.

Ich komme schon, sagte Marquard, ich komme ganz gewiß. Ich kann dir sagen, du hast mir Appetit gemacht. Aber bei alledem sind wir von der Hauptsache wieder abgekommen.

Ob ich glücklich bin? Du weißt, daß nicht viel 29 dazu gehört, um einen Idealisten zufrieden zu stellen. Die Welt ist, was wir uns aus ihr machen. Und ich habe guten Grund, mir recht Viel aus ihr zu machen. Die gemeine Noth des täglichen Lebens ist mir fern; daß ich der Universität entsagt habe, um als Gymnasiallehrer ein mäßiges und ruhmloses Brod zu essen, hat mich noch keine Stunde gereut. Während ich den Jungens den Pythagoräischen Lehrsatz beibringe, hat mein metaphysisches System Zeit, auszureifen, und ich brauche Nichts zu dociren, was ich nicht völlig verantworten kann. Ehrgeiz habe ich nie besessen. Was ich nicht in mir habe, kann mir Niemand geben, und an der Bestätigung meiner Selbstachtung durch eine dumpfe Menge, die ich nicht kenne und daher nicht achten kann, war mir nie etwas gelegen. Aber Eins verdanke ich der kleineren Stadt, was ich in der großen für entbehrlich hielt und nun als eine Bereicherung und Stärkung meines Daseins schätzen gelernt habe: ich bin mitten ins bunte Menschenleben hineingezogen worden, und die hundertfache Berührung mit einer scheinbar ganz gedankenlosen Wirklichkeit ist nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Philosophen zu Gute gekommen. Du lächelst, hochmüthiger Weltstädter. Du kannst dir nicht vorstellen, daß auch in dem Dunstkreis eines kleinen Nestes der Weltblick sich schärft. Und doch ist der Mensch überall Mensch, und gerade so ein Nest ist wie eine Retorte, in der ich das Experiment, das mir in der hastigen großen Stadt unter den Händen zerrinnt, aufs Bequemste isoliren kann. Du würdest dich wundern, wenn ich dir 30 Beispiele erzählte, welche psychologischen Resultate mir aus dem thätigen und täglichen Antheil an den Interessen meiner wackern Mitbürger zugeflossen sind. Was wußte ich von der Gattung homo sapiens, als ich noch in unserer Tonne haus'te und nur einige ausgesuchte Exemplare mir nachkommen ließ? Aus dem Durchschnitt allein kann man den Gesetzen auf die Spur kommen. Aber dies Alles wirst du eines Tages in meinem Buche finden, falls ich es überhaupt schreibe und du dir Zeit und Mühe nimmst, es zu lesen. Nur das will ich noch sagen, daß sich Nichts auch äußerlich mehr der Mühe lohnt, als, wo man auch stehe und mit welchen Menschen man verkehre, ihnen redlich sich hinzugeben und das Beste, was man hat, mit ihnen zu theilen. Diese guten Leute, die mich anfangs curios ansahen, weil ich Alles unterließ, was sonst dazu beiträgt, sich beliebt zu machen, weder ihre Ressourcen noch ihre Kegelpartien besuchte, so wenig wie Lea sich auf Kaffeegesellschaften einließ – jetzt wissen sie, daß sie trotz alledem einen sehr guten Freund an mir haben. Hie und da bei öffentlichen Anlässen habe ich ums Wort gebeten und meine alte Meinung bestätigt gefunden, daß eine Menschenmenge durch Nichts leichter zu lenken ist, als durch das, was außerhalb und über dem Gemeinen steht, wenn Einer nur das Zeug dazu hat, den wahren Menschengeist, der im Busen des dürftigsten Philisters schlummert, zu wecken. Seitdem kommen sie zu mir, sobald dieser Geist sich in ihnen rührt, aber aus eigener Kraft sich nicht ermannen kann. Sie hätten mich in die 31 Kammer gewählt, wenn ich es mir nicht ernstlich verbeten hätte. Basta! Du möchtest denken, ich bildete mir Wunder was darauf ein, Cäsar in einem Dorf zu sein. Wahrhaftig nicht, Bester! Ja, ich gestehe dir, daß es mich immer noch einen besonderen Anlauf kostet, mir diese bescheidenen Verdienste um meine Mitbürger zu erwerben. Denn im Grunde der Seele bin ich doch immer der alte Aristokrat, den nur das noblesse oblige aus seiner Abgeschlossenheit herauszulocken vermag. Ein Band der Neigung fesselt mich nur an Wenige, und ob nicht auch das zerreißt, wenn es wirklich dahin kommen sollte, daß ich mein Zelt abbreche und meinen Stab weitersetze –

Du willst deine Stelle aufgeben?

