Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

41. Schlimme Nachrichten

»Herr Flau hätte Sie gerne gesprochen. Er ist hinten bei Fräulein Rieke«, sagte Fräulein Palude, als ihr Brotherr spät, aber glänzender Stimmung in den Laden in der Eichendorffstraße kam. Er hatte wirklich einmal das Geschäft sich ganz überlassen und den Nachmittag mit dem Rittmeister verbracht. Er war sogar noch mit Sendens in ihrer Equipage zum Stettiner Bahnhof gefahren – und das bewies, wie nahe er dem Rittmeister in diesen Stunden gekommen war.

»Schön!« antwortete Karl Siebrecht und wandte sich zur Innentür. »Ich gehe dann gleich mal rüber. Sonst war wohl nichts Besonderes?«

»Doch!« antwortete die Palude, und ihr Ton bewies, daß sie das schwerste Geschoß noch aufgespart hatte. »Herr Wagenseil war auch hier!«

»Aber das weiß ich doch! Ich habe doch selbst mit ihm gesprochen«, meinte Karl Siebrecht mild erstaunt.

»Das wissen Sie eben nicht!« rief die Palude triumphierend. »Er war nämlich noch einmal hier!«

»Noch einmal? Was wollte er denn noch einmal hier? Hat er sich etwa rüdig benommen?«

»Das möchte ich ihm nicht geraten haben! Nein, er war ganz anständig, er hat mich nicht einmal olle Zicke genannt. Nein, Herr Siebrecht, der Franz hatte einen kleinen schmierigen Kerl mit. Er hat gesagt, der vertritt ihn jetzt, der ist sein Rechtsbeistand. Haben Sie schon mal von dem Rechtsanwalt Ziegenbrink gehört?«

»Nein!«

»Aber ich!« sagte sie. »Ich kenne den Schweinehund. Er hat den Wagenseil schon zweimal vertreten, einmal bei einer Pferdebetrügerei und einmal, wie er den Gardekürassieren verschimmeltes Heu geliefert hatte. Der Ziegenbrink ist der schlimmste Gauner von Berlin, der vertritt nur Betrüger, Räuber und Mörder!«

»Und das ist sein Rechtsanwalt –?«

»Jawohl, das ist sein Rechtsanwalt!« antwortete Fräulein Palude. »Herr Siebrecht«, fuhr sie eifrig fort, »Sie müssen sofort auch einen Anwalt nehmen, sonst kriegt der Ziegenbrink uns unter!«

»Nein!« antwortete Karl Siebrecht und schüttelte den Kopf. »Warum denn?« Seine Gedanken waren noch bei den Erlebnissen des heutigen Tages: plötzlich wußte er es, daß der Tiergarten herrlich grün gewesen war, der Goldregen und der Flieder blühten, und überall schlugen die Finken. Er sah das junge Mädchen mit dem schmalen hellen Gesicht und den blonden, leise zitternden Korkzieherlocken. Einen Augenblick erschien die Zeichenstube von Kalubrigkeit & Co., sie war ganz leer, nur über ein Reißbrett gebeugt stand der Herr Oberingenieur Hartleben, allein. Von ihm hatte der Rittmeister nichts erzählen können, und die Zeichenstube wurde dunkel. Rosarote Söckchen aus Seide ... Der Rittmeister und er hatten stundenlang vergnügt miteinander geplaudert, und die Blasiertheit des Herrn von Senden hatte den jungen Mann diesmal nicht abgestoßen.

Aber während diese Gedanken und Bilder wirbelnd durch seinen Kopf schossen, war es ihm, als griffe eine Hand nach seinem Herzen und drücke es langsam immer fester zusammen. Eine Ahnung von schwerem, trübem Unheil überkam ihn, dunkle Stunden drohten, alles Heitere entschwand.

