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82. Der Mann mit dem Traum

Es war Juni. In sanftem Grün lag das Land zu den Füßen der beiden, die am Saume eines Waldes lagen. Mit Wäldern und Feldern zog es sich dahin, als tanzte es sacht unter diesem blauseidenen Himmel, der wie ein Hochzeitszelt war. Von den Wiesen im Grunde drang das Wetzgeräusch der Sensen zu ihnen empor, weiterhin sahen sie am weißlichen Band der Straße den Hof liegen, von dem sie emporgestiegen waren.

»Was für ein schönes Land, dieses Westfalen!« sagte der Mann und drückte leise die Hand des Mädchens, die er mit der seinen umschlossen hielt! »Was für ein herrlicher Tag!«

Sie erwiderte den Druck nicht. Auch sie sah hinaus in das Land, die Straße entlang, aber als suchte sie etwas, als erwarte sie jemand. Dann wandte sie ihm voll ihren Blick zu, der nicht lächelte wie der seine, und sagte: »Und du willst von alldem fortgehen! Es ist dein letzter Tag!«

»Ja, es ist unser letzter Tag«, antwortete er sanft, und wieder drückte er ihre Hand.

Diesmal erwiderte sie den Druck, sie drückte seine Hand so stark, daß es schmerzte. »Es muß aber nicht sein ...« sagte sie leise.

»Doch, es muß sein ...« antwortete er sanft und löste seine Hand.

Sie sagte leidenschaftlich: »Hier wurdest du gesund. Hier warst du ruhig und glücklich. Seit du wieder an die Stadt denkst, bist du voller Unruhe! Was willst du in Berlin? Was kann dir Berlin geben, das wir hier dir nicht geben können? Was hast du in Berlin verloren?«

»Alles!« sagte er. »Gerti, alles!«

Er betrachtete nachdenklich seine Hände. Während seiner langen Krankheit waren sie weiß und weich geworden, sie sahen so verändert aus, daß er sie neugierig ansah, als seien es fremde. Dann fiel ihm auf, daß der Ringfinger der rechten Hand leer war, er runzelte im Nachdenken die Stirn, da sagte sie schon hastig: »Du warst so mager geworden, Karl, der Ring fiel immer ab. Ich habe ihn dir aufgehoben, ich gebe ihn dir nachher.«

Er nickte ihr zu, er sagte: »Danke schön, Gerti. Manchmal ist mir, als wäre alles Frühere nur Traum, mühsam muß ich mich erinnern ...«

»Warum läßt du es nicht Traum sein?« fragte sie eindringlich. »Warum mußt du zurück? Du weißt, du kannst bleiben, Karl. Die Eltern wären einverstanden, und ich würde dich nie etwas fragen.« Sie schwieg einen Augenblick, betrachtete ihn, der mit einem halben Lächeln vor sich hinsah. Noch dringlicher sagte sie: »Ich weiß viel mehr von dir, Karl, als du glaubst, du hast so viel geredet in den ersten Fieberwochen. Mit dir und mit anderen. Mit deiner Frau und deinem Freund Kalli. Ich weiß, daß du keine Frau mehr hast und keinen Freund, daß du dort ganz allein bist in der großen häßlichen Stadt! Warum willst du nicht hierbleiben in diesem schönen Land, bei mir?«

Er lächelte nicht mehr, als sie geendet hatte, er sah sie voll an, er gab ihr beide Hände. »Gerti«, sagte er, »ich war noch ein Junge, als ich das erstemal in die Stadt kam. Ich hatte einen Traum geträumt, ich wollte mir diese Stadt erobern. Bisher hat die Stadt mich erobert. Ich gehöre ihr. Ich kann nirgends leben als in ihr. Und nun ich ein Mann geworden bin, muß ich sehen, daß ich wenigstens ein Stück meines Traumes zur Wahrheit mache. Alles andere, alle, die einst mit mir gelebt haben, sind nur Schatten, das Lebendigste in mir ist mein Traum. Ein Mann muß nach seinem Traum leben, nach dem Stern, den er in sich trägt – bliebe ich hier, ich wäre ein Mann ohne Traum und Stern, es würde nur ein vertanes Leben!«

»Aber wovon träumst du?« fragte sie eindringlich. »Ich verstehe dich nicht. Niemand hat je in diesem halben Jahr hier nach dir gefragt, nicht deine Kameraden, die dich in jener Winternacht in unser Haus trugen, nicht dein Freund, nicht deine Frau. Niemand scheint dich zu vermissen –«

Er nickte nur: »Nein – niemand.«

»Und die Stadt selbst – glaubst du denn, daß die Stadt dich vermißt? Was träumst du denn für einen Traum, der dich aus der Ruhe und dem Glück in Unruhe und Einsamkeit reißt?«