Ich nicht; aber gewisse Leute möchten mich so weit bringen, die es nicht ertragen können, daß ein simpler Mathematiklehrer zu denken und zu reden sich erlaubt, was ihnen nicht in den Kram paßt. Die Geschichte ist einfach: ich habe in einer Art Arbeiterbildungsverein, den Franzelius natürlich gleich gestiftet hat, und der wöchentlich außer den eigentlichen Mitgliedern auch die Honoratioren versammelt, einen Vortrag über den Darwinismus gehalten, rein naturhistorisch, ohne die Consequenzen zu ziehen, die freilich in die Augen springen. Das hat unser Stadtpfarrer, mein werther College am Gymnasium, wo er einen stockmittelalterlichen Religions-Unterricht ertheilt, so übel genommen, daß er sich hinter den Rektor gesteckt und ihn aufgestiftet hat, mir zuzureden, ich möchte meine Entlassung nehmen. Als ich 32 hiezu weder Lust noch Pflicht verspürte, ist ein Bericht an die Behörde abgegangen, auf den die Antwort noch aussteht. Ich erwarte sie ruhig. Meinen übrigen Collegen bin ich nicht im Wege, sogar der Rector hält etwas auf mich und hat nur widerstrebend sich der Autorität unseres geistlichen Oberhirten gebeugt; und sollte es wirklich zu einer Aenderung meiner Lage kommen, so ist mein Widersacher um diesen Sieg nicht zu beneiden, da die Gunst der alten und jungen Leute mich ins Exil begleiten wird. Du siehst also, ich fange an, Carrière zu machen, zunächst freilich in dem Sinne, daß ich der Stein bin, der nicht Moos ansetzen kann, weil er ins Rollen kommt. Aber Bewegung erfrischt das Blut, und ein Kind der Welt findet überall seine Heimath.

Aber deine Frau?

Sie würde sich freilich noch schwerer von unseren Freunden trennen, als ich selbst. Reginchen hat sich ihr wie eine Schwester ins Herz geschlichen. Im Uebrigen sind wir Zwei, ohne Ruhm zu melden, so mit einander zufrieden, daß uns nichts auf die Länge fehlen kann, wenn wir uns selbst behalten.

Es ist wahr, fuhr er nach einer Pause fort, da Marquard nachdenklich schweigend seine Cigarrenasche abstreifte, Eines fehlt mir noch, oder vielmehr meinem guten Weibe. Denn mit mir selbst ist es seltsam: ich war immer ein Kindernarr, und eine Ehe ohne diese Erfüllung ihres Weltzweckes schien mir eine kümmerliche Sache. Nun ich sie erlebe, sehe ich, daß der Mangel seinen Ersatz mit sich bringt. Es ist zwischen Mann 33 und Frau kein Drittes, das ihre Liebe auf sich ablenkte – sie sind sich immer noch so unter vier Augen gegenüber, müssen sich so Alles sein, wie in den Honigmonaten, die zu Honigjahren werden. Nur für Lea wünscht' ich es, da sie um meinen alten Hang zu Kindern weiß und Reginchens Segen nicht ansehen kann, ohne einen stillen Seufzer. Ich für mein Theil könnte mein Leben so verbringen, und der natürliche Wunsch würde nach und nach völlig absterben, bliebe mir nur, was ich habe. Wie Wenige können sich rühmen, ein Weib zu besitzen, das ihnen mit jedem Tage neu und doch so unentbehrlich ist, wie die älteste, liebste Lebensgewohnheit! Wir sind nicht immer Eines Sinnes, wie unsere Nachbarn; Lea's Blut ist nicht so leicht, und ihre Gedanken wühlen gern in ihrem Blut, und sie hat dann Stunden schwerer innerer Kämpfe, die sie redlich austragen muß. Aber um so hübscher und rührender ist es, wie sie sich dann wieder ins Helle und Heitere zurückfindet. Ich muß immer lachen, wenn sie daran zweifelt, ob sie auch die rechte Frau für mich sei, ob ich nicht mit so einem blonden Kindskopf, wie meine kleine Frau Gevatterin, glücklicher geworden wäre.

Marquard war aufgestanden und durchmaß heftig dampfend das Zimmer. Und die alte Liebe? sagte er nach einer Weile.

