Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

66. Der Taxichauffeur

Am 2. Januar 1920 heirateten Friederike Busch und Karl Siebrecht.

Große Erschütterungen, große Überraschungen brachte die junge Ehe beiden nicht. Sie kannten sich nun schon so lange Jahre, es gab nichts Neues mehr zu entdecken. Es war ein stilles Glück ... Sie durften nun zärtlich zueinander sein, es war schön, einander liebzuhaben.

In diesen immer graueren, stets wirreren Tagen war Rieke das stetige Licht. Karl konnte noch so verzagt nach Hause kommen, sie heiterte ihn auf. Sie vollbrachte Wunder mit dem bißchen Geld, das sich immer rascher entwertete. Es war ihr Stolz, daß »ihre Männer« alle Tage Fleisch bekamen, und sie füllte ihnen die Thermosflaschen, die sie auf ihre Fahrt mitnahmen, mit Bohnenkaffee. Vielleicht war der von Kalli Flau ein bißchen dünner, sein Fleischstück etwas kleiner als das von Karl, aber das geschah ohne Absicht. Rieke selbst trank nur zweiten Aufguß und behauptete, Fleisch widerstehe ihr ... Die Hauptsache blieb Karl. Er mußte bei guter Laune gehalten werden. Am Tage nach der Hochzeit hatte er sich zum ersten Male in das Taxi gesetzt und seine neue Tätigkeit begonnen. Die Erfahrung war ganz neu für ihn, daß Kalli Flau tüchtiger als er war, jedenfalls als Taxichauffeur: Kallis Einnahmen waren meist doppelt so hoch! Zuerst glaubte Siebrecht, es liege daran, daß Kalli des nachts fuhr und er am Tage, Betrunkene gingen eben leichtsinniger mit dem Geld um.

Sie tauschten. Aber es zeigte sich, daß Karl Siebrecht nicht der richtige Mann war, dies Nachtpublikum zu fahren. Betrunkene, die seinen Wagen beschmutzten, warf er zornentbrannt heraus, während Kalli eine Sondertaxe von ihnen erzwang. Er behauptete, keine Adressen von Spielklubs und Nackttanzlokalen zu kennen, und nie half er einem Fahrgast, der schwach auf den Beinen war, mit seinem Mädchen in ein zweifelhaftes Hotel. Er war kein Sittenrichter, o nein, er entrüstete sich nicht moralisch. Dafür hatte er zu lange in Berlin gelebt, es gab so vielerlei Menschen, sie konnten nicht alle wie Karl Siebrecht leben und denken. Aber dieser ganze Betrieb ekelte ihn an, und dieser Ekel war unüberwindlich. Er kam aus dem Kriege, nie konnte er sich an den Gedanken gewöhnen, daß aus soviel Opfern soviel Schmutz geworden war. So wurde seine Nachtkasse noch schlechter als seine Tageskasse. Wieder tauschten sie. Kalli Flau war alles recht, Kalli verdiente immer Geld, er war es, der auch die Devisen nach Hause brachte. Rieke nähte, so verdienten alle drei, sie hatten genug zu essen, sie konnten sich anständig kleiden, sie schafften wieder etwas für die Wohnung an, nun war auch Kallis Zimmer keine Rumpelkammer mehr.

Aber in der Hauptsache verdienten Rieke und Kalli das Geld, er, Karl Siebrecht, der Kopf dieser kleinen Gemeinschaft, war sein Geld nicht wert, er verdiente nicht, was Rieke ihm auf den Teller legte! Wie ihn das wurmte, wie ihn das immer böser auf den verhaßten Beruf machte! Nun fuhr er wieder zwischen den Bahnhöfen, von und zu den Bahnhöfen, und wenn ein bekannter Gepäckträger ihm Koffer in das Auto reichte, fragte er immer dringender: »Na, wird's noch nicht besser? Kann ich nicht bald wieder anfangen?«

Und wenn dann der Mann den Kopf schüttelte: »Besser? Schlimmer wird's, immer schlimmer!« – knallte er in zorniger Wut die Tür seines Autos zu und fuhr los, daß den Fahrgast hinter ihm ein Zittern und Zagen ankam. Er, Karl Siebrecht, ließ sich von anderen ernähren!

