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44. Der Zwischenfall

Karl Siebrecht hatte seinen einzigen Reservewagen in die Königgrätzer Straße beordert, und er hatte dabei innerlich gefleht, daß der zweite Wagen nur bald kommen möchte! Nun radelte er im Eiltempo die Wilhelmstraße hinunter und sagte sich immer wieder: Ich muß ganz ruhig bleiben, wie es dort auch aussieht. Sie dürfen mir nicht anmerken, daß ich aufgeregt bin. Vielleicht schnauzen mich die von der Polizei auch an, aber jetzt muß sich zeigen, ob ich etwas tauge! Er fand sein Fuhrwerk nicht mehr in der Königsgrätzer Straße, sie hatten es fortgeschoben. Der hoch mit Gepäck beladene Wagen stand in der ruhigen Dessauer Straße, die unvermeidliche Ansammlung von Neugierigen drum herum. Er drängte sich hindurch. Das eine Pferd, ein knochiger, abgetriebener Brauner, stand ohne Geschirr neben der Deichsel. Das Pferd zitterte an allen Gliedern, seine Haut war schweißnaß. Das andere Pferd lag verdeckt unter der Regenplane. Karl Siebrecht hob eine Ecke der Plane hoch. Es war der Schimmel, der jämmerliche Schimmel, der kaum noch Haare gehabt hatte. Seine Augen waren verdreht, daß man fast nur noch das Weiße sah, die schwach rosafarbene Zunge berührte das schmutzige Pflaster, die Zähne waren sehr lang und sehr gelb. Er ließ den Planenzipfel wieder fallen. »Wie ist denn das passiert, Jahnke?« fragte er den Kutscher, der finster dabei stand.

»Ja, wie ist das passiert, Herr Siebrecht? Gar nichts ist passiert eigentlich. Ich bin ganz sachte Schritt gefahren, wir hatten noch gut Zeit zum Zuge. Plötzlich bleibt das Aas stehen und fängt an allen Gliedern an zu zittern. Ich sage noch: ›Schimmel, was ist dir? Besinn dir!‹ Da fällt der Kröpel schon um, als hätte der Blitz ihn erschlagen ...«

»Und Sie haben keine Peitsche gebraucht, Jahnke?«

»Ich und 'ne Peitsche –?! Herr Siebrecht, bei so einem abgetriebenen Tier! Wenn Sie so was von mir denken, denn is aber Schluß!«

»Sind Sie der Besitzer?« fragte der Schutzmann, der bisher schweigend zugehört hatte. Er hatte das aufgeschlagene Notizbuch bereit.

Aber ehe Karl Siebrecht noch hatte antworten können, schrie ein Mann aus dem stumm starrenden Publikum: »Das ist 'ne Schande, mit solchen Pferden zu fahren!«

Ein alter Mann schüttelte die Fäuste nach Siebrecht.

»So was gehört ins Loch!« schrie ein anderer. Und nun brachen sie alle los, die bisher dumpf schweigend auf die graue Plane gestarrt hatten, unter der nur die Hufe sichtbar waren, arme hundertfach vernagelte, gesprungene Hufe. »Das ist die Jugend von heute! Schinder sind das!«

»Die sollten se vor den eijenen Wagen spannen, solche Äster, und denn imma feste mit de Peitsche druff!« schrie ein großer Mann mit grüner Schürze und der Hausdienermütze eines Hotels.

»Na, na, immer sachte, meine Herren«, sagte der Schutzmann beruhigend. »Das ist ja noch gar nicht raus, daß der junge Mann hier der Besitzer ist. Gehen Sie man weiter. Sie brauchen hier nicht mehr aufzupassen. Wenn der Jüngling hier schuld hat, mir kommt er nicht weg, da brauch ich Sie nicht dazu. Immer weitergehen!« Und er brachte es mit seiner unerschütterlichen Ruhe wirklich fertig, daß der Kreis der Zuschauer sich lichtete. Er schob die Leute mit beiden Armen vor sich her. »Na, nu man los, oder wollen Sie, daß ich Sie zuerst aufschreibe wegen Widerstand? Platz habe ich genug in meinem Buch! – So«, sagte er dann aufatmend zu Karl Siebrecht. »Nun sind Sie dran! Aber ein bißchen dalli, ja, ehe hier wieder hundert stehen! Sind das Ihre Pferde?«

»Nein, der Kutscher steht auch nicht bei mir in Diensten. Ich habe das Gespann nur gemietet.«

»Dann sind Sie also von der Firma?« fragte der Blaue und zeigt auf das Schild von Siebrecht & Flau.