Völlig eingerostet, dem Sprichwort zum Trotz! Es wird mir immer klarer, daß der ganze Spuk, diese tolle plötzliche Leidenschaft, nur ein Symptom meines damaligen allgemeinen Zustandes war und im Feuer des 34 Nervenfiebers mit anderm unnützem und krankhaftem Stoff mir aus dem Blut geschmolzen ist. Auch habe ich seitdem ihren Namen nicht wieder ausgesprochen und so wenig von ihr gehört oder gesehen, als läge ihre Grafschaft im Sirius.

Ich wollte, sie läge dort! brummte der Arzt zwischen den Zähnen und stampfte dabei unmuthig auf den Teppich. Ich habe es dir verschweigen wollen, fuhr er fort, indem er sich wieder zu Edwin auf das Sopha warf. Aber da es keine Gefahr mit dir hat dagegen, wenn das so fortgeht, mit ihr eines schönen Tages ein schlimmes Ende nehmen kann –

Mit ihr? Du weißt von ihr? Du hast sie wiedergesehen?

Sogar nach vor wenigen Stunden die Ehre gehabt, der Frau Gräfin die Hand zu küssen und mich zu Gnaden zu empfehlen. Nun kann ich dir's ja auch sagen: wir wären blindlings hier an einander vorbeigerannt, wenn nicht dein alter Freund und Gönner, die gestreifte Weste, die gerade vor dem Hause herumlungerte, dich hier am oben Fenster gesehen und sofort wiedererkannt hätte.

Der kleine Jean? Aber wie in aller Welt –

Alles sollst du hören. Wie gesagt, ich wollte dir's verschweigen, da ich nicht wußte, welchen Eindruck es auf dich machen möchte, plötzlich der alten Flamme wieder so nah zu sein. Du weißt, ich habe immer große Stücke auf deine Frau gehalten und gedacht, es könnte Keine besser zu dir passen. Nach und nach, hofft' ich, 35 würdet ihr euch finden und du dadurch deine volle Gesundheit wieder erlangen. Wie du es aber so halsüberkopf anfingst und gleich die Verlobung vom Zaune brachst, mußte ich, als erfahrener Menschenfreund, denn doch den Kopf schütteln. So gewaltsame Curen pflegen selten zu gelingen, ohne in einem andern Organ irgend einen Schaden anzurichten. Indessen, die Art, wie du von deinem häuslichen Glücke sprichst, beruhigt mich. Ich glaube, es ist nichts dabei riskirt, wenn ich dir sage: deine alte Freundin hat trotz ihrer Grafschaft eine schlechtere Partie gemacht, als wenn sie den Oberlehrer Edwin genommen hätte.

Unglücklich? Das arme Geschöpf! Er behandelt sie schlecht? –

Höre, erwiderte Marquard, es ist am Ende doch besser, ich behalte meine Erlebnisse für mich. Mir scheint, du kannst noch immer nicht mit der nöthigen Objectivität –

Quäle mich nicht mit Ausweichen und Hinhalten! rief Edwin. Wie könnte ich kaltblütig bleiben, wenn ich hören muß: ein Wesen, das mir einst so theuer war, hat ein schweres Schicksal zu tragen. Aber ich versichere dich, wenn ich es auch aus ihrem eigenen Munde hörte, nichts Anderes würde mir dabei einfallen, als daß hier eine Unglückliche mir ihr Leid klagt und Anspruch hat auf mein brüderliches Mitgefühl. – Die Zeit, wo sie mich mit einem Haar ihres Hauptes unzerreißbar hätte festbinden und zu Allem bringen können, ist für immer dahin. 36

Nun denn, so höre, versetzte der Arzt. Vielleicht ist es, wie fromme Leute sagen, eine höhere Fügung, daß ich dich hier habe finden müssen, da ich selbst eben unverrichteter Sache habe abziehen müssen.

Vor vierzehn Tagen erhalte ich einen Brief von einem Grafen ***, der mich einlud, zum Zweck einer ärztlichen Consultation ihn auf seinem Schlosse zu besuchen. Eine Anweisung lag bei, die mir keinen Zweifel darüber ließ, es sei eben der Reichste von den Grafen dieses Namens, und die Dame, um die es sich handle, Niemand anders, als unsere alte Freundin. Daß ich neugierig war, sie wiederzusehen, wirst du begreifen. Adeline, die viel zu großartig angelegt ist, um Eifersucht zu kennen, redete mir eifrig zu. Meine Patientinnen hatte ich zum größten Theil in Bäder geschickt; also nahm ich ohne Bedenken an und war schon den dritten Tag an Ort und Stelle.

