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55. Die alte Minna

Als er auf den Hof kam, trat sie aus dem Stall, einen Vieheimer in der Hand. Sie blinzelte den Städter einen Augenblick mißtrauisch an, dann wischte sie die Hand an der blauen Schürze ab, hielt sie ihm hin und sagte: »Da bist du ja, Karl! Mächtig fein siehst du aus! Aber ich muß jetzt wohl Sie zu dir sagen!«

Er schüttelte ihr aufgeregt die Hand. »Ach, Minna!« rief er. »Warum sollst du Sie zu mir sagen?! Freust du dich denn gar nicht, daß ich dich mal besuche? Sag, freust du dich?«

»Doch! Doch!« sagte sie und sah ihn prüfend an. »Geben sie dir in der Stadt gar nichts zu essen? Mächtig mager siehst du aus!«

»Ich habe tüchtig zu arbeiten, Minna, davon kommt die Magerkeit. Zu essen bekomme ich schon genug.«

»Ach, so 'n Stadtessen!« sagte sie verächtlich. »Wart mal 'nen Augenblick!« Sie schurrte ins Haus. Ihr Rücken war rund und krumm geworden, ihre Hände ganz hart. So grau war ihr Haar doch früher nicht gewesen?

Er mußte eine ganze Weile auf dem Hof warten, bis sie zurückkam. »Denn komm mal rein!« sagte sie. »Wir haben schon gegessen, aber ich mache dir ein Rührei mit Bratkartoffeln und Speck. Das hast du doch früher so gern gemocht.«

In der Küche mußte er Minnas Schwägerin die Hand geben. Die Frau sah ihn nur kurz und fast feindlich an, Minnas Bruder war nicht zu sehen. Er wurde in die gute Stube geführt und mußte sich auf das Wachstuchsofa setzen. In der Küche nebenan hörte er die beiden Frauen wirtschaften. Um den vertrockneten Fliegenfänger spielten die Fliegen. Er saß da und saß – die Zeit wurde ihm sehr lang. Wozu saß er hier?

Die beiden Frauen nebenan schienen sich zu streiten. Plötzlich hörte er die scharfe Stimme der Schwägerin: »Für so was haben wir kein Geld!« Dann murmelte die alte Minna.

Er stand auf, öffnete ein Fenster und sah hinaus. Aber er sah nichts. Ungeduld, Unruhe, Ärger saßen ihm in den Gliedern. Am liebsten wäre er auf der Stelle fortgegangen. Das sah ihnen so ähnlich, dem Gast der alten Minna, die den ganzen Tag für sie rackerte, nicht einmal ein paar Eier und ein bißchen Speck zu gönnen. Aber er konnte es ihr nicht antun, er mußte schon sitzen bleiben und sich durch das ungegönnte Essen hindurchschlagen.

Er tat es, sie redeten kaum dabei, die Tür zur Küche war nur angelehnt. Dann stand er auf und sagte: »So, Minna, das hat wieder einmal großartig geschmeckt! Zum erstenmal wie früher zu Haus!«

Ein schwaches Lächeln kam bei ihr. »Das ist recht, Karl.«

»Und nun bringst du mich ein Stück zurück zur Stadt, Minna, nicht wahr?«

»Möchtest du? Na schön, ich will sehen ... Dann warte mal ...«

Wieder mußte er lange warten, aber diesmal hörte er wenigstens kein Gezänke. Die Fliegen tanzten weiter um den Fänger – eigentlich war es ganz schrecklich, hier so sinnlos herumzustehen. Minna hatte nur Schwierigkeiten dadurch.

Dann kam Minna. Sie hatte ihren Sonntagsstaat angezogen, er kannte noch jedes Stück: das schwarze Wollkleid mit dem weißen Kragen und die Brosche mit den Vergißmeinnicht. Wer weiß, aus welcher frühen Zeit der Minna diese Brosche wohl stammen mochte? Vielleicht war auch dieses alte hölzerne Mädchen einmal zu Zärtlichkeiten geneigt gewesen? Sicher, einmal war sie genauso jung gewesen wie er, hatte ebenso wie er viel vom Leben erwartet. Ach, wie trostlos war es doch, in eine aufgegebene Heimat zurückzukommen. Nie wieder brennen die Feuer, die einmal erloschen sind. Asche, nur Asche. Staub, nur Staub. Erde ...

