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71. Keine Ehe, keine Heimat

Der nächste Morgen kam, aber er sagte ihr nichts. Er hatte geglaubt, dies gehe nicht, daß man miteinander lebte und ließ etwas Wichtiges unbesprochen. Aber es ging. Vielleicht lebte man nicht mehr miteinander, sondern nur nebeneinander, aber wahrscheinlich hatte man nie anders gelebt. Man hatte es nur nicht klar erkannt.

Alles renkte sich ein, wenn auch Wichtigstes unausgesprochen blieb. Es gab keine Vorwürfe, keine Fragen. Sie lachten sogar wieder miteinander, erzählten sich dies und jenes, sie waren verliebt und zärtlich, sie stritten sich. Sie lebten eben weiter ... Aber da war eine Schwelle, die wurde nie überschritten. Manchmal erzählte Karl Siebrecht ein kleines Erlebnis von seinen Fahrten über Land, aber nie berichtete er, für wen er fuhr, mit wem er fuhr, was er fuhr – nie wurde er danach gefragt. Er kam und ging, wie er wollte. Er blieb drei Nächte fort, und hinterher stand sein Tisch gedeckt, und seine Frau war bereit für ihn, ohne Bösesein, ohne Fragen. Er brachte manchmal viel Geld nach Haus und oft keines, ja, manchmal mußte er sich sogar von Rieke Geld ausbitten. Aber nie wurde ein Wort über alle diese Dinge verloren.

Oft hatte er ein oder zwei Wochen überhaupt nichts für Dumala zu fahren. Dann saß er wieder am Steuer des Taxis, erledigte die täglichen Läpperfuhren, die mit immer höheren, immer wertloseren Scheinen bezahlt wurden. Es kränkte ihn nun nicht mehr, daß er ein schlechter Taxichauffeur war. Er ging nicht mehr auf Jagd nach Fahrgästen, das war alles egal. Er saß bequem an den Taxi-Haltestellen und las alle Zeitungen, die es nur gab. Hauptsächlich suchte er in ihnen nach Notizen über die Schnüffelkommissionen. Es gab dann und wann kleine Hinweise über Waffenfunde, feierliche Proteste, Verurteilungen wegen verbotenen Waffenbesitzes, unvermutete Lagerrevisionen, Anrempelungen ...

Manchmal redete er mit Kalli darüber. Aber Kalli war nie ein redseliger Mensch gewesen, und er wurde immer schweigsamer. Karl Siebrecht konnte auch nicht mehr offen mit ihm reden, nicht nur wegen seiner Überlandfahrten, sondern vor allem aus dem Gefühl heraus, daß Kalli ihm aus seiner Ehe einen Vorwurf machte. Kalli hatte ihn gewarnt. Nun warnte er nicht mehr, aber er war stumm und traurig geworden. Vielleicht sprach er mit Rieke darüber, manchmal, wenn Karl ins Zimmer trat, verstummten die beiden plötzlich. »Warum seid ihr denn plötzlich so still?« fragte er dann. »Wovon habt ihr denn geredet?«

»Ach, nischt Besonderes«, sagte dann Rieke nach kurzem Zögern. »Det Jeld is eben rein jar nischt mehr wert, 'ne Schachtel Streichhölzer kostet jetzt schon hundertfuffzig Mark, nu mach dir bloß een Bild, Karle!«

Aber sie hatten nicht von der Teuerung gesprochen, er wußte das gut, sie hatten von ihm gesprochen, und sie wußten, daß er's wußte. Aber so lebten sie eben jetzt. Sie hatten eine Art stilles Übereinkommen getroffen, das auch Verschweigen und Lüge in sich schloß, keiner hatte mehr das Recht, zudringliche Fragen zu stellen ...

Nein, man mußte sich nicht mehr sehr anstrengen für dieses Leben. Man betrieb es so obenhin, es war jetzt auch ganz gleich, ob man ein guter oder ein schlechter Taxichauffeur war. Man las seine Zeitungen, und dann stieg man aus und las alle Anschläge an den Litfaßsäulen, alle Aufrufe an das Volk, alle Steckbriefe, alle Steuermahnungen, alle »Kehre zurück, Otto!«

