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88. Eine Heilspredigt des Herrn von Senden

Er hatte nun Geld, der Anteil an dem Taxi hatte ihm fünfzehnhundert Mark gebracht, er besaß beinahe zweitausend Mark. Er hätte sich einen zweiten Lastwagen mit einer tüchtigen Anzahlung auf Raten kaufen können. Er hatte auch mit dem Dienstmann Bösicke gesprochen, der schon vor dem Krieg für ihn gefahren hatte, der Mann war willens. Aber er konnte sich nicht entschließen. Solange er derart in der Luft hing, mit soviel wilden Konkurrenten zu kämpfen hatte, keinerlei Autorität hinter ihm stand, war das Risiko zu groß.

Es war Juli geworden, es war Reisezeit. Er hatte stramm zu tun, jede Woche wuchs die Summe auf seinem Sparbuch. Aber dann kam eine schreckliche flaue Zeit, die Stadt erlahmte in Hitze und Gestank, in London wurde verhandelt, die Dawes-Anleihe hatte Aussichten – er holte Geld von der Kasse. Für nichts und wieder nichts hielt er an den Bahnhöfen ... Da kam wieder die Versuchung über ihn, endlich den versprochenen Anruf zu machen. Du lieber Gott, was war schließlich dabei? Er wollte nichts von dem Mädchen, das Mädchen war ihm völlig gleichgültig, es war nur die Verbindung mit dem Vater, dem mächtigen Eich. Man mußte in diesen Zeiten jede Möglichkeit benutzen, warum nicht einmal anrufen –?

Und er rief doch nicht an. Er stand zehnmal vor dem Automaten und rief doch nicht an. Die Trennung von Rieke, die schreckliche Nacht in dem Absteigehotel, die letzte Aussprache mit Kalli steckten ihm in den Gliedern: Die Frauen bringen mir nun einmal kein Glück. Ich will nichts mehr mit Frauen zu tun haben! Ja, Gerti – aber auch Gerti hatte ihn gehen lassen, war nicht mit ihm gekommen! Nun war seine Scheidung ausgesprochen, er war wieder ein freier Mann. Aber er fühlte sich nicht frei – nachts träumte er von Rieke. Dann sah er sie daliegen, wie damals.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus, er vertrug dieses ewige Schweigen nicht mehr, dieses Sitzen in seinem kahlen Zimmer, diese ewige Mühle in seinem Kopf, die nur Vergangenes mahlte und immer wieder mahlte: Beschuldigungen, Entschuldigungen, Rechtfertigungen – endlos! Immer wieder! Er mußte wieder mit einem Menschen sprechen! Er ging zu Herrn von Senden. Er wohnte jetzt gar nicht weit ab, in der Artilleriestraße, nahe bei seiner Kaserne.

Der Rittmeister war in Uniform, er sah frischer und lebendiger aus, nichts mehr von Blasiertheit und näselndem Ton. »Da bist du also auch wieder einmal, mein Sohn Karl!« sagte er vergnügt. »Setze dich und stecke dir eine Zigarette an! Was, du rauchst noch immer nicht? Gewöhne es dir an, Karl, gewöhne dir um des Himmels willen ein paar kleine Schwächen an! Die Menschen ohne kleine Schwächen haben meist einen großen Fehler!« Er folgte dem Blick seines Besuchers und lachte: »Ja, hier hause ich! Ein paar alte Sachen aus der Kurfürstenstraße – du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin ohne all den Trödel. Es ist herrlich, wieder ein freier Mann zu sein!« Er warf sich in einen Sessel und schlug die Beine über, aber von Seidenstrümpfen war nichts zu sehen. Der Herr Rittmeister trug wieder lange Reitstiefel aus Lackleder, die wie angegossen saßen. »Und dann der Dienst, Karl, was für eine Freude mir der Dienst macht! Aus dem Chaos wieder etwas schaffen! Ich sage dir, wir stellen eine Truppe auf! Das ist was für mich. Ich weiß meine Arbeit, und das ist für einen Mann die Hauptsache!«

Danach sah der Herr von Senden wirklich aus. Karl Siebrecht mußte mit Neid feststellen, daß dieser Mann um die Fünfzig ihn bei weitem an Mut und Frische schlug.

