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67. Eine neue Karte wird gespielt

Die Fahrten mit dem Taxi führten Karl Siebrecht kreuz und quer durch die Stadt, mit der Zeit gab es kaum eine noch so entlegene Straße, durch die er nicht schließlich gekommen war. Und doch wurde es Herbst, wurde es Oktober 1920, bis er plötzlich bei einer leeren Heimfahrt dachte: Gott, hier ist ja der Fuhrhof von Franz Wagenseil! Bestimmt war er schon öfter daran vorübergefahren, aber er hatte nicht daran gedacht. Wer war heute Franz Wagenseil? Wo war er? Zugrunde gegangen oder wieder emporgetrieben von der Zeiten Gunst, die allen Sumpfblasen so förderlich war –? Es interessierte ihn nicht.

Aber er stieg doch vom Wagen, ging ein paar Schritte und sah von der Straße auf den Fuhrhof. Er hatte sich gewaltig verändert, er sah sehr anders aus als zu Franzens Zeiten. Hier regierte Franz Wagenseil bestimmt nicht mehr, dafür war alles zu ordentlich, zu aufgeräumt, zu planmäßig angelegt. Rechter Hand lagen wie früher die Stallungen, aber sauber verputzte Stallungen, und linker Hand, wo früher Kohlen und Brennholz gelegen hatten, standen jetzt Garagen, ein paar kleinere für Personenwagen und fünf oder sechs sehr große für Lastwagen. Der Anhänger eines Lastwagens stand mitten auf dem Hof, ein Mann murkste an dem Rad herum.

Die Bretterbude links vom Eingang, die Franz Wagenseil früher sein Büro genannt hatte, war verschwunden, und an ihrer Stelle gab es jetzt ein kleines, gelb verputztes Haus mit der Inschrift »Emil Engelbrecht«. Karl Siebrecht stand noch da und dachte nach über diesen Viehhändler Engelbrecht, der nun also wirklich das Wagenseilsche Besitztum an sich gebracht und etwas daraus gemacht hatte – das mußte man schon zugeben. Ein schlaffer, fetter Mann mit einem talgigen Gesicht und merkwürdig kleinen dunklen Augen, wenn er sich recht erinnerte ...

Während er noch an diesen Mann dachte, der einmal sein Kompagnon hatte werden wollen, den er gewaltig hatte abblitzen lassen, ging die Tür zu dem Bürohaus auf, und dieser selbe Mann trat auf den Fuhrhof heraus, genau, wie er ihn in Erinnerung hatte: fahl, fett, schlaff, talgig. Nun trug er auch noch einen khakifarbenen Anzug, der das Erdige, Farblose des Mannes noch unterstrich. »Herr Engelbrecht!« rief Karl Siebrecht unwillkürlich, als der Mann sich zu dem Anhänger wandte: »Einen Augenblick mal!« – Der Mann blieb stehen und sah den Chauffeur in der Lederjacke mit seinen kleinen Augen musternd an. – »Kennen Sie mich nicht mehr?« fragte Siebrecht.

»Natürlich!« antwortete der Viehhändler. »Sie sind der Mann, der den Wagenseil reingelegt hat.« Er hängte seine schlappe Hand in die des jungen Menschen. »Siebrecht, nicht wahr?«

»Der Franz hat sich ganz alleine reingelegt«, widersprach Siebrecht ärgerlich. »Dazu hat er mich nicht gebraucht.«

»Richtig!« sagte Engelbrecht. »Übrigens geht es ihm wieder einigermaßen. Er ist Lageraufseher in Mariendorf oder Friedrichsfelde.«

»Das freut mich, ich dachte schon, er wäre ganz hops gegangen.«

»Der nicht. Der nie!« antwortete der Händler. »Und was machen Sie?«

»Ich fahre ein Taxi«, sagte Karl Siebrecht und ärgerte sich wieder einmal, daß er es tat, denn es war ein Abstieg!

»So!« Der Händler trat einen Schritt auf die Straße hinaus und sah nach dem Wagen hin. »Ein Fiat, was? Sieht ordentlich aus. Eigentum?«

»Ich fahre ihn mit meinem Freund zusammen. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn? Kalli Flau?«

Emil Engelbrecht bewegte die Achseln. »Man lernt so viele Menschen kennen«, meinte er. »Man kann sie nicht alle behalten. Pferde, ja, da vergesse ich keins, das durch meinen Stall gegangen ist, aber Menschen –« Wieder bewegte er die Achseln. Dann deutete er nach dem Taxi: »Lohnt sich denn das?«

»Man lebt«, antwortete Karl Siebrecht und bewegte nun seinerseits die Schultern.

