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72. Zwei seltsame Fahrgäste

Er lernte es immer gründlicher hassen, dieses Berlin, in den langen Monaten, die nun folgten, da er nicht einmal mehr auf das Land fliehen konnte, da er an die kleine Wohnung und an das Autotaxi gebannt war. Wenn er in diesen Jahren 1922 und 1923 eine kleine Fahrt, vom Stettiner zum Anhalter Bahnhof etwa, gemacht hatte, und das Ziel war erreicht, so stieg der Fahrgast nicht etwa aus, zahlte und ging, sondern sie blieben gemeinsam sitzen, Chauffeur und Fahrgast, und fingen an zu rechnen und zu streiten. Der Dollar stand etwa an dem Tage auf siebentausendeinhundertfünfundsiebzig Mark, das dividierten sie durch vier zwanzig und multiplizierten es mit dem Fahrpreis, nämlich zwei Mark sechzig. Dann fingen sie an, den Teuerungszuschlag zu berechnen. Unterdes fuhren die Züge ab, andere Fahrgäste wollten gefahren werden, Zeit wurde vertrödelt, der Frischeste wurde verdrossen. Sie einigten sich und trennten sich, beide unzufrieden, beide mit dem Gefühl, nicht zurechtgekommen zu sein.

Während aber Karl Siebrecht weiterfuhr, andere Gäste einsteigen ließ und mit den anderen Gästen neuen Streit bekam, entwertete sich schon wieder das eben eingenommene Geld, stieg der Dollar von neuem ... Er fuhr nach Haus, bloß um sein Geld abzuliefern, und Rieke stürzte los, sie kaufte dies und jenes, oft, was man gar nicht brauchte, bloß um das Geld anzulegen. Aber alles half nichts, das Fahren half nichts, auch Riekes Schneiderei half nichts, sie kamen zurück. Ohne Kalli Flau wäre kein Durchkommen gewesen. Der schaffte es noch immer mit seinen Nachtfuhren, er war bedenkenloser als Karl Siebrecht. Er nahm das Leben wie es war, er wütete nicht dagegen an, er war auch nicht voller Skrupel wie sein Freund.

Aber auch mit Kalli Flaus Hilfe wurde es knapper und immer knapper, von einem sicheren Auskommen konnte schon längst nicht mehr die Rede sein.

Was für eine düstere, gedrückte Stimmung herrschte in der kleinen Wohnung, wo jedes Brikett in den Ofen und jede Scheibe Brot in den Mund gezählt wurde. O nein, es gab keinen Streit zwischen den dreien! Vielleicht gab es mal ein rasches gereiztes Wort, aber schon war es vorüber. Sie lächelten sich schwach und stumm an und gingen aneinander vorbei, wie Schatten waren sie. Am liebsten hätte jedes, wenigstens von den beiden Eheleuten, in einem Zimmer für sich gesessen, aber das ging nicht. Sie mußten alle eng aufeinander hocken, nur eine Stube konnte geheizt werden. Dann kam die lange Nacht, wo die beiden in den Betten nebeneinander lagen, und jedes lauschte im Dunkeln bewegungslos auf die Atemzüge des anderen, ob es denn noch nicht eingeschlafen sei, bloß um sich unbeobachtet ein wenig strecken zu können, um endlich allein sein zu können. Jawohl, die rot verhängte Ampel und die wollüstig hingegebene Göttin hatte Karl Siebrecht abwenden können, aber nicht hatte er abwenden können das Stummwerden in der Ehe, das Sich-Entfremden in der Ehe, das Schweigen in der Ehe. Diese Nächte waren noch schlimmer zu ertragen als die Tage, und so fuhr Karl Siebrecht denn auch wieder in der Nacht. Er sah, wie mit dem Fallen der Mark der Taumel und die Sucht nach Rausch stiegen, er sah sie am frühen Abend einsteigen in sein Taxi, alle Taschen geschwollen von Paketen mit Scheinen, und er fuhr sie gegen Morgen zurück, ausgebeutelt, leer – und dann stritten sie sich mit ihm hartnäckig um das Fahrgeld.