Der Graf hatte mir einen Wagen hier an die Station entgegengeschickt, da das Schloß noch zwei Stunden weit mitten im Gebirge liegt. Die Fahrt wurde mir aber nicht lang; ich erneuerte unterwegs vorläufig eine andere alte Bekanntschaft, die unseres kleinen Jean, der seit jenen unglücklichen Zech- und Rauch-Exercitien größer, aber nicht viel reifer geworden ist. Der lange Bursch starrt noch immer mit denselben diensteifrigen, pedantischen Knabenaugen in die Welt, wie damals in der Jägerstraße. Ich wollte ihn ein wenig aushorchen, aber seine Berichte bewegten sich ewig nur um die äußere Herrlichkeit, die seine Herrschaft umgiebt. Nach ihm zu 37 urtheilen, lebt kein glücklicheres, beneidenswertheres und gütigeres Wesen auf der Erde, als eben die gnädige Gräfin, und da sie, wie er erzählte, täglich ausfährt, reitet oder weite Spaziergänge macht und sich nirgend schont, auch niemals eine Klage hören läßt, schien nicht der mindeste Anlaß vorhanden, einen so berühmten Arzt, wie deinen alten Freund, von so weit her zu verschreiben, um ihr den Puls zu fühlen.

Das erste Gespräch, das ich mit ihrem Gemahl hatte, änderte nun freilich meine Ansicht sehr.

Ich fand in deinem glücklichen Nebenbuhler einen ganz anderen Mann, als ich mir vorgestellt, einen recht bedauernswürdigen Menschen, der von Allem, was er besitzt, Geld und Gut, Adel und Ahnen Schloß und dem Ausbund von Schönheit und Grazie, den er zur Frau hat, so viel wie Nichts genießt und in den besten Jahren und glänzendsten Verhältnissen seines Lebens nicht froh wird.

Der Zuschnitt des Hauses – herzoglich, kann ich nur sagen! Prachtvolles Schloß; Wälder ringsum, wie ich sie nur in Rußland gesehen; ein Jagdzug, der keinem Fürsten Schande machen würde; Küche und Keller so, daß selbst der Verfasser der »Kunst zu essen« durch die Gastfreiheit dieses Hauses seinen Horizont ansehnlich erweitert sah. Die zehn Tage, die ich im Schlosse zugebracht, haben mir einen Begriff davon gegeben, was es für eine schöne Sache ist um den echten, alten Adel, der immer aus dem Vollen wirthschaftet und von dem Industrialismus unserer Zeit noch nicht angekränkelt ist. 38

Der Graf selbst, in dieser Umgebung aufgewachsen, ein Gentleman von Kopf bis Fuß, jeder Zoll ein Cavalier, ein Mann, mit dem sich vortrefflich über Sport und Ballet reden läßt, und von dem man ohne Gewissensbisse ein paar hundert Louisd'or im Whist gewinnt. Freilich, das wird denn wohl auch das Beste sein, was von ihm zu gewinnen ist. Denn im Uebrigen – aber es kann sein, daß ich ihm Unrecht thue. Ich habe nicht aufhören können, ihn im Stillen mit dir zu vergleichen – und mich zu fragen – ohne dir schmeicheln zu wollen, – wodurch er dir wohl den Rang abgelaufen hätte, wenn ihr beide nur als simple Sterbliche vor unsere Prinzessin hingetreten wäret. Mir kam er vor wie ein schön geschnitzter, reich vergoldeter alter Bildrahmen, der eine wohlfeile, schlechtcolorirte Lithographie einfaßt. Aber wie gesagt, mein altes Vorurtheil für dich mag mir da einen Streich spielen.

Wenn nur nicht etwas Aehnliches, ein nachträglicher Vergleich, der zu Ungunsten des nun einmal Erwählten ausfallen mußte, auch bei unserer Gräfin mit im Spiele ist, sagte ich mir gleich. Und doch konnte ich bald erkennen, daß euer altes Verhältniß nicht im Geringsten nachwirkte.

