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16. Die Nähmaschine

Vor dem Geschäft von Hagedorn hatten sie sich verabredet. Rieke Busch war auch darin bereits ganz eine erwachsene Frau: sie ließ Karl Siebrecht warten. Eine Weile hatte er nach ihr ausgeschaut, ob er nicht ihre schnelle, helle Gestalt im Gewühl der Weihnachtskäufer entdecken könnte. Aber sie kam nicht, sie kam noch immer nicht, und er hatte sich nur schwer auf der Zeichenstube von Herrn Feistlein freigebeten! Die Leute lachten. Mit Paketen beladen, drängten sie in einem endlosen Strom an ihm vorüber, eilig ausschreitend, denn es fror. Wenn sie lachten, flog eine Wolke Dampf aus ihrem Munde. Aber geschneit hatte es noch nicht, nun, dafür war noch Zeit. Es waren immer noch fünf Tage bis zum Heiligen Abend.

Sie kam noch immer nicht, und Karl Siebrecht wandte sich der Betrachtung der Hagedornschen Schaufenster zu. Es gab deren zwei, eines rechts, das andere links von der Ladentür. In dem rechts waren nur Nähmaschinen aufmarschiert. Es gab deren von allen Arten, riesengroße, deren stumpfes Schwarz nur von wenig glänzendem Nickel aufgehellt war, und ganz kleine, mit einem Rädchen an der Seite, mit der Hand zu drehen. Diese waren mit vielen bunten Bildern und Kanten geschmückt, aber alle, die großen wie die kleinen, waren nach den an ihnen befestigten Schildern »prima primissima« oder auch »einfach pyramidal«, »pryramidale Erfindung der Neuzeit«. Und jede einzelne war leicht zu erwerben: »Bequeme Ratenzahlung ganz nach Ihrem Belieben!« Karl Siebrecht versuchte die Maschine zu entdecken, auf die Rieke ihr Wünsche gerichtet hatte. Zweihundertsechzig Mark sollte sie kosten, er wußte es noch gut. Aber von Preisen war im Schaufenster nichts zu sehen. Karl Siebrecht wandte sich der Betrachtung des Schaufensters links von der Ladentür zu. Es schien ihm wesentlich interessanter, denn hier gab es Fahrräder zu sehen. Natürlich konnte er radeln, aber er hatte es nie zu einem eigenen Fahrrad gebracht, er hatte immer nur Vaters, auf hundert Baustellen leiderprobtes Rad benutzen dürfen. So sah er sich denn Rad für Rad aufmerksam an – die Zeit wurde ihm nicht lang. Rieke konnte ruhig noch eine Weile ausbleiben! Er nahm sich vor, nachher im Laden nach den Preisen und Zahlungsbedingungen von Rädern zu fragen. Es würde großartig sein, in die Zeichenstube mit einem Rad fahren zu können. Mit einem Rade würde er Berlin, diese Anhäufung vieler Städte, erst richtig kennenlernen. Er war bisher kaum über die paar Hauptstraßen, durch die ihn sein Weg führte, hinausgekommen. Und er mußte jede Ecke von Berlin kennen, von dieser Stadt, die er eines Tages erobern würfle. Er seufzte schwer ...

»Junger Mann, det is aber nich det richtige Fenster!« sprach Riekes helle Stimme neben ihm. Sie hatte schon eine Weile dagestanden, war seinem Blick gefolgt und hatte seinen Seufzer gehört. »Und nun kommste und siehst meine Maschine an! Ick weeß, Karl, ick bin zu spät dran, ick konnte nich anders. Se haben Vata'n jebracht, er is von der Leiter jefallen, natürlich molum! Hat sich nich ville jetan, 'ne Brüsche an de Stirn und de Hand verstaucht.«

»Das is aber schlimm, Rieke!«

»Wieso is det schlimm? Mit's Mauern wär's doch bei dem Frost jeden Tag alle jewesen, und nu ha ick den Mann doch unter Aufsicht. Die Männa, wo ihn jebracht haben, sagen ja, keena hat Vata'n zu Schnaps injeladen, nie nich. Aber det muß nich wahr sind, jegen 'ne Frau halten die Männa bei so wat immer zusammen. Na, nu ha ick Vata'n zu Haus, und nu wer ick ihn det Saufen schon wieder abjewöhnen. – Kiek, det is meine Nähmaschine.« – Und sie zeigte auf eine ziemlich große schwere Maschine, die kaum Schmuck aufwies, ein sehr sachliches Ding für so ein junges Mädchen, dachte Karl Siebrecht.