Viele, viele Fahrgäste, männlich und weiblich ... Sie glitten an ihm vorbei, sie gingen durch die Schwingtür einer Bar, sie eilten in eine Hotelhalle, er sah ihnen nach, und schon hatte er sie vergessen. Aber einen Gast fuhr er in dieser unheilvoll düsteren Zeit, den vergaß er nicht, so kurz seine Fahrt auch war, die lang hatte sein sollen ...

Er hatte in den Zeitungen von dem Zusammenbruch eines großen Bauunternehmens gelesen, sein Leiter war flüchtig, zuerst war sein Name nur mit einem Buchstaben, dem Buchstaben K, bezeichnet. Aber dann las er nach seiner Gewohnheit die Steckbriefe an den Anschlagsäulen und las, daß der Bauunternehmer Kalubrigkeit gesucht wurde. Er las es, und er grinste nur, als er an diesen Herrn zurückdachte, für den er vor zwölf Jahren Koks getragen, auf dessen Zeichenstube er gesessen hatte ... Er grinste, aber es erschütterte ihn nicht sehr. So viele Größen waren seitdem gefallen, echte und falsche – warum nicht auch Herr Kalubrigkeit? Nie hatte man erwarten können, daß die Größe dieses Mannes Bestand hatte. Ein wenig länger dachte Siebrecht schon an den Herrn Bodo von Senden – ob er wohl in Mitleidenschaft gezogen war? Aber auch an Herrn von Senden dachte er nicht sehr lange, und auch nicht mit großer Teilnahme. Der war genau wie der Herr Gollmer geflohen, der eine saß auf einem Gut in Bayern, der andere reiste nun schon Jahre in der Welt herum. Sie sorgten für sich allein, diese reichen Herrn, man mußte sich nicht auch um sie sorgen!

Aber nun begab es sich, daß Karl Siebrecht in einer der nächsten Nächte eine junge Dame in den Westen Berlins fahren mußte. Es war noch eine sehr junge Dame, vielleicht war sie zum erstenmal in ein Nachtlokal gegangen, und es war ein bißchen zuviel geworden für sie: der Alkohol oder das Tanzen oder was sie erlebt hatte, wahrscheinlich alle drei Dinge zusammen. Wo ihr Kavalier, der sicher einmal vorhanden gewesen war, steckte, war nicht zu ermitteln: das blutjunge Ding war in seine Droschke mehr gefallen als gestiegen, hatte eine Adresse gemurmelt und war sofort eingeschlafen.

Eine stille, solide Straße im guten Westen war das Ziel der Fahrt. Aber die junge Dame war kaum zu ermuntern, ihr Kopf war eher verwirrter als klarer geworden. Sie schien den Chauffeur für jemand anders zu halten, sie sagte: »Ach, laß mich! Laß mich doch jetzt endlich in Ruhe! Du bist ja so gemein! Faß mich nicht mehr an, bitte nicht!« Karl Siebrecht sah zweifelnd an den dunklen Häusern hoch. Mitternacht war vorüber, zudem war es Winter, ein leichter Schnee war gefallen, und die Fremde war blutjung. Er konnte sie nicht vor dem Haus im Vorgarten lassen – er wollte es auch nicht.

So nahm er denn aus ihrer Tasche die Schlüssel, faßte sie um und brachte sie in den Hausflur. Es war ein schweres Werk, sie Treppe um Treppe höher zu schaffen, er mußte sie fast tragen. Bei jeder Etage fragte er: »Ist es hier, Fräulein?«, aber sie stieg weiter. Sie sagte jetzt nichts mehr, sie hing schwer in seinem Arm, dabei zitterte sie, ihre Zähne schlugen aufeinander ... Schließlich blieb sie vor einer Tür stehen. »Ist es hier?« fragte er. Wieder antwortete sie nicht. Er probierte den Schlüssel, und der Schlüssel paßte. Er schloß auf. »So, Fräulein«, sagte er. »Gehen Sie jetzt leise auf Ihr Zimmer. Hier ist Ihre Handtasche. Ich mache die Tür zu. Gute Nacht.«

Er hatte auf der Diele das Licht angeknipst. Es war eine schöne Diele mit dunklen Möbeln, ein paar alte Familiengesichter sahen fremd von der Wand herab. Sie löste sich aus seinem Arm und tat taumelnd ein paar Schritte. Er sah ihr zweifelnd nach. Schon fiel sie. Sie fiel nicht so sehr, sie sackte in sich zusammen. Es gab kaum ein Geräusch.