Sie gingen zwischen den Feldern, ab und zu sagte Minna ein spärliches Wort: »Die Kartoffeln sehen gut aus. – Der Roggen müßte auch runter –«

Karl Siebrecht blieb stehen. »Minna!« sagte er. »Alte Minna, warum bleibst du bei den Leuten, die unfreundlich zu dir sind? Das hast du doch nicht nötig!«

»Du hättest mir gerne mal einen Brief schreiben können«, sagte sie hart. »Dann hätte ich eine Freude gehabt.«

Er schwieg schuldbewußt. Er hätte es wirklich tun können. Er hätte sogar häufiger schreiben können, für einen Brief wäre immer mal Zeit gewesen. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte nun einmal keine glückliche Hand im Umgang mit den Menschen, die er gerne hatte. Er war wohl nur ein Egoist! Nach einer Weile, während sie stumm weitergegangen waren, sagte er bedrückt: »Könntest du es wohl übers Herz bringen, zu mir nach Berlin zu kommen, Minna? Es geht mir jetzt recht gut. Und du könntest schön im Hause helfen. Du müßtest nicht ohne Arbeit sein, Minna.«

Sie sah ihn kurz von der Seite an. »Du hast mit dir selbst zu tun. Sieh nur, daß du selber zurechtkommst.«

»Aber es geht mir wirklich gut, Minna! Ich verdiene jetzt schönes Geld, und ich werde noch viel mehr Geld verdienen.« – Sie schwieg hartnäckig. Aber er spürte ihren Unglauben. Um sie zu überzeugen, sagte er: »Ich habe schon fünf Autos laufen, ich fahre nämlich Gepäck von den Bahnhöfen. Und fünf neue Autos sind schon bestellt!«

»Ach, red bloß nicht!« sagte sie kurz. »Du bist genau wie dein Vater: wenn der einen Bauauftrag bekam, rechnete er mir schon die Tausender vor, die er verdienen würde.«

»Aber es ist wirklich wahr, Minna! Komm nur hin, sieh es dir selbst an!«

Sie blieb stehen, plötzlich funkelten ihre alten Augen vor Zorn. »Du Aufschneider!« rief sie. Genauso ein Prahlhans wie dein Vater bist du! Die haben dich doch gesehen, Karl, nicht nur einer, vier, fünf Leute hier aus der Stadt haben dich gesehen! Mit einer Karre, in einer zerlumpten Jacke bist du in Berlin herumgelaufen, angebettelt hast du die Leute richtig, daß du ihre Koffer tragen dürftest! Ich habe mich ja so geschämt!«

Er schwieg überwältigt. Das hätte er sich ja eigentlich sagen können, daß ihn seine lieben Vaterstädter, die ja auch einmal nach Berlin kamen, dort sehen mußten und daß sie das Gesehene in der ganzen Stadt weitererzählen würden, vergröbert, entstellt, auch böswillig verleumdend. Und die alte Minna hatte das alles gehört, sie hatte es geglaubt und sich zu Herzen genommen. Wenn er jetzt in seinem schönen Schneideranzug als gemachter Mann neben ihr herging, so glaubte sie kein Wort davon. Das war alles nur Prahlerei, wie das Zurückschicken des Geldes Prahlerei war, er bekam es gerade zu hören:

»Wenn du Geld brauchst, ich will dir gerne die zweihundertfünfzig wiedergeben. Und tu mir die Liebe, Karl, erzähl nichts von den fünf Autos und all das Zeug. Es glaubt dir ja doch kein Mensch ein Wort, und mich narren sie damit, wo sie mich nur sehen!«