»Nein!« hatte er gesagt, »keinen Anwalt!« Er warf den Kopf in den Nacken und fragte Fräulein Palude: »Was können die uns schließlich wollen? Wir haben immer reell gegen Franz Wagenseil gehandelt.«

Die Palude warf ihrem jungen, unerfahrenen Chef einen mitleidigen Blick zu. »Der Ziegenbrink hat gesagt«, meldete sie trocken, »er erkennt unseren Kontoauszug nicht an. Und er hat gesagt, wir sind nach dem Vertrag nicht berechtigt, auch nur einen Pfennig von den Wochenabrechnungen einzubehalten, sonst klagt er sofort. Und der Ziegenbrink sagt, er erkenne überhaupt sämtliche Abrechnungen mit dem Wagenseil nicht an, er verlangt Vorlage und Einsicht in unsere Bücher.« Fräulein Palude schwieg, und jetzt sah sie ihren Brotherrn wirklich sehr sorgenvoll an. Auch der schaute bekümmert drein, denn es war ihm klar, daß seine Buchführung mit ihrer ärmlichen Kassenkladde alles andere als kaufmännisch einwandfrei war. Und selbst diese ärmliche Kladde gab es erst seit zwei Jahren, seit Fräulein Paludes Kommen. Vorher gab es nur Notizbücher mit Wachstuchdeckel, mit Bleistifteintragungen, die Karl Siebrecht gemacht hatte, wo er gerade gewesen war, auf dem Rollwagen, am Gepäckschalter, an einer Straßenecke.

Aber wieder warf Karl Siebrecht den Kopf in den Nacken. Er sagte: »Sie, Kalli, Rieke, ich, auch der Franz, wir wissen es alle, daß stets anständig abgerechnet worden ist, und mit Anständigkeit kommt man immer durch, Fräulein Palude!«

»Gehen Sie lieber zu einem Anwalt!« riet die Palude.

»Nein«, sagte er. Plötzlich mußte er lachen. »Wissen Sie was, Fräulein Palude? Das alles ist ja nur ein Schreckschuß! Der Ziegenbrink wird schnell genug merken, daß Franz keinen Pfennig Geld hat, und für nichts wird er nichts tun!«

»Aber Sie haben Geld«, sagte Fräulein Palude. »Dem Ziegenbrink ist es egal, von wem er sein Geld holt!«

»Meines kriegt er nicht, und Franz hat keins! Wetten, daß der Spuk in drei Tagen zu Ende ist?«

Fräulein Palude bewegte zweifelnd ihren Kopf. Und sie hatte recht zu zweifeln, Karl Siebrecht sollte bald erfahren, daß Franz Wagenseil Geld hatte.

Kalli Flau und Rieke saßen an dem Schneidertisch und tranken einen improvisierten Nachmittagskaffee. Die Stoffe waren beiseite geschoben, daß ein Eckchen des Tisches frei war. Eine häßliche braune Tonkanne stand dort, zwei Tassen ohne Untertassen, und im Papier, wie es vom Bäcker gekommen war, das Gebäck: ein paar Stücke Mohnstriezel und Schnecken. Beide fuhren schuldbewußt hoch, als Karl Siebrecht unvermutet eintrat. Sie wußten, er haßte diese liederliche Art. Er fand, ein Luxus, den sie sich leisten könnten, sei ein anständig gedeckter Tisch.

Aber heute war er nicht in der Stimmung, erzieherisch zu wirken. »Na, ihr beiden Sünder!« sagte er nur. »Habe ich euch wieder einmal ertappt? Es muß doch herrlich sein, sich so gehenzulassen, aber ich werde es nie verstehen. – Nein, Rieke, danke, keine Tasse für mich, und ich esse auch nichts. Ich habe heute beim Rittmeister von Senden gegessen. Ja, den habe ich auch wieder einmal gesehen – er war übrigens sehr nett.«

Sie warteten beide, daß noch weiteres käme. Aber weiteres kam nicht. Das war so Karl Siebrechts Art, sehr mitteilsam war er zu seinen Freunden nicht. Er fragte lieber, als daß er antwortete. Sie waren schon daran gewöhnt. Er hatte vom Schneidertisch das Rädchen genommen, mit dem die Schneiderinnen ihre Schnittmuster ausradeln, und spielte nachdenklich damit. »Haste Krach mit dem Franz jehabt, Karle?« fragte die Rieke vorsichtig.