Eine Pause entstand, schon wollte sich Karl Siebrecht verabschieden, da fing Engelbrecht wieder an. »Mit der Gepäckabfuhr ist es Scheibe, was?«

»Jawohl«, gab Siebrecht zu. »Und bleibt's auch lange noch.«

»Richtig!« sagte der Händler und schwieg. Dann deutete er mit dem Daumen nach dem großen Anhänger. »Die Dinger sollten Sie fahren können«, meinte er. »Aber das können Sie nicht?«

»Nein. Ich habe nur den Führerschein für Personenwagen.«

»Ich an ihrer Stelle machte die Prüfung für Lastwagen mit Anhänger. Die haben eine Zukunft sage ich Ihnen!«

»Ist das besser als Taxifahren?«

Der Händler sah ihn einen Augenblick mit seinen kleinen glanzlosen dunklen Augen an. »Wenn Sie den Führerschein haben, weiß ich vielleicht was für Sie«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Halt, Herr Engelbrecht!« rief Siebrecht. »Wenn Sie so was sagen, müssen Sie schon mehr erzählen! Was hätten Sie dann für mich?«

Der Händler sah ihn schlaff und gleichgültig an. »Also dann in vierzehn Tagen wieder«, sagte er und ging endgültig.

Karl Siebrecht sah ihm unwillig nach. In vierzehn Tagen kannst du aber lange warten, dachte er und stieg wieder in sein Taxi. Den Rest seiner Tagesfuhren erledigte er so in Gedanken, daß er einen Gast dreimal fragen mußte, wohin er ihn eigentlich fahren sollte: während des Fahrens vergaß er immer wieder das Ziel. Als er dann nach Haus gekommen war, wollte er eigentlich mit Rieke und Kalli von dem Pferdehändler Engelbrecht reden. Aber im letzten Augenblick hielt er den Mund. Er mußte sich erst selbst über die Sache klarwerden. Der Engelbrecht war kein Schwätzer, er war auch kein Phantast wie der Franz Wagenseil. Wenn der so etwas vorschlug, steckte auch etwas Vernünftiges dahinter, jedenfalls etwas Besseres als Taxifahren.

Zwei Tage kämpfte er mit sich. Aber im Grunde war der Kampf von der ersten Stunde an entschieden. Der Händler Engelbrecht verstand sich nicht nur auf Pferde, sondern auch auf Menschen. Vielleicht, wenn der Mann mehr erzählt, etwas von der künftigen Tätigkeit Siebrechts berichtet hätte, hätte der sich nicht so rasch entschlossen. Aber da war etwas Neues, das Geheimnis lockte – und er war seines jetzigen Berufes so überdrüssig! Er war so müde, stundenlang an irgendwelchen Haltestellen auf Fahrgäste zu lauern, die dann, wenn er gerade an die Spitze der wartenden Wagen gerückt war, in den letzten Wagen stiegen, wenn es Damen waren.

Er war es so müde, das ewige Ticken der Taxameteruhr hinter seiner Schulter zu hören: jetzt hatte sie ihm endlich ein Brot zusammengetickt, aber auf die Butter dazu durfte er noch lange warten! Er haßte es so ingrimmig, abends seine Tageslosung an Rieke abzuliefern – sie führte die Kasse –, und an ihrer gemachten, übertriebenen Harmlosigkeit merkte er, daß er wieder weniger als Kalli Flau verdient hatte. Er haßte es jetzt sogar, in den Garten einer bestimmten Grunewaldvilla zu gehen – auf den Wegen sammelte sich schon wieder totes Laub. Ein Jahr war vergangen, nichts war geschehen. Wie ein Bettler stand er in dem Garten, schließlich steckte er doch noch einen Bettelbrief durch den Schlitz an der Tür! Nein, lieber ging er doch zu einem Lehrer und meldete sich für den Fahrunterricht an, er spielte die Karte, die ihm der Zufall in die Hand gesteckt hatte. Weiß Gott, ob überhaupt ein einziger Gewinn im Spiel war! Aber er spielte sie ganz für sich allein, niemanden ließ er in seine Karten sehen. Kalli nicht, auch Rieke nicht. Er wußte nicht, warum er mit ihnen nicht darüber sprechen mochte, er war nun einmal so. Und sie würden sich ihr Teil schon denken. Sicher nicht das Richtige; aber daß er wieder etwas vorhatte, das mußten sie ja merken. An den immer weiter sinkenden Einnahmen, denn er ließ seinen Wagen einfach »Außer Betrieb« stehen, wenn er im Fahrunterricht war. An seiner veränderten Stimmung, er war wacher, lebendiger geworden. Neues Blut war in sein Leben gekommen, seine Stimme war frischer. Er grübelte nicht mehr stundenlang vor sich hin, eine Entscheidung war getroffen, es gab wieder etwas, auf das er warten und hoffen konnte.