Nie sprach er mit Kalli und Rieke ein Wort von diesem geheimen Kummer. Aber er brauchte auch gar nicht davon zu reden, sie wußten auch ohnedies davon. Seine ewig trübe Stimmung, seine gewollte Gelassenheit, sein übergroßes Interesse, die Höhe von Kallis Einnahmen zu erfahren, das alles verriet ihn. Kalli und Rieke fingen an, ihn über die Höhe dieser Einnahmen zu beschwindeln, aber das merkte er bald, und nun fragte er gar nichts mehr. Nun plagte er sich mit ausgedachten Zahlen und vergrößerte den Unterschied maßlos. Rieke mußte sehr viel Kraft aufbringen, ihn jeden Abend wieder aufzuheitern. Aber es gelang ihr fast immer. Nimmer müde wiederholte sie ihm, daß er auf seine Stunde warten müsse, daß diese Zeit für alle Menschen schlecht sei. Wie ging es seinen Kameraden, den alten Frontsoldaten? Verbittert drückten sie sich herum in ungeliebten Berufen oder kämpften verzweifelt gegen Kommunisten, gegen Polen, in Kurland oder gegen Bolschewiken. »Du mußt bloß warten, Karle! Ick weeß, plötzlich stehste haushoch da, und all die kleenen Pinscher können dir jar nischt mehr!«

»Wenn du nicht wärst, Rieke! Ja, wenn du nicht wärst!«

Immer häufiger, immer regelmäßiger, wenn Karl Siebrecht eine Fuhre nach dem Ende des Kurfürstendammes hatte, nach Halensee oder Grunewald, fuhr er zur Gollmerschen Villa. Da hielt er dann und sah von seinem Sitz auf die herabgelassenen Jalousien und in den verödeten Garten. Was versprach er sich von diesen Besuchen? Er wußte es nicht. Selbst wenn Herr Gollmer heimgekehrt wäre, hätte er keine Vorschläge für ihn gehabt. Manchmal stieg Karl Siebrecht auch aus seinem Taxi. Er schwang sich über das Tor und ging im Garten hin und her, saß drei, vier Minuten in der Laube. Was erwartete er? Je unzulänglicher er sich vorkam, je verhaßter ihm seine Tagesarbeit war, um so mehr klammerte er sich an den Gedanken, daß von Herrn Gollmer die Rettung kommen müsse. So konnte er doch nicht weiterleben, ein schlechter Taxichauffeur!

Dann, eines Tages im Frühjahr, stand die Gartenpforte offen. Noch waren die Jalousien geschlossen, aber die Gartentür stand offen. Karl Siebrecht ging um die Villa herum und fand einen alten Gärtner, der ein Beet umgrub. Ohne weiteres fragte er: »Jetzt kommt wohl Herr Gollmer bald zurück?«

Der Gärtner ließ den Fuß auf dem Spaten ruhen und sagte: »Det weeß ick nich. Wieso denn?«

»Wenn Sie doch den Garten zurechtmachen!« rief Siebrecht ungeduldig.

»Ach so, deswejen –? Aber det mach ick alle Jahre, und ick hab den Chef vier, fünf Jahre nich zu sehen jekriegt. Ich schick meine Rechnung ans Büro, und von denen krieg ick denn mein Jeld. Wer sind denn Sie?«

»Ich war früher mal Chauffeur bei Herrn Gollmer«, log Karl Siebrecht rasch.

»Ach so, und jetzt fährste Taxi? Det jloob ick, det war früha bessa. Nee, det kann ick dir nicht saren, wann er zurückkommt. Jeh doch mal fragen uffs Büro.«

»Die wissen auch nichts.«

»Er drückt sich wohl ins Ausland rum wie all die reichen Leute! Bei uns is für so eenen doch nischt mehr zu holen.«

Karl Siebrecht schwatzte noch eine Weile mit dem alten Gärtner, und von nun an ging er, kam er nur irgend in die Nähe, regelmäßig in den verlassenen Garten. Er arbeitete dort ein, zwei Stunden, jätete Unkraut, band Zweige an, hackte oder begoß. Sein Taxi stand unterdes mit dem blauen Schild »Außer Betrieb« auf der Straße. Nie erzählte er Rieke oder Kalli davon. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er betrog sie um den Fuhrlohn von zwei Stunden. Aber er tat es trotzig: Das ist nun doch alles egal, ich bin einmal ein schlechter Taxichauffeur! Wenigstens die eine Freude will ich haben davon! Er machte sich nie klar, daß er den beiden ruhig von dieser Freude hätte erzählen können. Sie hätten sie ihm herzlich gern gegönnt. Aber er wollte seine Heimlichkeiten haben – vor Frau und Freund, weiß der Himmel, warum diese Freude nur dann etwas taugte, wenn sie heimlich war ...


 << zurück weiter >>