Er fuhr aus seinen Gedanken auf. »Hat die Palude was erzählt?«

»Die –? Kein Wort hör ich von der! Die kann mir doch nicht ausstehn! Nee, Karle, aber ihr habt ja Krach jenug jemacht in deine Stube, sojar bei's Maschinennähen ha ick euer Jeschrei jehört!«

»Ich habe bestimmt nicht geschrien, Rieke!«

»Na, du valleicht nich, bei's Schreien klingt eine Stimme durch die Wand wie die andere. Hat er sich denn wieda bejeben, der Franz?«

»Nein«, sagte Karl Siebrecht. »Er hat sich nicht begeben, der Franz.« Er sah rasch zu Kalli Flau hinüber, der ihn mit seinen dunklen Augen schweigend ansah, und sagte: »Er hat uns den Krieg erklärt, Kalli.«

»Ach, der olle Wutkopp!« meinte Rieke verächtlich. »Wenn er det nächste Mal wieda Jeld braucht, is er wieda so kleen!«

»Er bekommt aber kein Geld mehr von mir«, sagte Karl Siebrecht und stand auf. »Hör zu, Kalli! Paß auf, Rieke!« Dies war rein rhetorisch, denn sie hörten auch ohnedies gespannt zu und paßten auf wie die Schießhunde. »Franz hat heute früh wieder dreitausenddreihundert Mark Vorschuß von mir verlangt, für seine dämlichen Gewächshäuser. Er hat schon elftausendsiebenhundert Mark Schulden bei uns. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihm nichts mehr gebe, daß ich im Gegenteil drei Viertel seiner Bezüge von ihm einbehalte – zur Abdeckung seiner Schulden. Bist du damit einverstanden, Kalli? Du bist mein Partner.«

»Jott sei Dank!« sagte Rieke. »Det hättste schon vor zwei Jahren tun sollen, Karle. Der olle Hurenbock, det is schade um jede Mark, die de an den jewandt hast!«

»Nun, Kalli?« fragte Karl Siebrecht wieder. »Ja oder nein?«

»Natürlich ja, Karl. Du weißt doch, du kannst tun, was du willst. Ich bin nur dein Wachthund.«

»Ach, Kalli, sage doch nur nicht so was, dann muß ich mich ja schämen. Der Franz ist nun aber mit seinem Geld zu Ende, und mit dem Geld scheint auch seine letzte Anständigkeit flöten gegangen zu sein. Er ist am Nachmittag in meiner Abwesenheit mit einem Anwalt angerückt und hat mit Bücherprüfung und Klage gedroht.«

»Det is doch janz einfach«, meinte Rieke. »Da nimmste dir ooch 'nen Linksanwalt, den jerissensten, den de findest!«

»Denselben Rat hat mir schon deine Freundin Palude gegeben, und ich habe ihr gesagt, daß ich keinen Anwalt brauche. Was meinst du, Kalli? Kommen wir allein durch? Wir sind immer anständig gewesen.«

»Das mach du, wie du denkst, Karl«, sagte Kalli wieder. »Aber wenn du meinst, dem Franz täte mal eine tüchtige Wucht gut ...« Er streifte lachend seine Ärmel hoch. »Soll ich, Karl?«

»Dies ist keine Sache wie mit Kiesow. Wir müssen uns alle mächtig zusammennehmen und dürfen keine Dummheiten machen.«

»Ach, Karl«, lachte Kalli. »Damit meinst du doch nur, daß du dich zusammennimmst und daß wir keine Dummheiten machen dürfen! Na, wir wollen uns schon Mühe geben, was, Rieke?« Und er nickte der Freundin vergnügt zu, er machte sich keine großen Sorgen wegen Franz Wagenseil.

»Wissen möchte ich nur, was der Franz vorhat«, sagte Karl Siebrecht grübelnd. »Es ist ein verdammtes Gefühl, so dazusitzen und nicht zu wissen, was die tun wollen!«

»Ich habe übrigens den Wagenseil heute auch gesehen«, sagte Kalli Flau plötzlich.

