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Zweites Buch
Der Mann

Vierter Teil.
Friederike Siebrecht

59. Mahnung an ein Versprechen

Es ist die Schneiderstube in der Eichendorffstraße, die Arbeitsstube, mit der Engländerin und dem großen, glatten Schneidertisch, dessen Holzplatte grauschwarz ist.

Es scheint noch immer die alte Schneiderstube zu sein, obwohl über fünf Jahre vergangen sind, denn nun schreiben wir 1919, den 2. Dezember 1919. Aber vier Kriegsjahre und ein Jahr Waffenstillstand sind nicht spurlos an dieser Stube vorübergegangen: die Gardinen sind nur noch Fetzen, die Dielen sind ohne Farbe, die Tapeten schmutzig und zerrissen, eine zerbrochene Scheibe ist durch ein Stück Pappe ersetzt. Auch an der Bewohnerin, auch an Friederike Busch, sind diese Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Das nun dreiundzwanzigjährige Mädchen ist sehr groß und überschlank. Das Gesicht ist erschreckend blaß und so mager, daß nur noch Haut über den Backenknochen zu liegen scheint. Sie steht am Fenster und versucht, im letzten Licht des Dezembertages in einer Zeitung zu lesen. Ihr Rock ist erstaunlich kurz, und die hellen Haare trägt sie jetzt als Bubikopf.

Nun klopft es kurz gegen die Tür, und herein tritt Kalli Flau. Auf den ersten Blick scheint er unverändert, aber der feste Mund, das vorgeschobene Kinn, der härtere Blick, die graue Gesichtsfarbe verraten, daß auch für ihn die vergangenen Jahre schwer waren. Er trägt eine Lederjacke und eine formlose, oft entlauste und verwaschene feldgraue Hose. »Na, Rieke?« fragt er. »Was zu essen da?«

»Die Wrucken von jestern«, antwortete sie.

Er verzieht das Gesicht. Dann entschließt er sich. »Na, schön«, sagt er. »Aber streu mir ordentlich Pfeffer drauf, Rieke, die müssen aussehen, als wenn's geschneit hätte. Nur nicht schmecken, das Dreckzeug!«

Rieke schiebt die Lumpen auf dem Schneidertisch zusammen, so daß eine Ecke frei wird, stellt zwei Teller und eine Schüssel hin und sagt dabei: »Ick eß 'nen Teller mit, zu zweien rutscht's doch besser.«

Kalli Flau betrachtet sie prüfend. »Sicher hast du heute noch nichts gegessen, das muß anders werden, Rieke!«

»Det saren wa seit fünf Jahren, Kalli, und der Mist wird imma jrößa.«

Eine Weile essen sie schweigend. Dann fragt Kalli, indem er mit dem Kopf auf die Zeitung deutet: »Was macht der Dollar?«

»Vierundvierzigeinviertel«, antwortet sie.

»Wieder zwei Mark schlechter!« sagt Kalli. »Ich muß mit der Taxe höher. Der Benzinpreis steigt auch immer gleich.«

»Denn wird bald keena mehr in deine Taxe fahren.«

»Genug! Ausländer und Schieber und Nutten – von denen gibt's so viele, ich hab genug zu fahren, Rieke! Immer von einem Nachtlokal ins andere! Immer von einem Spielklub in den anderen! Immer von einem Nackttanz zum anderen! Es war ein Schweinedusel, daß ich die Autotaxe noch kaufen konnte!«

»War's«, gibt Rieke zu. »Sonst wären wa schon längst vahungert wie Vata. Den hat die Jrippe ooch bloß so schnell umjekippt, weil er nischt im Leibe hatte.«

Wieder essen sie schweigend. Dann fragt Kalli: »Steht sonst noch was in der Zeitung?«

»Ja – aber det willste doch nich hören, Kalli!«

»Wieder was von den Kriegsgefangenen?« – Sie nickt nur. Nach kurzem Zögern sagt er: »Du kannst's mir ruhig erzählen, Rieke, ich will bloß nicht, daß du dir was einbildest.«

Zum erstenmal wird Friederike Busch lebhafter: »Ich bild mir schon nischt ein, Kalli! Davon hat mir mein Leben kuriert, von die Inbildung! Aber ick weeß det, Kalli, hier drinnen weeß ick det«, sie legt die Hand auf die Brust, »der Karle lebt noch. Der Karle, der kommt wieda!«

Kalli Flau wirft einen kurzen Blick auf sie. Dann sagt er, was er ihr schon hundertmal gesagt hat: »Das sind nun schon über drei Jahr, daß Karl als vermißt auf der Verlustliste stand. Und nie hat er auch nur ein Wort geschrieben!«

Hastig ruft Rieke: »Zu wat sagste det denn? Det bedeutet jar nischt! Vajangene Woche is erst einer aus Sibirien wiedergekommen – bei die Voß in der Schlegelstraße, du kennst ihr nich, der war sogar vier Jahre fort und nie nich een Wort von ihm! Und nu is er doch zu Hause!«

Beruhigend sagt Kalli: »Sibirien, das ist Rußland, Rieke, in Rußland haben sie Revolution gemacht, da ist alles möglich. Aber Karl war in Frankreich, und in Frankreich herrschen geordnete Zustände.«

»Jeordnete Zustände nennste det?« ruft Rieke wild. »Is det etwa jeordnet, wenn der Clemenceau unsre Männer noch imma festhält?«

»Nein«, sagte Kalli. »Das ist es nicht. Und den Clemenceau, wenn wir den hier hätten ...! Aber, Rieke ...« Kalli Flau ist jetzt aufgestanden und steht neben ihr. Er hat sanft seine schwere Hand auf ihre Schulter gelegt. »Aber vermißt ist nicht kriegsgefangen. Er hat drei Jahre kein Wort geschrieben.«