Er war gleich bei ihr und wollte ihr aufhelfen, aber obwohl kein Geräusch entstanden war, hatte sich doch eine Tür geöffnet, und da stand ein Mann, ein untersetzter Mann mit einem Spitzbauch. »Was soll denn das?« fragte der Mann ungnädig, aber nur flüsternd. »Was machen Sie denn hier?« – Karl Siebrecht hatte den Mann sofort erkannt. Er meinte, der Mann müsse auch ihn erkennen. Aber lange Jahre waren vergangen, seit er als Junge bei Herrn Kalubrigkeit gearbeitet hatte. »Nun, wird's bald?!« fragte der Bauunternehmer, und schon am Ton der Stimme hätte ihn Karl Siebrecht wiedererkannt, an dieser Stimme, die nur schelten konnte!

»Dem Fräulein ist schlecht geworden«, sagte er halblaut. »Ist das Ihre Tochter?« Es hatte ein anderer Name an der Tür gestanden.

»Nein, ich wohne hier nur zur Miete. Das ist das Mädel von hier! Eine Schande ist so was!«

»Wo kann ich sie denn hinlegen?« fragte Karl Siebrecht ungeduldig. »Sie kann doch nicht hier auf dem Flur liegenbleiben. Fassen Sie doch mit an!«

»Da ist der Salon! Legen Sie sie dort aufs Sofa. Nein, ich weiß nicht, in welchem Zimmer sie schläft. Sind Sie Chauffeur?«

»Ja«, sagte Karl Siebrecht, nahm das Mädchen auf den Arm und trug es in den Salon.

Herr Kalubrigkeit ging mit und knipste das Licht an.

Siebrecht fragte: »Liegen hier irgendwo Decken?«

»Woher soll ich Bescheid wissen, ich wohne erst seit ein paar Tagen hier. Holen Sie doch Mäntel, es hängen genug Mäntel auf dem Flur.« Herr Kalubrigkeit sah schweigend zu, wie er das Mädchen zudeckte.

Dann sagte Karl Siebrecht: »So, ich nehme mir jetzt das Fahrgeld aus der Handtasche, passen Sie bitte auf, daß es nicht heißt, ich habe zuviel genommen.« Er öffnete die Tasche, aber er fand nur ein paar Scheine, die keinen Groschenwert hatten. Er sah hoch und begegnete dem schadenfrohen Blick des Herrn Kalubrigkeit.

»Na –?« fragte der.

»Ich werde morgen noch einmal vorkommen«, sagte Karl Siebrecht und schloß die Tasche. »Sie sind mein Zeuge –«

»Ich bin leider nicht Ihr Zeuge«, antwortete Kalubrigkeit spöttisch. »Ich bin im Begriff abzureisen.« Er verstummte und dachte nach. Dann sah er den Chauffeur wieder an. »Am liebsten wäre es mir, wenn Sie mich fahren würden. Wenn Sie mich fahren, zahle ich Ihnen auch die Taxe vom Fräulein.«

»Jetzt wollen Sie fahren?« fragte Karl Siebrecht.

»Ja, jetzt gleich.«

»Und wohin?«

Wieder überlegte Herr Kalubrigkeit. Dann sagte er: »Ich wollte eigentlich mit dem Nachtschnellzug nach Leipzig fahren, ich bin aber mit dem Packen nicht fertig geworden. Würden Sie mich direkt nach Leipzig fahren?«

»Jetzt?« fragte Siebrecht und tat, als verstünde er nichts. »In der Nacht? Mit meinem Taxi? Nach Leipzig?«

»Ja«, antwortete Herr Kalubrigkeit ungeduldig. »Jetzt sofort. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe meinen Zug versäumt! Verstehen Sie das denn nicht?«