»So? Du auch? Hier auf dem Büro?«

»Nein, bei unserem Wagen am Anhalter. Er hatte einen Mann bei sich, sie sahen sich zusammen die Pferde an. Es war ein ziemlich großer, fetter Kerl, er sah wie ein Viehhändler aus. Wagenseil sagte Emil zu ihm.«

»Emil? Das kann Emil Engelbrecht gewesen sein, das ist ein Pferdehändler! Was kann das nur wieder bedeuten? Franz wird doch nicht jetzt noch Pferde kaufen!«

Einen Augenblick schwiegen alle. Dann sagte Rieke: »Na, Mensch, Karle, wenn der mit Emil seine Jäule ansieht, dann will er doch Pferde vakoofen, det is doch klar!«

»Das kann der Franz aber nicht. Er hat gerade noch Anspannung genug für unsere Wagen, und die muß er halten, dazu ist er verpflichtet! – Nein, dahinter steckt etwas anderes!«

»Aber wenn er keine Pferde kaufen und keine verkaufen kann, was kann dann noch dahinterstecken?« fragte Kalli Flau.

»Na, Mensch«, sagte Rieke wieder. »Man kann doch ooch Pferde tauschen!«

Einen Augenblick sahen sich alle drei an. Dann rief Karl Siebrecht: »Die Rieke hat's mal wieder! Rieke, du mit deinem gesunden Menschenverstand! Natürlich will er die Pferde gegen schlechtere eintauschen, das gibt Geld – für seinen Anwalt und vielleicht auch für seine Gewächshäuser! Aber ich denke beinahe, er vergißt jetzt sogar seine Gewächshäuser über dem Kampf gegen uns. – Also, paß auf, Kalli! Es hilft alles nichts, du mußt dich an seine Kutscher heranmachen. Ein paar von ihnen sind ganz ordentlich. Versprich ihnen was –«

»Was denn? Mit 'ner Molle und 'nem Korn ist das nicht abgetan, Karl!«

»Versprich ihnen«, sagte Karl Siebrecht mit Nachdruck, »daß wir sie eventuell in unsere Dienste übernehmen! Ich habe das feste Gefühl, daß bei diesem Kampf einer auf der Strecke bleibt, und das muß Franz Wagenseil sein! Also versprich ihnen das! Denen ist die Liederwirtschaft bei Franz doch auch über. Geh gleich los, Kalli! Nimm das Rad vom Egon, sieh, daß du noch möglichst viele Kutscher erwischt. Rede mit ihnen! Horche, ob der Franz mit dem Engelbrecht auch noch bei den anderen Gespannen gewesen ist, schone ihn nicht, er schont uns auch nicht!«

»Schön«, sagte Kalli und griff schon nach seiner Mütze. »Ich fahre dann gleich los. – Aber, Karl, wäre es nicht das schlaueste, du sähest dich schon nach einem anderen Fuhrherrn um? Du kannst heute zehn für einen haben, so wie wir bezahlen!«

»Ja, wenn ich das könnte!« rief Karl Siebrecht. »Aber der Vertrag sagt ganz klar, daß ich meine Gespanne nur von Franz nehmen darf. Wir sind auf ihn angewiesen, er mag uns noch so sehr schikanieren! Nehme ich nur ein Gespann woanders, legt der Anwalt uns sofort rein!« Er sah Kalli an. »Ach, Kalli, du sagst immer: was ich mache, ist richtig. Aber mit diesem Vertrag habe ich die größte Dummheit meines Lebens gemacht! Nie wieder mache ich einen Vertrag, der mich einem Menschen ganz in die Hände liefert! Also mach's gut, Kalli!«

»Mach du es auch gut, Karl«, antwortete Kalli Flau, und die beiden jungen Männer gingen.

Karl Siebrecht lief lange Stunden ziellos durch die Straßen. Ein schwerer Druck lastete auf ihm, das Vorgefühl kommenden Unheils wollte nicht von ihm weichen. Ferne war der Tiergarten, ferne das junge Mädchen mit der Handtasche. Wie billig schien jetzt alle Blasiertheit des Herrn von Senden! Er sollte ruiniert werden, und einer, den er trotz all seiner Schwächen noch immer für seinen Freund angesehen hatte, der war es, der ihn ruinieren wollte! Er oder ich, sagte er sich, und daß es keine andere Wahl gab, das war's, was ihm das Herz schwer machte! Der Jammer der Jugend hatte Karl Siebrecht gepackt, alle Ideale der Kindheit sah er zerbrochen! Diese Welt war trostlos, der Geschmack des Lebens ekelte ihn, als äße er Fäulnis. Er fühlte sein Herz unter dem harten Griff seufzen ...


 << zurück weiter >>