Wie alle Fahrer von Personenwagen hatte er sich oft über die großen Lastwagen geärgert, wenn er im Straßenverkehr hinter ihnen lag und an diesen schwerfälligen Ungetümen drei Minuten lang nicht vorüber konnte. Jetzt lernte er anders über die Fahrer dieser Wagen denken. Er lernte erkennen, welche Kraft und Disziplin dazu gehörte, so schwere Wagen mit zwanzig Tonnen Last durch den Straßenverkehr zu steuern, auszubiegen, zu überholen, zu halten – alles Fahren mit Personenwagen war dagegen Spielerei! Er hatte einen guten Fahrlehrer, einen Mann, der selbst im Kriege seinen Lastzug gesteuert hatte. Dieser Lehrer schenkte ihm nichts. Drei Tage lang exerzierte er mit seinem Schüler Einkehren auf einem Hof, der nicht viel länger war als der Lastwagen mit seinem Anhänger. Mitten aus dem Straßenverkehr schickte er ihn überraschend durch einen engen Torweg, der dem Lastwagen keinen halben Meter Spielraum ließ, jagte ihn über einen Hof, durch einen zweiten Torweg, und dann ließ er ihn zurückfahren, ohne Anhänger, mit Anhänger – hinterher klebte Karl Siebrecht das Hemd am Leibe. Vielleicht hatte der alte zähe Mann einen Narren an diesem Schüler gefressen – es war unmöglich, daß er jedem soviel Zeit widmen konnte wie diesem einen. An einem späten Abend bestellte er sich ihn und fuhr mit ihm die halbe Nacht durch, auf der Straße nach Bitterfeld-Halle, immer hinter einem anderen Lastzug her. Er lehrte ihn, Abstand zu halten und doch nie den Vorfahrer zu verlieren, zu bremsen, wenn der bremste, Gas zu geben, wenn der Gas gab – immer im gleichen Abstand, Stunde um Stunde. Es durfte keine Müdigkeit geben, kein Nachlassen der Aufmerksamkeit. Und dann, als sie kehrtmachten, wieder auf Berlin zu fuhren, freie Fahrt vor sich – behauptete der Fahrlehrer, ein Reifen sei defekt, und er ließ ihn mitten in der Nacht diesen Reifen auswechseln, allein. Er stand bloß stumm daneben. Dann, dreißig Kilometer weiter, war der zweite Reifen auszuwechseln, und schon nach zwanzig Kilometern der dritte ...

Vor dem Kriege hätte der junge Mensch gemeutert, er hätte sich nicht so schinden lassen. Nun hatte er stummes Gehorchen gelernt, er wechselte auch den dritten Reifen ohne ein Wort. Seine Hände zitterten, ein unverträglich juckendes Hitzegefühl plagte ihn, alle Muskeln schmerzten, am liebsten hätte er sich in den Graben geworfen und hätte geschlafen ...

Als sie wieder nach Berlin hereinkamen, dämmerte es schon. Der Lehrer sagte zu ihm: »So, nun schlafen Sie zwei Stunden hier auf meinem Sofa. Um acht machen Sie Ihre Fahrerprüfung.«

Er schlief wie ein Stein, und die Prüfung kam ihm dann wie ein Kinderspiel vor. Der Polizeihauptmann ließ ihn kaum fünf Minuten fahren, dann nickte er: »Schon im Kriege gefahren, was?«

»Im Kriege war ich in Gefangenschaft«, antwortete Karl Siebrecht.

»Auch in der Gefangenschaft kann man lernen, sehr viel sogar«, sagte der Polizeihauptmann. »Na, es ist gut, Kamerad.«

Etwas verwirrt ging Karl Siebrecht mit seinem neuen Führerschein aus dem Polizeipräsidium. Nun war nur die Frage, wem er zuerst davon sprach: Rieke oder dem Engelbrecht? Er ging zu Engelbrecht.


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