»Kalubrigkeit!« rief der Rittmeister. »Du erinnerst dich doch noch an Kalubrigkeit, deinen ehemaligen Brötchengeber? Aber natürlich, du hast ihn ja sogar auf dem Alex eingeliefert! Da bin ich dir wahrhaftig noch eine Belohnung schuldig. So bin ich noch mit einem blauen Auge davongekommen! Also, Karl, du hast einen Wunsch an mich frei – es kann sogar ein ziemlich großer Wunsch sein. Nun, wie ist es?«

»Nein, nein«, wehrte Karl Siebrecht lachend ab. »Vorläufig habe ich keinen Wunsch, weder einen großen noch einen kleinen. Vielleicht später einmal, Herr von Senden. Und was wurde mit Kalubrigkeit?«

»Richtig! Nun, er wurde weich wie Wachs, er verriet sogar seine Depots in der Schweiz, bloß um billig wegzukommen. So haben sie ihn denn auch milde angeschaut, die Herren Richter, dazu hatte er ausgezeichnete Verteidiger: Ergebnis anderthalb Jahre Gefängnis. Und er wird auch in diesen anderthalb Jahren nicht viel auszustehen haben, der Gute, dafür ist er viel zu schlau!«

»Und was machen die Gollmers?« wagte Siebrecht sich endlich zu erkundigen.

»Ach ja, du interessierst dich auch für Gollmers! Vor einer Woche habe ich mit ihnen im Eden gegessen, sie waren auf der Durchreise hier. Das Mädel sieht blendend aus, wieder vollkommen in Ordnung. Du erinnerst dich, sie hatte einen Knacks an der Lunge. Schade, hättest du dich früher gemeldet, hättest du dabeisein können. Er hat sich wieder mal nach dir erkundigt. Ich konnte ihm nur sagen, daß du etwa alle drei Jahre wie ein Komet in meiner Nähe auftauchst und sofort wieder spurlos verschwindest!«

»Was macht Herr Gollmer? Betreibt er wieder sein Autogeschäft?«

»Vielleicht, ich weiß nicht, aber wenn, dann nur nebenbei. Er ist jetzt Sachverständiger in einem dieser Ausschüsse, die das Wirtschaftsleben der Welt angeblich gesund machen wollen, damit wir dann die Schulden der Welt bezahlen können. Meistens leben die beiden in London oder Paris, Berlin ist für sie völlig dritten Ranges. – Du interessierst dich geschäftlich für ihn, was?«

»Ja, geschäftlich«, sagte Karl Siebrecht und wurde doch ein wenig rot.

»Im Augenblick wird er schlecht zu erwischen sein, ich nehme an, daß er in London auf einer dieser berühmten Konferenzen sitzt. Aber wenn du mir deine Adresse hierlassen willst, so will ich dir gerne einen Wink geben, sobald er wiederauftaucht. Meist meldet sich wenigstens die Ilse bei mir. Ilse ist Fräulein Gollmer, verstehst du?«

»Ich weiß«, murmelte Karl Siebrecht und wurde zum zweitenmal rot. Diesmal merkte es der Rittmeister. Er sah sich seinen Besucher genauer an und sagte: »Verdammt mager und elend siehst du aus, mein Lieber. Während ich hier wie ein Fink im Rübsamen jubiliere, scheint es dir nicht gerade erbaulich gegangen zu sein! Was macht das Geschäft? Was für ein Geschäft betreibst du überhaupt jetzt? Wie weit sind wir mit der Eroberung von Berlin? Was macht die liebe Frau und die Kinderchen? Ihr habt doch endlich Kinderchen, wie?«

»Ich bin geschieden«, sagte Karl Siebrecht.

»Oh, das tut mir aber leid! Das heißt, ich war ja damals gleich der Ansicht – ach was, meine Ansicht ist ganz piepe! Erzähle, Karl, was du erzählen magst und kannst!« Mit der alten echten Anteilnahme streckte er seine Hand dem jungen Mann hin, hörte an, was der erzählte, und schüttelte bedenklich den Kopf, als der von der Verwirrung und dem Schock der letzten Zeit sprach. Dann aber sagte er: »Also dem Gollmer werde ich einen Wink geben, sobald ich die Möglichkeit habe! Und wenn du mich bis dahin brauchst, das heißt mein Geld, denn geschäftlich bin ich keinen Sechser wert, dann sage es mir. Ich habe einen ganzen Haufen Geld liegen, den ich gerne untergebracht sähe. Gollmer schwört ja auf die Rentenmark, ich weiß nicht, jedenfalls möchte ich einen zweiten Reinfall nicht erleben. Da ist mir die – sehr stille – Teilhaberschaft in einem Fuhrgeschäft schon lieber. Denke daran, Karl, du tust mir sogar einen Gefallen.« Er drückte die Hand des jungen Mannes und fuhr dann fort: »Was aber deine Gewissensbisse angeht, so mußt du sehen, daß du damit bald fertig wirst. Das ist unnütze Quälerei. Ich nehme an, daß du kein sehr liebenswürdiger und geduldiger Gatte gewesen bist, aber das sind viele Männer nicht, und die Ehen halten doch. Ihr habt nicht zueinander gepaßt – daraus kannst du dir keinen Vorwurf machen. Kein richtiger Mann verträgt so was; wenn er geliebt wird, will er auch wiederlieben können, sonst reißt er aus. Du bist ausgerissen – und das war richtig!«

