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45. Die Niederlage

Während er heimwärts radelte, sagte er sich: Ich darf nicht verloren sein! Ich kann nicht verloren sein! Ich muß es durchkämpfen! Dann sah er sie im Laden sitzen, die beiden Feindinnen, Rieke und die Palude, beieinander, und schon das schien ihm ein schlechtes Zeichen. »Nun, wie viele Pferde sind noch tot?« fragte er und versuchte zu lächeln.

Aber gottlob war kein weiteres Pferd tot. Doch die Nachrichten, die Fräulein Palude von ihrem Zettel ablas, waren auch ohnedies schlimm genug. Zwei Kutscher hatten ausgespannt, hatten die beladenen Wagen auf der Straße stehengelassen und waren wieder in den Stall gezogen. Ein Wagen hatte einen Zusammenstoß gehabt – er hatte nicht rasch genug ausweichen können –, ein Rad war gebrochen, und die Koffer waren auf die Straße gestürzt. Dort war jetzt Kalli Flau. Der Reservewagen, den er zur Privatkundschaft geschickt hatte, war noch nicht zurück – der Lehrling Bremer suchte ihn. Vom letzten Wagen fehlte jede Nachricht. Dafür hatten sich aber schon drei Bahnhöfe gemeldet und höchst ungehalten angefragt, wie das mit der Gepäckabfuhr stünde? Dutzende von Reisenden hätten sich schon beschwert ... Und es war kaum erst Mittag!

Die beiden Mädchen wollten vieles fragen und sagen, aber er gebot ihnen Stillschweigen und ging nachdenklich im Büro auf und ab. Das war richtig: mit den Pferden war es nicht zu machen, in einem halben Tag war alles so sorgfältig Organisierte schon in die heilloseste Verwirrung geraten. Das mußte er aufgeben. Es blieb ihm nur, was Rieke heute morgen vorgeschlagen hatte: Handwagen durch die Straßen ziehen – und es war jetzt mindestens die vierfache Menge Gepäck gegen früher zu befördern! Aber wenn er selbst das schaffte, wenn er es ein, zwei Wochen durchhielt, der Vertrag war dadurch nicht aus der Welt. Immer mußte er sich irgendwie mit Wagenseil oder dem Anwalt einigen. Er schüttelte das ab. Das kam später. Was später kam, würde er später überlegen. Das nächste hieß: Handwagen! Er wandte sich um, er diktierte der Palude einen Brief, er benötigte wegen Betriebseinschränkung ab sofort keine Gespanne mehr ... So, das war alles; nichts von schlechten Pferden, nichts von dem, was später werden würde. Ich brauche euch nicht mehr – das war seine Kriegserklärung!

»So, den Brief schreiben Sie zweimal! An Franz Wagenseil und an den Anwalt selbst. Alles Eilbote und Einschreiben. Sie tragen die Briefe selbst zur Post. – Und auf dem Rückweg holen Sie tausend Mark von der Sparkasse, in kleinen Scheinen. – Rieke, du verlegst deine Schneiderstube ein bißchen hierher und paßt auf das Telefon auf. Wenn sie von der Bahn reklamieren, sagst du, ich brächte es noch heute in Ordnung. Kutscher und Verlader, die sich melden, sollen hier warten, ich bin bald zurück.« Er war aus dem Büro, ehe sie ihn noch etwas fragen konnten.