»Das schon. Aber es liegt Schnee draußen. Wir werden nicht früher in Leipzig sein, als wenn Sie mit dem Frühzug fahren.«

»Ich will aber mit dem Auto fahren! Wollen Sie kein Geld verdienen?«

»Doch! Es wird aber eine Stange Gold kosten, Herr.«

»Gold habe ich nicht!« Herr Kalubrigkeit grinste dünn. »Aber Sie können ein paar Devisen kriegen.«

»Fünfzig Dollar – und ich fahre Sie!«

»Fünfzig Dollar – Sie sind ja wahnsinnig! Wer hat denn heute fünfzig Dollar? Ich werde Ihnen fünf Dollar geben und den Rest in Papiermark.«

Eine Weile stritten sie sich. Herr Kalubrigkeit schien sehr viel an dieser Fahrt zu liegen, schließlich zahlte er sogar zehn Dollar an. »Ich muß aber erst noch mal nach Hause«, sagte Karl Siebrecht. »Ich muß meinem Kollegen Bescheid sagen, daß das Taxi morgen früh nicht da ist.«

»Und hauen mit meinen zehn Dollar ab! Nein, mein Lieber, da fahre ich mit! Wohin müssen Sie denn?«

»Gleich bei der Königstraße, es ist kein großer Umweg.«

»Schön. Ich hole dann meine Taschen. In fünf Minuten können wir fahren.«

Allein geblieben, sah Karl Siebrecht lange auf die schlafende Fremde. Sie war wirklich fast noch ein Kind, vielleicht siebzehn Jahre, vielleicht noch jünger. Sie schlief den schweren Schlaf der Betäubung, kaum war zu merken, daß ihr Atem ging. Ihr Gesicht hatte einen gespannten, einen bemühten Ausdruck, es sah aus, als lerne ein Kind seine Schularbeiten. Karl Siebrecht, als er dieses Mädchen so schlafen sah, hatte einen seltsamen Einfall. Er nahm die beiden Fünfdollarscheine, die ihm der Kalubrigkeit gegeben hatte. Siebrecht hatte sie gerne genommen, so brachte er doch etwas von dieser vertanen Nacht zu Rieke. Aber nun steckte er die beiden Scheine in die Handtasche. Er sah ein Kärtchen darin, er nahm es heraus, »Hertha Eich« stand darauf. Einen Augenblick zögerte er, dann schrieb er auf das Kärtchen: »Einen Gruß von Ihrem Chauffeur. Gehen Sie nicht wieder so aus.« Er war in Versuchung, das Kärtchen wieder zu zerreißen, aber dann steckte er es doch zurück. Es würde eben morgen zerrissen werden. Sie würde sich noch ein paar Tage lang schämen, aber dann würde sie sich damit trösten, daß sie den Chauffeur nie wieder sehen würde. Allmählich würde sie auch das Schämen vergessen. Der Mensch war so. Zu Anfang hatte er sich noch geschämt, daß er eine so schlechte Ehe mit Rieke führte. Jetzt hatte er sich längst daran gewöhnt und schämte sich nicht mehr. Jetzt nahm er schon Geld, das sie nötig brauchte, und steckte es jungen Mädchen in die Handtasche. Wozu eigentlich? Die Wohnung sah aus, als wohnten reiche Leute darin. Aber er tat es eben!

Herr Kalubrigkeit kam zurück. »Die schläft aber fest!« sagte er unzufrieden. »Machen Sie schon das Licht aus, und seien Sie leise auf dem Flur. – Nein, die Handtaschen trage ich selbst, sie sind ganz leicht.« Er war sehr besorgt um diese Taschen, der Herr Kalubrigkeit, und Karl Siebrecht konnte sie ihm gerne lassen, sie würden bald gut aufgehoben sein. Hoffentlich war etwas Nennenswertes drin, er dachte jetzt schon etwas wärmer an den Herrn von Senden.

Karl Siebrecht fuhr ohne Halten direkt vor das Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Herr Kalubrigkeit war bis zur letzten Sekunde ohne allen Argwohn, er glaubte ja, der Chauffeur wohne in dieser Gegend.