»Meinen Sie das wirklich, Herr von Senden? Oder sagen Sie es nur, um mich zu trösten? Ich sehe sie da noch immer liegen, es sah wirklich schrecklich aus ...«

»Ach was!« rief der Rittmeister fast ärgerlich. »Ich nehme an, du hast im Kriege noch viel Schrecklicheres daliegen sehen und bist doch darüber weggekommen! Das Leben ist doch kein Friedensverein! Man muß sich und anderen manchmal wehe tun, sonst kannst du nach Indien ziehen und deinen Nabel beschauen. Dann tust du niemandem weh. Nimm dich und deine Angelegenheiten nur nicht so verdammt wichtig. Es wächst über alles Gras, und meistens sehr schnell.« Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Ich will dir aber erzählen, was mit dir los ist, mein Guter. Ich kenne das, denn ich habe es selber an mir erlebt: du kannst einfach nicht mehr allein leben! Das bekommt dir nicht, da gerätst du in Grübelei und Gewissensbisse. Du mußt reden können, dich aussprechen. Überlege einmal, wie lange ist es her, daß du ganz allein gelebt hast?«

»Ich bin aber nicht einmal vier Jahre verheiratet gewesen!«

»Ach, Fliegentüten, ich frage dich doch nicht, wie lange du verheiratet warst, ich frage dich, wie lange es her ist, daß du ganz alleine für dich gelebt hast! Nun sitzt du da in deiner nackten Höhle bei der verwitweten Krabuschke, oder wie sie heißt, und guckst deine Wände an, und deine Wände gucken dich an. Das ist ja trostlos! So was bist du einfach nicht gewöhnt, außerdem muß man zum Einsiedler geboren sein, und das bist du nicht. Mein Lieber, du bist ein junger Mann und siehst gut aus, warum in aller Welt gehst du nicht hin und suchst dir eine kleine Freundin?«

»Ich habe kein Glück mit Frauen!« sagte Karl Siebrecht abweisend, konnte es aber nicht hindern, daß er zum drittenmal rot wurde.

»Armleuchter!« sprach der Rittmeister voll Verachtung. »Du doppelter, siebenarmiger, mit Fransen behängter Armleuchter! Du hast kein Glück mit Frauen? Weil du dir einmal die Pfoten verbrannt hast, sagst du stolz: nein, diese Suppe esse ich nicht; ich esse meine Suppe nicht! Nochmals Armleuchter! Und wenn du dir zehnmal die Pfoten verbrannt hättest, so solltest du erst recht losgehn und es ein elftes, zwölftes und ein dreizehntes Mal versuchen! Mensch, Karl, Knabe Karl, schrecklicher Knabe Karl – deine Jugend sollte ich haben! Es laufen so wunderbare Mädchen in der Welt herum – mit jedem Jahr, das ich älter werde, finde ich, daß immer reizendere Mädchen in Berlin herumlaufen! Du willst ein moderner junger Mann sein? Du solltest als Eremit in die Thebais gehen und dich auf eine Säule stellen, immer auf einem Bein. Die Vögel sollen in deinem Kopfhaar nisten, und von unten her sollen dich die Läuse auffressen. Da gehörst du hin! Ich habe kein Glück mit Frauen ... ach, du armer, kleiner Hanswurst, du! Wenn du wenigstens gesagt hättest, die Frauen haben kein Glück mit dir! In solch einem Satz hätte wenigstens Sinn und Verstand gelegen! Aber dies – es ist doch einfach nicht zu glauben. Und wir leben im Jahre des Heils neunzehnhundertvierundzwanzig.«


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