Draußen hatte er Glück. Er traf den Reservewagen, den der Lehrling Egon aufgestöbert hatte. Er schickte ihn zum Entladen, dann sollte er sofort auf den Fuhrhof zurück. Egon mußte nach dem einen noch fehlenden Wagen suchen, der wahrscheinlich am Lehrter Bahnhof steckte. Auch der Wagen sollte nur entladen und auf den Fuhrhof zurück. Franz Wagenseil würde nun doch Augen machen – jetzt wurde er lahmgelegt! Und er würde ein paar böse Stunden mit seinen Kutschern bekommen. Sie würden dem Franz schon sagen, was sie von ihm dachten! Er fand den verunglückten Rollwagen in der Nähe der Warschauer Brücke, umdrängt von der unvermeidlichen Ansammlung Neugieriger. Wenigstens hatte der tüchtige Kalli Flau das zerbrochene Rad bereits notdürftig flicken lassen, bis zum Schlesischen Bahnhof würde es gehen. Die Koffer waren schon wieder aufgeladen, aber leider waren zwei beim Herabfallen aufgesprungen. Diese beiden Koffer kosteten ihn auf dem Schlesischen Bahnhof zwei volle Stunden, denn ihre Besitzerin, eine polnische Wanderarbeiterin, behauptete, daß alle möglichen Kostbarkeiten darin gewesen seien. Gottlob war das Frauenzimmer gar zu gierig, die gute Gelegenheit auszunützen. Mit dem, was sie als Inhalt der Koffer angab, hätte sie fünf Koffer füllen können! Schließlich einigte er sich mit ihr auf eine Entschädigung von fünfzig Mark. Sie war sichtlich zufrieden. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nichts verloren. Aber Karl Siebrecht hatte viel mehr verloren als fünfzig Mark. Manch bitteres Wort war ihm auf dem Bahnhof gesagt worden. Das Gepäck häufte sich dort, und er konnte keine bestimmten Angaben machen, wann er es abholen würde. Schon sagte der eine oder andere, daß man ja nur einem anderen Fuhrwerksbesitzer einen Wink geben müsse. Karl Siebrecht, der für die Schuld eines anderen geschlagen wurde, mußte stillhalten, zum Guten reden, scherzen. Schließlich konnte er nicht jedem seine etwas komplizierten Vertragsbeziehungen zu Franz Wagenseil auseinandersetzen. Zudem war den Bahnleuten das ganz gleich: sie wollten ihr Gepäck los sein und nicht die ewigen Beschwerden der Reisenden hören müssen!

Unterdes war Kalli Flau auf die Jagd nach Handwagen gegangen. Sicher gab es unendlich viel unbenutzte Handwagen in Berlin, aber sie hatten keine Zeit, lange nach ihnen zu suchen. Sie mußten nehmen, was sie fanden, kleine und große, alte Rumpelkarren, farbenbeschmutzte Malerwagen, die leicht und lang sind, weil auf sie auch Leitern geladen werden, und die kurzen, gedrungenen schwarzen Karren der Kohlenhändler. Sie nahmen alles zu jedem Preis, mit und ohne Bedienung, immer auf eine Woche.

Während jetzt Karl Siebrecht immer weiter mietete, fing Kalli Flau schon an, die beiden von ihren Kutschern verlassenen Rollwagen leer zu fahren. Gegen Abend hatten sie siebzehn Karren im Gang. Alle Verlader und fünf von den Kutschern Franz Wagenseils waren zu ihnen gekommen. Sie erzählten von wüsten Szenen auf dem Fuhrhof. Es hatte nicht viel gefehlt, so hätte Franz kräftige Dresche bezogen. Aber das alles lag Karl Siebrecht schon fern. Franz Wagenseil war für ihn ein abgeschlossenes Kapitel. Er arbeitete, er zog seinen Karren wie alle anderen. Wie vor vier Jahren trabte er, in den Ziehgurt gebeugt, durch die Straßen Berlins, immer von dem Gedanken gehetzt, daß sie das heute aufgehäufte Gepäck noch fortschaffen mußten. Die Leute waren willig genug, sie arbeiteten bis gegen Mitternacht. Einmal, es war schon nach zehn Uhr abends, sah er in der Invalidenstraße einen in der Gegenrichtung fahrenden Karren: der alte Busch zog, hinten schoben Rieke und die Palude. Weiß Gott, die alte säuerliche Palude schob tief in der Nacht einen Gepäckkarren durch die Straßen Berlins ... Er hatte keine Zeit, sie anzurufen, ihnen zu danken, er mußte weiter. Aber während er sich in den Ziehgurt legte – die Schultern schmerzten schon von der ungewohnten Arbeit –, dachte er mit einem Gefühl tiefer Rührung, daß er diesen Kampf nicht mehr allein kämpfte wie seinen ersten Kampf gegen Kiesow. Jetzt hatte er Freunde in der großen Stadt Berlin. Die vier Jahre waren nicht umsonst vergangen!