»Ja, ich heiße Siebrecht«, antwortete Karl, sich zur Ruhe zwingend.

»Na schön«, sagte der Schutzmann und klappte sein dickes Notizbuch zu. »Ich habe schon angerufen bei dem – Wagenseil. Er sagt, Sie haben den Wagen überladen.«

»Der Wagen ist nicht voller als gestern, aber es sind andere Pferde.«

»So!« sagte der Schutzmann. »Der Abdecker muß bald kommen, und was machen Sie hier mit Wagen und Pferd? Die müssen weg!«

»Ich habe schon einen anderen Wagen bestellt. Er muß gleich hier sein. Aber, Herr Wachtmeister, da sind auch keine besseren Pferde vor als die hier.«

»Zum Gottsdonner!« sagte der Wachtmeister ärgerlich. »Wozu mieten Sie solche Kröpels?! Es gibt doch anständige Gespanne genug in Berlin!«

»Ich muß! Ich habe einen Vertrag mit dem! Aber der will mir einen Streich spielen!«

»Ich werde mir den Jungen schon kaufen, wenn er hierherkommt! Er wird doch kommen?«

»Ich glaube nicht! Höchstens schickt er seinen Anwalt.«

»Einen Anwalt hat er auch? Wer ist denn sein Anwalt?«

»Der Rechtsanwalt Ziegenbrink, Herr Wachtmeister, wenn Sie den kennen.«

»Ach nee!« Der Schutzmann war ganz Nachdenklichkeit. – »Also der Ziegenbrink – sieh da!«

»Kennen Sie den Anwalt, Herr Wachtmeister?«

»Ich?« fragte der Schutzmann empört. »Wie komme ich denn dazu?! Wie soll ein einfacher Schutzmann den Herrn Rechtsanwalt Ziegenbrink kennen?« Karl Siebrecht war überzeugt, daß der Blaue den Anwalt kannte, aber vielleicht war es gefährlich, auch nur dies zuzugeben. Der kleine Herr Ziegenbrink mit der Goldbrille schien ein recht gefährlicher Mann zu sein.

Nun kam der Reservewagen geschlichen, und die Kutscher fingen an, das Gepäck umzuladen. Kopfschüttelnd sah der Schutzmann zu. »Keinen Strich besser sind die Gäule als die anderen«, sagte er mißbilligend. »Jeder kann sich sofort wieder so hinlegen wie der Schimmel!«

»Ja«, sagte Karl Siebrecht nur.

»Mit den Pferden kriegen Sie an einem Tag mehr Scherereien«, sagte der Schutzmann väterlich, »als Sie in einem Jahre wiedergutmachen können. Stecken Sie die Fahrerei lieber auf, junger Mann!«

»Aber ich muß doch das Gepäck abfahren!«

»Muß? Mit den Gäulen gibt's kein Muß!« Damit wandte sich der Schutzmann zu dem Abdecker, der eben auch mit seinem hohen Wagen gekommen war. Schweigend sah die wieder reichlich angeschwollene Menge zu, wie der tote Schimmel mit einem Flaschenzug in den Wagen gezogen wurde. Dabei standen die drei anderen Pferde, alle ebenso reif für diesen Wagen. Manch böses Wort wurde aus der Menge gesprochen.

Karl Siebrecht stand stumm dabei. In ihm sprach es: Gib es auf! Das schaffst du nicht! Und wieder sprach es: Ich gebe es nicht auf! Ich fahre mein Gepäck. Ich muß es fahren. Er schickte den Jahnke mit dem leeren Wagen und dem einen Pferd auf den Fuhrhof zurück. »Hören Sie, Jahnke«, sagte er noch, »wenn Sie in den nächsten Tagen Arbeit suchen sollten, Sie wissen ja, wo mein Büro ist. Ich kann Ihnen allerdings keine Pferde versprechen ...«

»Lieber will ich Klosetts räumen, als noch einmal mit solchen Pferden fahren!« sagte der Mann böse.

»Sie fahren ganz langsam auf den Anhalter«, befahl Siebrecht dem anderen Kutscher. »Sie rühren mir keine Peitsche an! Der Anschlußzug ist doch versäumt, wie werden heute noch viele Anschlüsse versäumen ...«


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