Zunächst deutete der Graf, der mir übrigens Geständnisse machte, wie sie nur ein Arzt oder Beichtvater zu hören bekommt, mit keiner Silbe daraufhin, daß eine ältere Neigung dem ganzen räthselhaften Betragen zu Grunde liegen möchte. Er nahm mich sogleich in sein Cabinet und schilderte mir ausführlich die vier Jahre 39 seiner Ehe. Er habe gewußt, daß sie ohne Liebe seine Frau geworden sei. Sie habe ihn keinen Augenblick darüber zu täuschen versucht, und er, wahnsinnig in sie verliebt, wie er war und leider bis zur Stunde noch ist, habe sich vorläufig damit begnügt, daß er ihr nicht widerwärtiger gewesen, als die Männer überhaupt, gegen die sie im Allgemeinen eine Kälte gezeigt, die er sich gern habe gefallen lassen. Die alten, oftbewährten Trostgründe: die Liebe werde in der Ehe nachkommen, und es gebe kein Eis, das ein rechtes Feuer nicht endlich schmelzen könne, hätten auch ihm durch den kurzen Brautstand geholfen. Dann auch ihre Fremdheit in den neuen Verhältnissen, ihr Kampf mit allerlei feindseligen Elementen in seiner Familie, der freilich mit einem glänzenden Siege der jungen Unebenbürtigen geendet, ihr aber doch nicht gerade geholfen habe, zärtlich gestimmt zu werden. Aber zu seinem Erstaunen sei auch nach der Hochzeit die Statue nicht warm geworden in seinen Armen. Es mag dem guten Herrn zum Pygmalion freilich Manches fehlen. Indessen schwor er mir zu, daß er sie trotz ihrer unerbittlichen Starrheit und Sprödigkeit auf Händen getragen und in jeder Weise geschont habe.

Nun aber das Seltsamste. Ein Kind kommt zur Welt, ein munterer Junge, und auch diesem mächtigsten aller Vermittler gelingt es nicht, das Eis zu brechen. Ja, es scheint förmlich, als ob das ersehnte frohe Ereigniß die junge Frau ihrem Gatten nur noch mehr entfremdet habe. Denn seit das Kind da ist, setzt die Gräfin, obwohl sie unter Einem Dach mit dem Grafen zu leben 40 fortfährt, in der That eine völlige Trennung von ihm durch, schließt sich in ihren Zimmern ein, die ihr eigener Mann nie betreten darf, und nur bei Tafel, in größeren Gesellschaften oder auf den Jagden, an denen sie mit leidenschaftlichem Vergnügen Theil nimmt, wechselt sie überhaupt noch ein Wort mit ihm.

Alles, was er aufgeboten, diese unnatürliche Clausur zu durchbrechen, sei umsonst gewesen. Ja, sie habe ihre Abneigung gegen ihn sogar auf das Kind übertragen und dasselbe gewöhnlich ganz der Wärterin überlassen. Nur als es im siebenten Monat seines Daseins plötzlich erkrankte, ohne jede äußere Veranlassung oder Verschuldung, sei sie Tag und Nacht nicht von seinem Bettchen gewichen und durch seinen Tod offenbar im Tiefsten erschüttert worden.

Was aber er und auch die alte Gräfin erwartet, daß sie nun weicher gestimmt und mit ihrem Gatten wieder zu leben geneigt werden würde, traf nicht ein. Vielmehr fing sie seitdem an, sich noch mehr zurückzuziehen, noch launenhafter ihr Leben ganz nach Belieben einzurichten. Es sei so weit gekommen, daß sie aus Tag Nacht und die Nacht zum Tage zu machen pflege und nur selten einmal, bei einer außergewöhnlichen Gelegenheit, regelmäßig dagegen bei Jagden, unter den Gästen des Schlosses erscheine. Man merke ihr dann nichts an, sie sei freundlich und sogar heiter, und ein Dritter würde keine Ahnung haben, daß hier irgend etwas nicht in Ordnung sei. Als die Gräfin Mutter gestorben, habe sie der Bestattung mit allen Zeichen aufrichtiger Trauer 41 beigewohnt und ihrem Gemahl zum ersten Mal seit Jahr und Tag wieder die Hand gereicht. Aber gleich nach dem Leichenbegängniß sei sie wieder in ihren Zimmern verschwunden und habe das alte einsiedlerische Leben fortgesetzt.

Ich fragte den Grafen, ob er sie selbst nicht um den Grund dieser eigensinnigen Abschließung befragt habe. Mehr als einmal, gab er zur Antwort. Sie habe aber nicht offen mit der Sprache herausgewollt, nur erklärt, wie sie eingesehen, daß sie eine Thorheit begangen, sich mit ihm zu verbinden. Sie könne und wolle ihm nichts vorwerfen, aber es sei besser für sie beide, wenn er darein willige, daß sie sich scheiden ließen. Niemals werde sie ihren Sinn ändern, nie wieder sich darein ergeben, ihm als seine Frau anzugehören. Er thue ihr leid, aber sie könne ihm nicht helfen.