Sie schafften es nicht! Sie schafften es auch bis Mitternacht nicht, trotz Laufen und Hetzen. Es hatte sich zuviel Gepäck angesammelt, jetzt sah man erst, wie sehr ein einziger Rollwagen fünf Karren überlegen war. Sie liefen und hetzten, aber wenn Pferde traben, schafft es mehr, als wenn Menschen hetzen. Gegen Mitternacht stoppte Karl Siebrecht den Betrieb ab! Was heute nicht geschafft war, mußte morgen getan werden. Sie würden schon um sieben Uhr wieder anfangen.

Am nächsten Tage verstärkte er seinen Fuhrpark noch um weitere acht Karren, jetzt fuhren sie schon mit fünfundzwanzig Karren! Wieder begann das Hetzen und Jagen, und der Tag war endlos lang. Trostlos starrten sie in die Keller der Gepäckausgaben, sie luden auf und luden auf ..., aber das Gepäck wurde nicht weniger, es wurde mehr. Es war, als sei der Teufel gegen sie im Bunde, das Maiwetter blieb herrlich, alle Züge waren überfüllt, sie hatten Hochkonjunktur – in der falschen Zeit! Auf den Gepäckabfertigungen wurde er nun nicht mehr gescholten. Sie sahen ja alle, wie er sich mühte. Aber manch einer sagte ihm doch: »Geben Sie's schon auf! So schaffen Sie es nie! Ohne Pferde wird das nichts! Nehmen Sie doch einfach andere Pferde!«

»Habt nur noch ein paar Tage Geduld!« bat er dann. »In ein paar Tagen wird es bestimmt anders!« Aber er wußte selbst nicht, wieso es anders werden sollte. Die Partei Wagenseil meldete sich nicht, keine Kunde von denen. Keine Klage war überreicht worden, die angemeldete Bücherrevision hatte nicht stattgefunden – es war unheimlich, wie still die waren. Es war verdächtig. Manchmal erzählte einer von den alten Leuten, daß er jemand vom Wagenseilschen Fuhrhof auf einem Bahnhof getroffen hatte, also etwa den Kutscher Lindenberg oder Franz Wagenseil selbst. Es wurde also beobachtet, sie paßten auf, daß er auch ja keine Gespanne mietete, sie hatten den Kampf noch nicht aufgegeben.

Schon wurden die alten Leute, die zuerst am eifrigsten gewesen waren, verdrießlich. Den Kutschern hatte es zuerst Spaß gemacht, weil sie dem Franz Wagenseil einen Streich spielen konnten, aber schließlich waren sie Kutscher. Geld verdienen machte es nicht allein. Sie hatten das Gefühl, nicht nur von ihrem Bock auf die Straße hinuntergestiegen zu sein, nein, sie kamen sich auch sozial tiefer gekommen vor. »Wie lange jeht det denn noch, Chef?« fragten sie. »Sie können doch Pferde massenweise haben, machen Se doch!« – Er konnte sie wieder mir vertrösten, sie würden nie die Zwangslage verstehen, in der er war. Einer wechselte in eine Brauerei hinüber, einer in ein Speditionsgeschäft. Es war eine Frage von Tagen, wann ihnen die anderen folgen würden.

Auch die Beifahrer, die Verlader, wurden ungnädig. Meist waren es frühere Dienstmänner, sie waren es gewohnt, mit einem Gepäckwagen durch Berlins Straßen zu ziehen. Aber das war schon so lange her! Seitdem hatten sie mit einem Lederschurz auf dem Rollwagen gestanden, sie waren in Berlin spazierengefahren worden – es war fast, als hätten ihre Beine nun das Laufen verlernt. »Det is nischt mehr for uns, Chef!« sagten sie. »Nun machen Se aber bald Schluß damit, wat, Chef?« sagten sie. Und wieder nur Vertröstungen!

Ja, er konnte es sich hundertmal sagen: Ich will durchhalten!, er wußte schon den Tag, an dem es mit dem Durchhalten alle sein würde.


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