»Wo ick et fühle, Kalli! Ick fühle et doch! Karle lebt –!«

»Du fühlst, weil du hoffst, und du hoffst, weil du es nicht glauben willst. Aber, Rieke, du kannst nicht dein ganzes Leben verhoffen. Du mußt dich daran gewöhnen, daß –« Er bricht ab. Sie hat den Kopf gesenkt, jetzt antwortet sie nicht. Sie weiß, was jetzt kommt, und sie hat nicht die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Kalli Flau fragt sanft: »Du weißt doch, was du mir versprochen hast, Rieke? Es sind nur noch zweiundzwanzig Tage bis Weihnachten ...« Sie sitzt bewegungslos unter seiner Hand. Mit keinem Zeichen verrät sie, daß sie seine Worte hört. Er sieht auf ihren gesenkten Scheitel, dann fällt sein Blick auf den Schneidertisch. »Da liegt noch immer das rote Kleid von der Ägidi«, sagt er, »daß du schon vorige Woche abliefern wolltest. Du hast keinen Stich daran getan. Du hast die Tilda aufs Land zu Tante Bertha geschickt – wir hätten sie hier auch noch satt gekriegt. Aber du willst gar nichts mehr tun, Rieke, du willst nur noch sitzen und warten und hoffen ...« Sie regt sich noch immer nicht. Sie, die sonst so lebendig und tatkräftig war, empört sich nicht unter seinen Worten. »Wir haben den Krieg verloren«, fährt er langsam fort. »Jeder hat viel verloren, auch ich, den besten Freund ... Aber müssen wir darum zugrunde gehen? Muß darum alles zugrunde gehen? Es gibt so viel Arbeit!« Er hat das rote Kleid unter dem Wust anderer Stoffe hervorgezogen und sieht es einen Augenblick gedankenvoll an. Dann hängt er es vorsichtig über die Nähmaschine. Er sagt: »Weiß Gott, daß ich dir das Versprechen nicht um meinetwillen abgenommen habe.« Er spricht immer leiser. »Ich habe dich von allem Anfang an geliebt, und ich weiß, daß du mich nicht ...« Wieder unterbricht er sich. Dann sagt er entschlossen: »Es ist nicht um meinetwillen. Es ist nicht deswegen. Sondern du mußt aus diesem Grübeln und vergeblichen Hoffen heraus. Du mußt ein ganz neues Leben anfangen, Rieke, noch einmal von vorne. Du mußt was zu tun haben, was du eben tun mußt, Rieke. Vielleicht bekommen wir bald ein Kind ...«

Jetzt hebt sie den Kopf und sieht ihn von unten her an. »Een Kind?« fragt sie. »Wozu? For det Elend?«

»Aber das Elend ist nicht ewig, Rieke! Es war einmal nicht, und es werden Zeiten kommen, wo es nicht mehr sein wird! – Nein, bis Weihnachten warte ich noch, und dann heiraten wir, Rieke. Länger sehe ich mir das nicht mehr an. Ich habe dein Versprechen.«

»Det haste!« sagt sie. Und: »Noch zweeundzwanzig Tage ...«

Er will etwas erwidern, aber er besinnt sich. Er zieht langsam seine Fahrerhandschuhe an. »Gleich sechse!« sagt er. »Zeit für die Theaterfuhren. Ich zieh denn ab, Rieke.« Mit erhobener Stimme: »Ich gehe jetzt, Rieke, hörst du?«

»Ja doch, Kalli!« Sie hebt den Kopf und versucht, ihn mutig anzusehen. »Hals und Beinbruch, Kalli! Und een reicher Ausländer, der dir 'nen Dollar Trinkgeld schenkt!«

»Könnten wir brauchen, Rieke. – Hör mal, Rieke, willst du dir nicht Mühe geben, heute noch das rote Kleid fertigzumachen?«

»Ja, Kalli.«

»Komm, setz dich gleich an die Maschine, die Ägidi ist sicher schon fünfmal deswegen hiergewesen.«

Sie hat sich gehorsam an die Maschine gesetzt. »Schon zehnmal, fuffzehnmal! Du hast recht, es is 'ne Affenschande mit mir, Kalli!«

Er nickt ihr freundlich zu. »Näh gleich los, Rieke!« sagt er. »Wenn ich weggehe, möchte ich deine Maschine schnurren hören.«

»Na, schön, Kalli ...« antwortet sie und fängt an zu treten.

Er sieht ihr einen Augenblick zu, dann entfernt er sich auf Zehenspitzen und schließt die Tür so leise, daß sie sein Gehen nicht merkt. Aber sie denkt wohl schon nicht mehr an ihn. Sie näht noch, aber sie näht immer langsamer. Die Pausen dazwischen werden immer größer. Dann greift sie auf den Tisch hinter sich und nimmt ein Stück Schneiderkreide. Sie fängt an, Strich um Strich vor sich auf die Maschine zu malen. Sie zählt sie nach, sie nickt. »Zweeundzwanzig«, sagt sie laut. Nun fängt sie an, die Striche einen um den andern mit dem Finger auszulöschen, erst schnell, dann immer langsamer ... Als der letzte Strich ausgelöscht ist, sagt sie halblaut in die leere Stube hinter sich: »Zweeundzwanzig – det is ville zu kurz, Kalli, det kann ick nicht. Jibste noch eenen Monat zu, wat?« Sie horcht, dann, als keine Antwort kommt, dreht sie sich um. Sie sieht, daß sie allein ist, mutterseelenallein. »Kalli ...« sagt sie noch hilflos. »Karle ...« Dann wirft sie den Kopf vornüber auf die Maschine, sie verbirgt ihr Gesicht in dem roten Kleid der Ägidi. Sie weint hoffnungslos.


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