Dabei sei sie geblieben, und weder mit Gutem noch Bösem habe er etwas über ihren Willen vermocht. Nachdem er die allerbeweglichsten und zärtlichsten Worte verschwendet, habe der Zorn ihn übermannt. Der Gedanke, hier als der Genarrte einem Weibe gegenüberzustehen, auf dessen Gehorsam er die besten Rechte hätte, sei ihm zu Kopf gestiegen. In der Raserei seines Schmerzes und Ingrimms habe er wilde Drohungen ausgestoßen und der Stunde geflucht, wo er sie zuerst gesehen. Sie habe ihn mit ganz ruhigem Blick angesehen und kein Wort erwiedert als: du hast Recht, mein Dasein zu verwünschen; ich thue es mit dir. Mach ein Ende mit dieser traurigen Geschichte und gieb mich frei. 42

Das habe er nicht übers Herz gebracht. Der Gedanke, die Zeit müsse ihm zu Hülfe kommen, sei nicht von ihm gewichen. Er habe, um ihr Ruhe zur Ueberlegung zu lassen und vielleicht sich selbst von ihr zu entwöhnen, ein halbes Jahr auf Reisen zugebracht, ein ziemlich buntes Leben geführt in Paris und Berlin, aber weder seine Leidenschaft betäubt, noch sie selbst bei seiner Rückkehr im Geringsten verändert gefunden.

Wenn nicht etwa zum Schlimmeren: noch kälter, noch schroffer und abgeschlossener gegen ihn und das Leben. Dabei sei ihr körperliches Befinden nie besser gewesen, ihr Schlaf, ihr Aussehen, ihre Lust an wilden Jagdritten und sogar am Tanzen, wenn sie dann und wann im Winter zu den Nachbarn geladen wurden. Doch habe es jetzt auch Fremden auffallen müssen, daß mitten in der hellsten Festlaune plötzlich ihre Züge einen erschreckend starren und steinernen Ausdruck annehmen konnten und sie entweder ihr Pferd herumriß und von der Jagdgesellschaft weg nach Hause sprengte, oder ihren Tänzer stehen ließ und, ohne einen Grund oder Vorwand anzugeben, anzuspannen befahl. Es wurde darüber hin und her geredet und gerathen; der Hausarzt, ein alter, ziemlich kluger Mann, mit dem ich mich gut verständigen konnte, zuckte die Achseln, diese und jene ärztliche Notabilität, die consultirt wurde, hatte gar nicht die Ehre, eine Audienz zu erlangen, auch nur so wie die christlichen Aerzte im Harem den Arm einer schönen Patientin durch ein Loch in der Wand befühlen dürfen, und so standen die Sachen so hoffnungslos, wie sie nur 43 konnten, und die Sorge, es möchte in der That eine Monomanie, eine ernstliche Geistesstörung im Anzug sein, war leider nur zu sehr gerechtfertigt.

Eine Dame, die der Graf in Berlin kennen gelernt, und in deren Familie ich einmal eine glückliche Cur gemacht, nannte ihm meinen Namen. So kam ich ins Schloß. Und als ich am andern Tage mich bei der Gräfin melden ließ, einfach unter der Firma eines alten Bekannten, der zufällig auf einer Reise sich hieher verirrt habe und sich ihr nur vorzustellen wünsche, faßte ich schon die besten Hoffnungen, in das Geheimniß einzudringen, da ich wenigstens vorgelassen wurde, eine Gunst, die anderen zu Rathe gezogenen Aerzten hartnäckig versagt worden war.

Ich hatte mich aber sehr verrechnet.

