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124. Was blieb vom Traum?

»Er wird immer Ihr Sohn bleiben«, hatte Frau Hertha Siebrecht zu Frau Friederike Flau gesagt. »Dafür sorge ich! Und Sie sollen ihn auch alle Ferien bekommen, vom ersten bis zum letzten Tag.«

Und nun war der erste Tag vorüber, den Karl Flau bei seinen neuen Pflegeeltern verbracht hatte. Es war schon dunkel gewesen, als Hertha die »beiden Männer« vom flachen Dach des Hauses heruntergeholt hatte. Sie hatten von dort die Lichter der Riesenstadt beobachtet, der Funkturm hatte mit seinen Leuchtarmen nach ihnen gegriffen, und ganz zum Schluß war noch ein großes Verkehrsflugzeug über ihnen dröhnend seine Bahn gezogen.

Jetzt schlief der Karl, und die beiden Siebrechts gingen noch ein paar Schritte in den nächtlichen Garten. »Höre, mein Freund«, sagte Hertha plötzlich, »hast du eigentlich ganz vergessen, daß wir schon seit fünf Tagen in Göhren sein wollten? Daß dort bestellte Zimmer auf uns warten? Und daß dies der einzige Urlaub ist, den du dir im Jahr gönnst?«

»Wahrhaftig!« rief Karl Siebrecht überrascht. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht!«

»Jetzt sind Flaus fort, und wir können fahren. Was meinst du zu morgen mittag, Karl? Den Jungen nehmen wir mit.«

»Morgen mittag schon? Kommt das nicht etwas plötzlich, Hertha? Im Augenblick ist ziemlich viel zu tun im Geschäft.«

»Im Geschäft wird immer viel zu tun sein. Warum willst du also nicht fahren? Aber dein richtiger Grund, Karl!«

»Ach, Hertha – wir haben es doch hier so hübsch ...«

»Karl, der richtige Grund –!«

»Und dem Jungen macht doch Berlin soviel Spaß! Hier hat er die Autos und die Flugzeuge, auf dem Lande ist er schon immer gewesen.«

»Lieber Karl«, sagte Hertha entschieden, »wir fahren also bestimmt morgen mittag, wenigstens der Junge und ich. Willst du jetzt unser Leben nach den Wünschen des Jungen einrichten? Das dürfte kaum bekömmlich für ihn sein.«

»Aber ...« fing Karl Siebrecht an.

»Und außerdem«, fuhr Hertha unbeugsam fort, »wird es ja wohl auch in Göhren drei oder vier erbärmliche Autos für unseren Herrn Pflegesohn geben. Und dann ist da die Landungsbrücke mit ihren Dampfern.«

»Richtig, die Dampfer!« rief Karl Siebrecht erfreut. »An die hatte ich gar nicht gedacht! Die werden ihm Spaß machen! Also fahren wir morgen, Hertha, ich bin einverstanden!«

»Und die Firma, die nach ihrem Direktor schreit?«

»Ach, Hertha, du hast ganz recht, mich auszulachen! Immer mit Kopf und Kragen in jede neue Sache! Ob ich mich wohl noch einmal ändere?«

»Dafür ist wenig Aussicht, mein Freund! Aber bleibe nur so, und laß dir gelegentlich etwas von mir sagen, dann geht es schon.«

Er nahm ihre Hand und sagte: »Ich danke dir auch, Hertha.«

Eine Weile gingen sie schweigend durch den Garten, dann erzählte Karl Siebrecht: »Als vorhin das Flugzeug über uns wegbrauste, hat der Junge gesagt, er möchte auch da oben fliegen und ganz Berlin zu seinen Füßen haben. Ist das nicht eigentlich ganz wie bei mir früher, als ich Berlin erobern wollte?«

»Möglich«, sagte Hertha kühl. »Aber wenn der Junge einen solchen Traum zu träumen anfängt, so stehe ich dir dafür, daß ich und seine Mutter und Kalli Flau und seine Lehrer, daß wir alle dafür sorgen werden, daß er in dieser Welt lebt und nicht in einem Traumland! Und ich hoffe, du wirst mitsorgen, Karl. Ich finde, dein Traum hat dich und andere ziemlich viel gekostet. Und was ist von ihm geblieben?«

»Ja, was ist von ihm geblieben?« fragte auch Karl Siebrecht.

 

*

Die schöne Bemerkung von den »Malersch« auf Seite 86 verdanke ich dem Buch »Leberecht Hühnchen« von Heinrich Seidel. Die Verse, die Hertha Siebrecht auf Seite 416 zitiert, entstammen dem Werk von Rainer Maria Rilke »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«.

H. F.


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