Hatte man aber gar nichts mehr zu lesen und kam noch immer kein Fahrgast, so setzte man die Karre in Gang und fuhr den weiten Weg leer hinaus in den Grunewald. Man veraaste dabei Kallis Benzin, aber auch darüber machte man sich nicht mehr viel Gedanken. Das Leben war so sehr aus den Fugen – was kam es da auf ein bißchen Benzin an! Da stand man denn also wieder im Garten der Gollmerschen Villa, man bummelte über die Wege, die Hände in den Taschen, die Füße wirbelten das tote Laub durcheinander. Oder es war Frühling, es gab Schneeglöckchen, Krokus, Leberblümchen, später auch Narzissen und Maiblumen. Dann kam der Sommer, das Gras wuchs höher, das Unkraut nahm überhand, aber kein Gärtner ließ sich mehr blicken. Gollmers waren es wohl müde geworden, einen Garten in Ordnung halten zu lassen, den sie nie sahen. Auch Karl Siebrecht kam nicht mehr in die Versuchung, die Hände aus den Taschen zu nehmen und ein wenig Ordnung zu schaffen. Er ging hier so herum, in Erinnerung an Zeiten verloren, da er noch jung und voller Hoffnung gewesen war, da das Leben noch blühte. Jetzt dachte er frei und schamlos an Fräulein Ilse Gollmer, er erinnerte sich ihrer Locken, ihres Lachens. Er war richtig verliebt gewesen, ein einziges Mal in seinem Leben richtig verliebt. Man konnte sich das ruhig eingestehen, wenn man auch ein verheirateter Mann war ... Soweit war man jetzt. Ziemlich in Unordnung und verbummelt.

Aber gottlob kam dann immer wieder ein Bote in die Eichendorffstraße, oder die Post brachte einen Brief, in dem ein Zettel lag, auf dem nie mehr stand als ein Datum, eine Stunde, ein Ort. Dann begann das andere Leben, das freie, sorgenlose, unbekümmerte Leben auf den endlosen Landstraßen. Der Lastzug donnerte, der Wind pfiff und heulte, sie fuhren und fuhren. Sie lagen in Straßengräben und aßen ihre Stullen, sie sprangen in Seen und nahmen ein eiliges Bad, sie schaufelten sich aus Schnee heraus, sie schwatzten miteinander, lachten, tranken auch mal, sie küßten rasch und hitzig ein Gutsmädel in einem dunklen Gang, und dann waren sie schon wieder weiter. Sie waren Soldaten, sie kannten kein Gestern und Morgen, sie lebten nur im Heute. Der Befehl war über ihnen, dem unbedingt gefolgt wurde, so machten sie aus dem Heute, was sich daraus nur machen ließ.

Selten nur noch fuhr Dumala mit Karl Siebrecht. Der war nun schon ein alter, erfahrener Waffenschmuggler, der sich allein zu helfen wußte. Er erlebte viele Beifahrer, sie kamen und gingen, er hörte Namen, die kaum ihre Namen waren, er vergaß sie gleich wieder. Aber sie waren Kameraden, sie halfen einander, es war Verlaß auf sie. Weiß der Himmel, was sie daheim für ein Leben führten, mit Frau und Kindern oder auch allein, sie sprachen nie davon. Die Landstraße hatte sie zusammengeführt, wenn sie schwatzen wollten, so schwatzten sie von ihr, von Wegeverhältnissen, von Städten, die sie gesehen hatten, von Kirchen, in die sie für ein paar Minuten gegangen waren, von Wirtschaften, in denen es etwas Gutes zu essen gab. Aber meist redeten sie nicht. Meistens saßen sie stumm nebeneinander, jeder in seine eigenen Gedanken verloren, und vielgestaltig brauste das Land an ihnen vorbei. Karl Siebrecht lernte das Land lieben, und er glaubte beinahe, die Stadt Berlin zu hassen, diese Stadt, die er einmal hatte erobern wollen und die dann für ihn zur Heimat geworden war. Jetzt war er froh, wenn er dieser Stadt entrinnen konnte. Berlin – das hieß nun Zerfall, Gärung, das hieß Suff und Hurerei, ewiger Protest, endloser Streit, Umzüge dafür und Umzüge dagegen. Vor allem aber hieß Berlin seine schweigsame, mißlungene Ehe ...

Und dann kam er wieder nach Berlin und saß in der Taxe, zäh zogen sich seine Tage hin, aber schlimmer noch waren die dreizehn oder vierzehn Stunden, die alltäglich in der Eichendorffstraße hinzubringen waren, auch dort nicht daheim, auch in der Ehe nicht zu Haus. Und endlich kam dann wieder ein Zettel von Dumala, wurde er in die Weite, in die Freiheit gerufen.