Er hatte ihre Hand zwischen seine Hände genommen, wie einst trennte er spielerisch ihre Finger und legte sie wieder zusammen. »Ich träume einen sehr seltsamen Traum, Gerti«, sagte er, und obwohl er bei seinen Worten lächelte, fühlte sie, daß er ganz ernst war. »Ich träume davon, daß ich die Koffer der Reisenden in der Stadt Berlin auf die schnellste, sicherste und billigste Weise befördern will. Das ist mein großartiger Traum ...«

Als sie ihm unwillig ihre Hand entziehen wollte, sagte er ernster: »Werde doch nicht ungeduldig, Gerti, ich spreche im Ernst. Niemand hat mich je verstehen können – versuch du es doch. Ich habe nun eben keinen anderen, glänzenderen Lebenstraum. Wie ich zu ihm gekommen bin, ich weiß es nicht mehr. Aber er ist nun einmal da in mir. Andere träumen vielleicht davon, daß sie große Generale werden oder herrliche Bilder malen oder daß sie einen Hof wie den deinen noch musterhafter bewirtschaften – ich habe nun einmal keinen anderen Traum als diesen von den Koffern ...«

Einen Augenblick schwieg er, dann sagte er, und jetzt lächelte er wieder: »Es ist sicher kein großer Traum, aber ich bin auch kein großer Mensch. Und wenn ich vergleiche, wenn ich daran denke, wie einer sein Leben damit verbringt, Farben in einer bestimmten Art auf Leinewand aufzutragen, so finde ich meinen Traum gar nicht so schlecht. Ich bin zufrieden mit ihm. Aber ich finde es nun an der Zeit, daß ich ernsthaft anfange, ein Stück dieses Traumes in die Wirklichkeit umzusetzen. Für den Traum in der Brust kann niemand etwas, aber für die Art, wie er ihn pflegt, vieles. Ich habe viel Zeit versäumt, Gerti ...«

Sie sagte langsam und traurig: »Ich verstehe von alledem so wenig, Karl. Ich verstehe nur, daß ich dich nicht halten kann. Aber so recht habe ich nie daran geglaubt, daß du dich halten läßt, im Innern habe ich nie daran geglaubt.« Sie stand hastig auf und strich ihren Rock glatt. »Das Auto des Doktors!« sagte sie und deutete mit dem Kopf nach der Straße unten. »Er wollte doch auch von dir Abschied nehmen. Komm, Karl.«

»Einen Augenblick noch, Gerti«, bat er. »Der Doktor kann warten, er schwätzt zu gern mit deiner Mutter und trinkt dazu einen westfälischen Korn. – Jetzt will ich dich auch etwas fragen: könntest du dich wohl entschließen, mit mir mitzukommen?« Er sagte hastiger: »Es braucht nicht gleich zu sein, ich werde einen Anfang machen, ich werde lösen, was schon lose ist, ich werde ein wenig aufbauen – und dann hole ich dich. Was meinst du dazu, Gerti?«

»Komm!« sagte sie. »Wir wollen den Doktor auch nicht zu lange warten lassen. – Nein«, sagte sie dann im Weitergehen, »ich kann hier nicht fort. Ich bin die einzige, und der Hof hängt an mir. Es bräche meinen Eltern das Herz, wenn ich fortginge, und es bräche wohl auch mir das Herz, wenn ich in der Stadt Berlin leben müßte. Dort könnte ich nie glücklich sein.«

»Aber hier bist du glücklich gewesen, Gerti, diese Zeit?«

»Ja, hier bin ich sehr glücklich gewesen, Karl.«

Sie waren in dem kleinen Buschgarten, sie warf sich in seine Arme, lange hielten sie sich so. Dann sagte sie: »Versprich mir eins, Liebster!«

»Ja –?« fragte er.

»Laß dich gleich vom Doktor mit zur Bahn nehmen – wir wollen nicht noch einmal Abschied nehmen. Dies ist unser Abschied.«

»Ja«, flüsterte er. »Ja.«

Wieder hielten sie sich lange, und wieder flüsterte sie: »Du mußt mir noch eins versprechen, Karl: du darfst mir nie, nie schreiben, du mußt mich ganz vergessen.« Sie lächelte unter Tränen. »Nein, vergessen sollst du mich nicht, aber du darfst mir nie schreiben. Diese Tage sollen so bleiben wie der Tag heute, ganz klar. Riechst du, wie das Heu von der Wiese her duftet? Immer, wenn sie das Gras mähen werden in den Jahren, die kommen, werde ich an diese Tage denken. Vergiß auch du sie nicht ganz, Karl!« Und ehe er sich noch hatte besinnen können, hatte sie sich aus seinem Arm frei gemacht und war verschwunden.


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