Kaum hielt der Wagen, war Karl Siebrecht schon draußen und lief auf den Polizeiposten am Tor zu: »Nehmen Sie den Mann in meinem Wagen fest! Es ist der Bauunternehmer Kalubrigkeit, der steckbrieflich gesucht wird.«

Kalubrigkeit saß noch brav im Wagen, er hatte überhaupt nicht begriffen, wo sie hielten. Er war schon auf der Fahrt nach Leipzig und weiter in die Schweiz. Völlig verwirrt folgte er dem Wachtmeister in das Präsidium, er bestand immer noch darauf, seine Taschen selbst zu tragen, Karl Siebrecht ging leer hinterdrein.

Der übermüdete, gereizte Kommissar vom Nachtdienst nahm seufzend einen neuen Bogen. »Sie heißen? Franz, Kaufmann Otto Franz? Polizeilich gemeldet? Ja? Haben Sie einen Ausweis bei sich? Reisepaß, ja? Schön. Scheint in Ordnung. – Wie kommen Sie denn zu der Annahme, daß der Herr der Bauunternehmer Kalubrigkeit ist? Sie sind wohl auf die Belohnung scharf?«

»Ich kenne den Herrn Kalubrigkeit seit über zwölf Jahren. Ich habe zuerst bei ihm auf einem Bau in Pankow gearbeitet. Dann später in seinem Zeichenbüro in der Krausenstraße. Ich kenne ihn genau.«

»Eine Verwechslung«, sagte Herr Kalubrigkeit. »Vielleicht sehe ich dem Herrn ähnlich. Ich habe natürlich nie einen Bau in Pankow gehabt. Auch nie ein Zeichenbüro unterhalten. Der Chauffeur irrt sich.«

»Ich heiße Karl Siebrecht. – Sie erinnern sich an meinen Namen nicht? Nun, das ist kein Wunder, es ist lange her. Aber Sie erinnern sich an die Trockenmieter, wissen Sie nicht mehr, wie Sie einen Jungen vom Kokstragen wegschickten, weil er den schwindsüchtigen Trockenmietern etwas von Ihrer Feuerung gegeben hatte? Sie waren sehr wütend auf mich, Herr Kalubrigkeit! Sehen Sie, jetzt erinnern Sie sich!«

Herr Kalubrigkeit hatte eine Bewegung gemacht, auch der Kommissar, der zweifelnd von einem zum andern sah, hatte sie gesehen. Aber jetzt rief der Bauunternehmer zornig: »Das alles ist Geschwätz! Sie können mich auf solch Gefasel nicht länger festhalten, Herr Kommissar! Ich muß nach Leipzig, ich habe dort eine wichtige Besprechung!«

»Und dann in Ihrem Zeichenbüro!« fuhr Siebrecht unbeirrt fort. »Ihr eigener Schwager hatte mich eingeschmuggelt, der Herr von Senden. Dessen Vermögen haben Sie ja wohl auch verwaltet, wie? Ist noch etwas da von dem Vermögen, Herr Kalubrigkeit? Vielleicht in der Tasche dort?«

Unwillkürlich griff Herr Kalubrigkeit nach der Tasche, die auf dem Tisch vor dem Kommissar stand. Er zog die Hand hastig zurück, als er den Blick der beiden fühlte.

»Geben Sie zu, daß Sie der Bauunternehmer Kalubrigkeit sind?« fragte der Kommissar. »Oder bleiben Sie dabei, der Kaufmann Otto Franz zu sein?«

»Natürlich bin ich der Kaufmann Franz!« rief Kalubrigkeit. »All das ist Unsinn, was dieser junge Mann hier erzählt! Ich lasse mich hier nicht länger festhalten! Ich werde mich beim Polizeipräsidenten über Sie beschweren, Herr Kommissar! Das ist meine Zeit! Das kostet mein Geld! Solch haltloses Gefasel –«

Herr Kalubrigkeit schimpfte immer schneller, immer lauter.