»Die sieht aber viel zu schwer für dich aus, Rieke!« meinte er. »Willst du nicht lieber eine leichtere nehmen? Die da links sieht doch viel hübscher aus.«

»Det is doch nischt für schwere Mantelstoffe, Karl! Na, laß man, dadervon verstehste nischt. Laß mir man machen. Komm rin, Karl. – Sage mal, det macht dir doch wirklich nischt aus, wenn ick sare, du bist mein Bruda? Karl Busch mußte dir unterschreiben, vajiß nich!«

»Wenn es sein muß ... Aber vielleicht geht's auch so. Da steht ja: Ratenzahlung ganz nach Ihrem Belieben.«

»Dadruff mußte nischt jeben, Karl! So wat schreiben die immer. Det is bloß, damit se eenen erst in den Laden kriegen, und denn reden se eenen doof und dußlig. Aba laß se, mir sollen se nich for dumm verkoofen.«

Das Weihnachtsgeschäft schien weder in Nähmaschinen noch in Fahrrädern sehr lebhaft zu sein. Rieke Busch und Karl Siebrecht, nein, jetzt Karl Busch, waren die einzigen Kunden und wurden sofort bedient von Herrn Hagedorn und von seiner Frau, einer kleinen, dicken Alten. »Diese Nähmaschine? Aber Frollein haben einen Blick, die beste Maschine, die ich auf Lager habe! Echt englisches Fabrikat, durch und durch englisch! Unter uns, Fräulein, die deutschen Maschinen taugen alle nichts! Aber das wissen Sie besser als ich! Nicht wahr, Mieze, das Fräulein hat den Blick –?« Frau Mieze Hagedorn sah Rieke nur noch mürrischer an. »Aber nun, Mieze, zeig dem Fräulein mal die Bedienung!« Er schob seine Frau schon wieder weg. »Das ist das Schiffchen. Frollein, sehen Sie das Schiffchen? Echt englisch! Rundschiffchen! Nicht die Langschiffchen wie bei den deutschen Maschinen! Und wenn Sie nun spulen wollen – Mieze, zeig dem Frollein doch das Spulen –!«

»Det weeß ick allens alleene«, sagte Rieke unerschüttert. »Reden Se sich bloß nich in Brand, Männecken. Wat soll denn die Maschine kosten?«

»Ach, kein Geld, kein Geld! Echt englisch, Sie müssen das bedenken, Frollein, die Zölle! Die Zölle fressen einen ja auf! Eine deutsche Maschine wie die da ist natürlich zwanzig Taler billiger! Mieze, rück doch mal die andere Maschine vor!«

»Lassen Se man, junge Frau, ick weeß schon, wat ick haben will. Wat soll die Maschine kosten? Nu mal ernsthaft!«

»Aber versuchen Sie doch mal, Frollein! Hören Sie bloß mal den Unterschied! Wie laut die näht – da hören Sie gar nichts bei der Engländerin! Mieze, hol doch mal ein Stück Stoff, das Frollein möchte Probe nähen!«

»Se sollen mir saren, wat die Maschine kostet, oder ick jehe bei die Konkurrenz!« Rieke hatte sehr entschlossen gesprochen, sie ging schon auf die Ladentür zu.

»Geschenkt!« rief Hagedorn eilig. »Ich verschenk die Maschine, so wahr ich hier stehe, Frollein! Neunzig Taler, weil Sie es sind, Frollein! Es ist meine letzte englische Maschine, ich sollte sie gar nicht weggeben –«

»Neunzig Taler!« rief Rieke. »Denken Se, ick bin Ihr Affe? Zu meina Mutta –« triumphierender Blick auf Karl Siebrecht – »haben Se am Montag gesagt, se kostet zweihundertfuffzig! Und nu neunzig Taler! Se denken wohl, ick bin ein Kind, det Se schaukeln können?«

»Aber, Frollein, Frollein!« Herr Hagedorn war ganz entsetzt. »Hier muß unbedingt ein falscher Irrtum vorliegen! Die Maschine hat immer neunzig Taler gekostet. Ich kann Ihnen Rechnungen zeigen ...«

»Nu zeijen Se doch!« lachte Rieke ganz ungerührt. »Zweihundertfuffzig, und denn uff Raten, hundert an und der Rest fünf Mark de Woche.«

»Und dann noch auf Raten!« rief Herr Hagedorn. »Nein, an dem Geschäft verlier ich nur –«

»Also denn juten Abend!« sagte Rieke entschlossen und faßte nach der Klinke der Ladentür. »Denn jeh ick ebent zur Konkurrenz! Komm, Karle!«

»Einen Augenblick, Fräulein!« rief plötzlich die dicke kleine Frau Hagedorn. Sie wandte sich zu ihrem Mann und flüsterte eilig mit ihm. Er schien zu widersprechen, die Frau überredete, schalt dann ...