Sie empfing mich so unbefangen freundlich, wie damals in der Jägerstraße; an alle Einzelheiten jener Tage schien sie sich noch zu erinnern, bis zu dem Zauberfest im türkischen Zelt, seit welchem ich sie nicht wiedergesehen hatte. Auch nach dir fragte sie; du seiest ja wohl verheirathet und lebtest nicht mehr in Berlin; dann wollte sie wissen, wie es den übrigen Theilnehmern unseres Charlottenburger Bacchanals inzwischen ergangen sei. Ich merkte wohl, daß sie meine Antworten mit einer Art Geistesabwesenheit anhörte, nicht um sich Airs zu geben, wie blasirte große Dame, die einem Plebejer imponiren will, sondern mit einem Ausdruck von tiefer Müdigkeit und gläserner Starrheit und Freudlosigkeit, wie ich ihn allerdings im Beginn von 44 Gemüthskrankheiten oder in den halblichten Intervallen unheilbarer Irrsinniger beobachtet habe. Ich kann sagen, selten hab' ich so lebhaft gewünscht, ein genialer Arzt zu sein, der ich – ganz unter uns gesagt – nicht bin. Dieses schöne Geschöpf – denn du hast keinen Begriff, was inzwischen noch aus ihr geworden ist; ich kann vollkommen begreifen, daß ein Mann, der sie einmal besessen hat, lieber zu Grunde gehn, als in eine Trennung willigen mag! Wenn ich das sage, der so ziemlich weiß, was schöne Weiber sind, und daß man auch mit den schönsten am Ende fertig wird, so will das etwas heißen. Sie merkte mir auch wohl an, was sie für einen Eindruck auf mich machte, und daß ich mit wahrhaft freundschaftlicher Bekümmerniß fragte, wie es ihr denn ergangen sei. Lieber Medicinalrath, sagte sie, und plötzlich stand sie auf, wie um die Audienz zu endigen, ich weiß, weßhalb Sie hier sind. Der Graf wünscht von Ihnen zu hören, ob ich meine fünf Sinne noch beisammen habe, oder Gefahr laufe, einen oder ein paar davon zu verlieren. Geben Sie sich keine Mühe mit mir, ich bin so gesund, wie ein Fisch im Wasser, und was mir etwa fehlt, um so recht in den Tag hinein, wie die meisten andern Frauen, mich meines Lebens zu freuen, das ist in keiner Apotheke zu haben und auch sonst zwischen Himmel und Erde nicht aufzutreiben. Der Graf wird Ihnen gesagt haben, daß ich gern von hier weg möchte, gern wieder frei wäre. Wenn Sie ihm dazu rathen, ihn dazu bereden könnten, wäre es sehr gut, und ich würde es Ihnen aufrichtig danken. Auch ist es mehr um seinet- als um 45 meinetwillen, daß ich von ihm getrennt sein möchte. Er dauert mich, wie ein lebendiger Mensch, der mit einem Leichnam zusammengebunden ist. Fühlen Sie nur, wie kalt! – Sie reichte mir ihre Hand; es war freilich, um zu erschrecken. Ja, ja, sagte sie, es ist nun so! Ich wollte, es wäre aus und vorbei. Aber geschehene Dinge sind nicht ungeschehen zu machen.

Und dann von gleichgültigen Sachen, bis ich mich beurlaubte, und die zwei, drei Mal, daß ich sie später noch bei der Tafel sprach, immer dasselbe Gesicht und dieselbe unerschütterliche kühle Abgestorbenheit für jede lebendige Freude. Ich habe wie ein Commissär der geheimen Polizei während meines Aufenthaltes auf dem Schlosse herumgehorcht, alle ihre Diener verhört und sogar in Dinge die Nase gesteckt, die ziemlich heikler Natur waren. Umsonst. Die einzige Person, die vielleicht reden könnte, ihre Kammerfrau, schweigt wie das Grab. Ich bin also gerade so klug, wie zuvor, und als ich heute Nachmittag die schöne Hand an meine Lippen drückte, war sie um keinen Pulsschlag wärmer, als bei meinem ersten Besuch.

Der Graf, der Geschäfte hier im Städtchen hat, wollte mich selbst in seinem Jagdwagen bis an die Eisenbahn bringen. Ich konnte ihm nicht verhehlen, daß er sein Geld zum Fenster hinauswerfen würde, wenn er überhaupt noch einen meiner Collegen zu consultiren dächte. Eine Anspielung, die ich machte, ob er es nicht am Ende bereuen möchte, wenn er darauf bestünde, so neben ihr fortzuleben, ob eine Krankheit, die etwa sich 46 vorbereite, nicht noch abzuwenden sei durch völliges Gewährenlassen, durch eine wirkliche Scheidung, brachte ihn so außer sich, daß ich Mühe hatte, den ganz fassungslosen Mann nur nothdürftig zu beschwichtigen.

Er hatte Vertrauen zu mir gefaßt, ich mußte ihm versprechen, eine Correspondenz mit der Gräfin unter irgend einem Vorwande anzuspinnen, um von Ferne einigermaßen orientirt zu bleiben. Aber das sind alles ohnmächtige Mittel. Ich sehe jetzt klar ein: es giebt nur eine einzige Hoffnung, dies ängstliche Räthsel zu lösen und – so oder so – zu erfahren, woran man ist. Nur ein einziger Mensch hat Macht über sie; wie durch eine Eingebung ist es mir aufgegangen, sobald ich ihm wieder in die Augen gesehen habe. Dieser einzige Mensch – bist du! Und nun mach es mit dir selber aus: einmal, ob du es ihr schuldig bist, ihren armen Weiberkopf, den irgend eine Schrulle verrückt hat und endlich ganz aus den Fugen treiben wird, zurechtzusetzen; dann aber, ob du dir zutrauen darfst, das Wagestück ohne eigene Gefahr und ohne Rückfälle in deine alte Besessenheit unternehmen zu können.