»Machen Sie einmal Ihre Taschen auf«, sagte der Kommissar begütigend. »Das erledigt den Fall vielleicht am schnellsten. Wenn Sie der Kaufmann Franz sind, können Sie es unbesorgt tun. Geben Sie also die Schlüssel her.«

»Ich denke nicht daran! Sie haben kein Recht, das zu verlangen! Ich will meinen Anwalt sprechen! Sie kriegen die Schlüssel nicht!«

Der Streit wurde immer lauter. Herr Kalubrigkeit wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Hergabe der Schlüssel. Dann, als sie ihm von einem Schutzmann abgenommen waren, wurde er plötzlich ganz still, fiel in sich zusammen. Er saß auf einem Stuhl, vor sich ein Glas Wasser, er sah nicht hin nach seinen Taschen, als sie geöffnet wurden. Obenauf lag ein wenig Wäsche, dann ...

»Das ist hübsch«, sagte der Kommissar, und nahm ein Bündel Devisen nach dem anderen aus der Tasche. »Ich hoffe, Sie besitzen eine Devisengenehmigung, Herr Franz oder Herr Kalubrigkeit. Ihr Paß trägt eine Ausreisegenehmigung für die Schweiz ...«

Herr Kalubrigkeit hatte den Zeigefinger ins Wasserglas getaucht. Er malte jetzt auf die rohe, mit Tinte verschmierte, zerschnitzelte Holzplatte Zahlen auf Zahlen. »Ich verweigere jede Aussage, bis ich mit meinem Anwalt gesprochen habe«, sagte er giftig. »Die Geschichte wird Sie teuer zu stehen kommen, Herr Kommissar!« Mit erhobener Stimme: »Im übrigen hat der Chauffeur zehn Dollar Handgeld von mir für eine Fahrt nach Leipzig bekommen. Da er mich nicht dorthingefahren hat, gehören die zehn Dollar mir. Ich bitte, sie ihm abzunehmen.«

»Schön, schön«, sagte der Kommissar gelangweilt. »Stimmt das, Chauffeur? Dann müssen Sie das Geld natürlich wieder rausrücken. Sie bekommen ja später die Belohnung, wenn dies wirklich der gesuchte Kalubrigkeit ist.«

Karl Siebrecht war rot geworden, als er an das Geld in der Handtasche des schlafenden Mädchens dachte. Endlose Auseinandersetzungen, sehr fragwürdige Erklärungen standen ihm bevor. Aber er war nicht umsonst auf allen Straßen Waffenschmuggler gewesen. Sofort hatte er sich gesammelt.

»Der Mann lügt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Er hat mir nicht eine Mark gegeben, geschweige denn zehn Dollar. Wenn er dabei bleibt, muß ich verlangen, daß meine Taschen nachgesehen werden, und wenn dann ein Dollar herausfällt –«

Dies gab Herrn Kalubrigkeit den Rest. Wütend sprang er auf, der große Bauunternehmer hatte nie gelernt, sich zu beherrschen. »Sie verdammter Kerl!« schrie er. »Ich lüge? Zehn Dollar habe ich Ihnen gegeben, in zwei Scheinen! Ja, sehen Sie den Mann nach, sehen Sie auch sein Taxi nach, sicher hat er das Geld irgendwo versteckt! Haben Sie mir nicht schon genug Schwierigkeiten gemacht?! Mit dem Senden habe ich mich Ihretwegen verkracht.«

»Danke!« sagte der Kommissar. »Also, Herr Kalubrigkeit, soweit wären wir nun! Und jetzt erzählen Sie mir vielleicht auch, wie Sie zu diesen Devisen kommen ...«

Herr Kalubrigkeit wurde fahl. Dann setzte er sich langsam. Er fuhr mit seiner Hand durch die Haare. »Ich stelle einen Strafantrag gegen diesen Siebrecht«, sagte er verbissen. »Ich verlange, daß dieser Mann festgehalten und auf zehn Dollar durchsucht wird ...«

»Die zehn Dollar interessieren mich im Moment nicht so sehr wie die Zehntausende da in Ihrer Tasche«, meinte der Kommissar. »Kommen Sie, Herr Kalubrigkeit, seien Sie jetzt vernünftig. Wir machen jetzt ein kleines Protokoll, und dann können Sie sich schlafen legen. Sie warten im Vorzimmer, Chauffeur.«


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