»Du, die hat was vor«, flüsterte Siebrecht zur Rieke. »Wollen wir nicht doch lieber zu einem andern gehen?«

»Wat soll die denn vorhaben? Hauptsache, ick krieje die Maschine so, wie ick se will!«

Frau Hagedorn hatte gesiegt. Sie hatte einen engbedruckten Bogen mit dem Abzahlungsvertrag vor sich hingelegt und sagte mürrisch: »Also meinetwegen, Fräulein, wir wollen mal 'ne Ausnahme machen. Was ist denn Ihr Vater?«

»Maurer.«

Klagend rief Herr Hagedorn: »Das ist auch kein Beruf bei dem Wetter!«

Seine Frau warf ihm einen verweisenden Blick zu und fragte weiter: »Und was ist die Mutter? Aufwartefrau? Warum kommt die denn nicht selber? So, sie ist krank, sie hat dich geschickt –?«

Wieder rief er: »Dann kann sie ja auch nicht nähen, dann hat es ja Zeit mit dem Vertrag!«

Und streng sagte sie: »Jetzt biste mal stille, Max!« Und zu Rieke: »Ja, deine Mutter muß aber unterschreiben!«

Rieke bat fast: »Det jeht doch ooch, det ick for ihr unterschreib? Wo se's mir extra uff jetragen hat!«

»Wie alt bist du denn? Sechzehn? Du siehst aber nich wie sechzehn aus.«

»Und det is mein Bruder«, fuhr Rieke hastig fort. »Der is anjestellter Bauzeichner bei Kalubrigkeit und Co., 'ne janz jroße Firma.«

»Nie gehört!« rief Hagedorn aus dem Hintergrund. »Diese Baufirmen verkrachen alle Tage, und denn sitzt so einer auf der Straße!«

»Stille biste!« rief die Frau wiederum. »Also, denn unterschreiben Sie – hier Frau Busch, da Ihr Vater, der Maurer Busch.« Und Frau Hagedorn ging vom Schreibtisch fort zu ihrem Mann.

»Rieke!« flüsterte Karl Siebrecht flehend. »Unterschreib nicht. Laß uns gehen. Die legen uns nur rein!«

»Aba wie können die uns reinlejen, Karle?« fragte Rieke bittend. »Wa wollen doch pünktlich bezahlen und können's doch ooch. Laß mir jetzt nich sitzen, Karle!«

»Es ist nicht richtig, Rieke«, flüsterte Karl wieder und zögerte doch schon unter ihrem flehenden Blick. »Man soll so was nicht tun, wir fallen rein!«

»Wie können wa rinfallen, Karle? Wa haben doch dein Sparbuch, wenn wirklich wat schiefjeht! Karl, blamiere mir nich for die Leute, wo ick soviel jequasselt habe!«

»Aber lesen möchte ich doch erst mal, was da gedruckt steht«, sagte Karl Siebrecht und griff nach dem Blatt.

»Lesen Sie man, junger Mann«, sagte der Händler gleichgültig. »Wegen Ihnen drucke ich doch keine andern Bedingungen im Abzahlungsgeschäft.«

»Hör mal zu!« rief Karl Siebrecht aufgeregt. »Da steht, Rieke, daß die Maschine sofort zurückgeht, wenn wir eine Wochenrate im Rückstand bleiben, und daß dann auch alles bereits Bezahlte verfällt.«

»Das ist so üblich«, sagte Herr Hagedorn plötzlich wieder eifrig. »Das unterschreiben alle, das muß auch so sein! Ich kriege doch keine neue Maschine zurück. Und Sie wollen die Raten doch pünktlich zahlen, da kann Ihnen so 'ne Bedingung doch ganz egal sein.«

»Natürlich!« sagte Rieke und schrieb schon. Halt! hatte Karl Siebrecht noch einmal rufen wollen, aber es war schon zu spät. Zögernd stand er da, den Halter in der Hand, eine Unruhe in der Brust warnte ihn. Aber da war der flehende Blick seiner kleinen Freundin, ihr felsenfestes Vertrauen auf ihn, er würde sie nie steckenlassen. Karl Siebrecht schrieb, er schrieb: Karl Busch.

»Wir hätten nicht unterschreiben sollen«, sagte er gleich darauf wieder, sie hatten kaum den Laden verlassen. »Es war dumm von uns!«

»Ach wat!« lachte Rieke vergnügt. »Mir kleid't dumm, Karle, det weeßte doch. Die Hauptsache: ick hab meine Maschine!«


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