Er war vor Edwin hingetreten und versuchte trotz der sinkenden Nacht in seinen Zügen zu lesen. Nach einer Weile, als keine Antwort kam, fuhr er fort: Was du aber thun willst, thue bald. Ich habe Fälle erlebt, wo ein scheinbar unbesorglicher Zustand, der mehr einer geistigen Lähmung, als einem heranreifenden Wahnsinn glich, plötzlich, durch irgend eine Lappalie, zu hellem Ausbruch gekommen ist. Ich meine, du könntest dann 47 doch das Gefühl einer gewissen Verantwortlichkeit nicht abschütteln, wenn du jetzt gesagt hättest: sie ist todt für mich; ich bin nicht dazu da, fremden Männern ihre Weiber zur Räson zu bringen. Siehst du, Edwin, wie von meinem Leben bin ich überzeugt: es ist da etwas vorgefallen, das weder er noch sie einem beliebigen Dritten – und wenn er die Weisheit und Würde einer ganzen Facultät mitbrächte – berichten würde, wohl aber das arme Weib ihrem einzigen alten Freunde und Seelsorger. Die Geschichte mit dem Kinde scheint mir nicht ganz geheuer, aber Niemand, als sie selbst, kann darüber Aufschluß geben. Courage, Edwin! Wenn sie in einem brennenden Hause steckte, würdest du dich doch nicht besinnen, sie herauszutragen, auch auf die Gefahr hin, ein bischen mitversengt zu werden. Nun, und so schlimm wird es nicht einmal sein. Diese guten, armen, närrischen Dinger, was sie sich alles für Quälereien ausdenken; katholisch oder nichtkatholisch: so was von heimlichen Gelübden, von Kasteiungen, Bußen und erträumten Pflichtübungen haben sie sich im Nu auferlegt und schleppen sich daran wund und quälen ihre Nebenmenschen. Ich könnte Geschichten erzählen, auch wie ich hie und da so ein verschrobenes Gemüth mit ein paar gesunden logischen Schlüssen wieder zurechtgebracht habe, obwohl ich's in der Logik mit dir nicht aufnehmen kann. Aber hier ist Gefahr im Verzuge. Ich selbst fahre heute die Nacht durch nach Hause, der Graf aber will zum Souper zurück sein; er hat Gäste, ein paar Vettern und Nachbarn, mit denen morgen früh gejagt werden soll. Entschließest 48 du dich, so sag' ich ihm, daß ich hier zufällig einen Collegen getroffen, der wie gerufen komme; eine Autorität in der Psychiatrie. Er könne nichts Besseres thun, als Dem den Fall vorlegen. So viel ich weiß, habt ihr euch nie gesehen, und der kleine Jean verehrt dich viel zu sehr, um nicht reinen Mund zu halten, wenn man ihm ein Wörtchen ins Ohr sagt. Ich höre unten vorm Hause die Stimme des Grafen. Soll ich oder soll ich nicht?

Edwin stand auf. Ich weiß, es ist umsonst, sagte er dumpf; vielleicht sogar unheilvoll. Ich Macht über sie? Sie müßte sich inzwischen sehr verändert haben. Aber gleichviel! wie es nun einmal ist, hast du Recht: ich würde mir's schwer verdenken müssen, wenn ich hier vorbeigegangen wäre und hörte später, es sei ein Unglück geschehen. Nur Eins bitt' ich mir aus: du sagst dem Grafen, wer ich bin, Derselbe, der einmal um seine Frau geworben hat, und dessen Bruder – o Marquard, das ist das Schwerste von Allem! Mit dem Menschen unter Einem Dache, der mitschuldig ist an Balder's Tod!

Was er je an dir und Anderen verbrochen hat, – büßt er jetzt in einem Fegefeuer, wie man es seinem schlimmsten Feinde nicht schlimmer wünschen könnte, versetzte der Arzt. Siehst du, mein Junge, ich bin kein Tugendheros; aber es würde mich nun gerade reizen, mit meinen feurigen Kohlen die dünnen Haare von der gräflichen Stirne wegzusengen. Du hast übrigens Recht: wir brauchen es nicht zu scheuen, mit offenen Karten zu spielen. Wenn er Nein sagt, müssen wir's auf andere 49 Manier anfangen. Aber wie ich ihn kenne, ist er über die gemeine Gespensterfurcht hinaus und wird einem revenant, der ihm wieder zu seiner Frau verhelfen will, mit offenen Armen entgegengehen.

Er eilte aus dem Zimmer, und Edwin blieb in den widerstrebendsten Gefühlen allein. 50



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