Zu jener Zeit war er schon ein recht bekannter Lastzugführer geworden, längst konnte er nicht mehr jede Strecke fahren. Er besaß nun eine ganze Menge von Führerscheinen, lautend auf Namen wie Siewers, Siemsen, Siebert, Siebold – aber viele Gendarmen kannten sein Gesicht, er mußte sehr vorsichtig in der Benutzung dieser Ausweise sein. Er war jetzt ein Mann, der stark in Verdacht stand, nur hatte man ihm noch immer nichts nachweisen können. Zwei- oder dreimal hatten sie ihn auch schon festgehalten, aber sie hatten ihn wieder laufen lassen müssen. Es gab viele Gendarmen, die wollten ihn gar nicht kennen, sie machten ihre Kontrollen obenhin, sie sahen ihm dabei nicht einmal ins Gesicht: »In Ordnung! Weiterfahren!« Aber es gab andere, die wollten ihn durchaus fangen. Sie stellen ihm Fallen, sie telefonierten die Strecke voraus, die er kommen mußte, sie machten ihre Kollegen scharf. Doch er war kaltblütig und wachsam, und vor allem: er war kühn. Zu jener Zeit schien ihm das Leben kein Ding, auf das man sehr sorgsam hätte aufpassen müssen.

Einmal hatten sie ihn beinahe gefaßt. Sie hatten dem Dumala und ihm eine Falle gestellt, beide Wagen waren voller Waffen, und kurz vor ihrem Ziel wurden sie angehalten. Diesmal gab es kein Vertuschen – ein ganzer Trupp von Gendarmen stand da, und zwischen ihnen die lorbeergeschmückten Käppis französischer Offiziere. Sie umringten sofort den Lastzug, und der kleine, gelbgesichtige französische Kapitän kletterte auf den vorderen Wagen, machte sich an den Kisten zu schaffen.

Dann hatte der zu schreien angefangen, er hatte gefunden, was er wollte! Alle waren um ihn gedrängt, ein paar kletterten auf Auto und Anhänger: Karl Siebrecht stand unbeachtet.

Da war er auf den Führersitz gesprungen und war losgebraust, er hatte nicht mehr an Dumala und den Beifahrer gedacht, er war losgefahren wie der Teufel! Jetzt war alles egal, aber seine Waffen und die Wagen sollten sie nicht bekommen! Lieber fuhr er gegen den nächsten Baum.

Die schrien und schossen, die tobten hinter ihm auf den Kistenbergen, er aber raste weiter, er schlenkerte mit seinem Lastzug über die Straße, er hörte den Anhänger gegen die Chausseebäume schlagen, er wollte sie schon runterkriegen, sie mochten sich noch so sehr festkrallen! Dieser goldbordierte Affe der!

Später, als längst alles ruhig hinter ihm geworden war, als der Lastzug mit Vollgas dahinbrauste, fing er an, sich zu wundern, daß sie ihn nicht wenigstens mit dem Auto der Herren Offiziere verfolgten. Erst eine Woche danach erfuhr er von Dumala, daß der in der allgemeinen Verwirrung den Brennstoff hatte auslaufen lassen.

Er fuhr immer weiter, er wußte noch nicht, wohin. Aber es war klar, daß er nicht zu seinem Ziel fahren durfte. In diese aussichtslose Sache durfte er keinen Menschen verwickeln. Er wußte auch, er kam nicht weit, jetzt telefonierten sie wohl schon in alle Welt. Überall würde man ihn anhalten, nirgends würde er tanken können. In den nächsten zwei Stunden mußten er, sein Lastzug und die Waffen spurlos verschwinden! Gottlob war es ein stilles, weites östliches Land mit Wäldern und Seen. Immer tiefer hinein fuhr er in die Wälder, immer ferner blieben die Dörfer der Menschen. Zwischen den hohen roten Stämmen der Föhren verlor sich das Gebrumm seines Motors, alle laute Welt war weit fort ...

Schließlich fand er den See, den er brauchte, er fand auch eine Stelle, wo er hineinfahren konnte, das Ufer war abschüssig genug. Erst sah er das Auto, dann den Beiwagen in den Fluten verschwinden, weiß schäumte das Wasser, dann lag es wieder still in der Herbstsonne ... Nun begann der lange Weg heimwärts, meist in der Nacht, bis er es schließlich wagen konnte, auf eine Station zu gehen und mit der Bahn zu fahren ...

»Schön, mein Sohn!« sagte später Dumala und sah nachdenklich noch einmal das Kreuz auf der Karte an. »Es werden ja auch andere Zeiten kommen, da liegt das Zeug sicher. Aber das ist dir doch klar, daß du in nächster Zeit etwas privatisieren mußt, du bist ein gar zu gesuchter Mann. Der arme Kapitän hat sich den Arm gebrochen, als er vom Lastzug fiel ...«

Nach solchen Erlebnissen ging man zurück in die stillen Zimmer der Eichendorffstraße zu der immer stilleren Frau. Man saß wieder am Steuer des Taxi, und der Fahrgast sagte: »Hören Se mal, Chauffeur, wissense hier nich irgendwo ein Lokal, ein bißchen gepfeffert, verstehense? So richtig mit nackten Mächens, aber richtig nackt, verstehense? Da fahrense mich mal hin!« Heimat – ach du lieber Gott! Dieses verfluchte Berlin!


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