Es war das alte Lied vom Propheten, dem überall geglaubt wird, nur nicht in seinem Vaterland. Es war die Klatschsucht, die Ungläubigkeit der engen Welt: der Vater hatte es zu nichts gebracht, warum sollte es der Sohn zu etwas bringen? Sie kannten ja die ganze Familie. Zorn erfüllte ihn. In Berlin konnte er kommen, wohin er wollte, man hörte ihn an, man prüfte, was er leistete. Hier war er von vornherein abgetan, er konnte leisten, was er wollte. Sein Vater hatte ja einmal Bankrott gemacht! Er hielt inne, er besann sich. Jetzt haßte er schon die Heimat, die er noch vor wenigen Stunden so sehnsüchtig herbeigewünscht hatte. Haßte er etwa auch Minna? Auch Minna dachte und fühlte wie alle hier ... »Minna«, sagte er. »Sei ganz ruhig, ich werde mit keinem von den Leuten hier ein Wort über meine Angelegenheiten reden. Ich werde auch keinen um Geld bitten, ich brauche kein Geld. Ich kann in Berlin soviel Geld kriegen, wie ich will.« Das hätte er wieder nicht sagen dürfen, obwohl es der Wahrheit entsprach. Er sah es sofort an ihrem Gesicht. »... Das mit der Karre ist wahr. Aber ich habe mir anständig damit mein Geld verdient, ich habe nie einen Menschen angebettelt, das ist gelogen. Du weißt es ja auch, wie die Leute hier klatschen. Das alles ist aber schon lange her. Zuerst habe ich mit einem Karren Gepäck gefahren, dann mit Pferden, und jetzt fahre ich es mit Autos. Wenn einmal einer von deinen Leuten nach Berlin kommt, dann soll er sich auf dem Stettiner Bahnhof nach einem gelben Lastauto umsehen. An dem hängt ein Schild: ›Berliner Gepäckbeförderung Siebrecht & Flau‹. Und der Siebrecht bin ich!« Er zeigte mit dem Daumen auf seine Brust.

Die alte Minna sah ihn aufmerksam an. In ihrem hölzernen Gesicht bewegte sich kein Muskel.

»Es ist mir ganz egal«, fuhr er fort, »was die Leute hier von mir schwatzen. Aber du mußt mir glauben. Ein Mensch in der alten Heimat muß doch an mich glauben, Minna! Nein, ich bin wirklich nicht wie der Vater, ich bin eher zu hart. Wenn ich Schwierigkeiten habe, kommen sie dadurch, daß ich zu hart bin. Ich könnte dir jetzt sagen, daß ich dir alle Monate Geld schicken will. Ich könnte es, es täte mir nicht mehr weh. Aber ich weiß, du würdest es doch nicht nehmen. Darin sind wir gleich, wir mögen uns beide nicht gerne etwas schenken lassen. Aber ich will dir nun fest versprechen, daß ich dir schreibe, nicht häufig, aber dann und wann. Und wenn du einmal zwei oder drei Tage frei hast, dann besuchst du mich und lernst meine Freunde kennen: den Kalli und die Rieke.«

»Hast du denn schon ein Mädel, Karl?«

Er lachte. »Nein, Minna, dafür habe ich noch keine Zeit gehabt, und dafür werde ich auch noch lange keine Zeit haben. Ich muß immer arbeiten. Ich will sehr viel erreichen. Die Rieke ist meine Freundin, so wie du meine Freundin bist, Minna.«

»Ist sie denn auch alt?«

»Nein, sie ist ganz jung, erst achtzehn. Aber das hat wohl nichts damit zu tun, Minna!«

»Nein, wohl nicht«, sagte sie, ein wenig verlegen und ein wenig ungläubig. Sie blieb stehen, nahe vor ihnen lag das Städtchen. »Ich will dann zurück. Es wird Zeit fürs Schweinefüttern. Mach's weiter gut, Karl!« Sie streckte ihm ihre harte Hand hin.

»Ach, Minna!« rief er. »Glaubst du mir denn wenigstens?!«

»Mein Jung, mein Jung«, sagte sie, und plötzlich zitterten die Lippen in ihrem alten Gesicht. »Ich seh doch, du wirst ein feiner Mann, ein richtiger Herr. Was brauchst du noch die alte Minna? Ich bin doch bloß ein Dienstbote!« Plötzlich hatte sie seinen Kopf zwischen den Händen: »Ach, wenn du doch noch einmal klein wärst, Karl! Daß ich dich abküssen könnte wie früher –«

»Küß doch zu, Minna, küß doch – für dich bleibe ich immer der Karl!«

Er sah ihr nach, wie sie den Weg zwischen den Äckern entlangging. Sie ging sehr gerade, aber ihr Rücken war rund. Sie ging von ihm, ohne sich noch einmal umzusehen. Er wußte, sie würde ihn nie in Berlin besuchen, er ahnte, er würde sie nie wiedersehen. Er fühlte, mit ihr ging der letzte Mensch, der ihn an die alte Heimat band. Minna war hinter einer Wegbiegung verschwunden – er setzte sich auf einen Stein und sah auf die abendliche Stadt, voller Feindschaft. Morgen mittag spätestens fahre ich wieder, sagte er zu sich.


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