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57. Erika

Am nächsten Vormittag stieg Karl Siebrecht die Treppe zum Pastorat hinauf. Er hatte das Haus offen gefunden, und den Weg zum Arbeitszimmer des Pastors kannte er auch. Er klopfte. Der Pastor rief mit starker Stimme: »Herein!«, und Karl Siebrecht trat ein.

»Guten Tag, Herr Pastor«, sagte Siebrecht. »Sie erinnern sich meiner noch –?«

Der Pastor sah ihn von seinem Stehpult her an, er machte keinen Versuch, dem Besucher entgegenzugehen oder ihm die Hand zu reichen. »Jawohl«, sagte er. »Ich kenne Sie. Sie sind der Karl Siebrecht von nebenan. Ich habe Sie getauft und konfirmiert, und Ihre beiden Eltern habe ich begraben. Aber –«

»Nein, Herr Pastor!« rief Karl Siebrecht. »Nun fangen Sie bitte nicht auch noch damit an, daß ich ein zerlumpter Bettler und eine höchst fragwürdige Existenz bin! Meine Vaterstadt nimmt mich wirklich nicht sehr freundlich auf. Ich komme eben vom Bürgermeister und habe mich ausgewiesen, daß ich ein nicht schlechtgestellter Kaufmann bin und daß ich meine Steuern wie jeder rechte Bürger zahle. Wenn Sie wollen, zeige ich auch Ihnen meine Papiere.«

»Nein, nein«, sagte der Pastor hastig, und an seinem Gesicht war zu erkennen, daß er seine unhöfliche Begrüßung bereute. »Ich sehe schon, daß die Leute wieder einmal dumm geschwätzt haben. Es freut mich, daß du vorangekommen bist, Karl, aber –«

»Aber, Herr Pastor –?«

»Ich muß dir etwas zurückgeben, Karl«, sagte der Pastor und schlug den Deckel seines Stehpultes auf. Er suchte, dann nahm er ein Pappschächtelchen heraus. »Da, Karl, das habe ich zurückgehalten.«

»Mein Silberherzchen!« rief der junge Mensch und sah betrübt auf den kleinen armen Schmuck. »Das hätten Sie Ihrer Erika gut geben können, Herr Pastor, dabei war nichts Unrechtes.«

»Ich liebe solche Dinge zwischen sehr jungen Leuten nicht«, antwortete der Pastor. »Du warst damals erst sechzehn, Karl.«

»Ja, ich war sechzehn!« rief er. »Und ich stand ganz allein und verlassen in der Welt, und niemand hatte ein gutes Wort für mich, außer Ihre Erika. Es war schön für mich, in der großen Stadt an sie zu denken, daß doch ein Mensch daheim war, der sich gerne meiner erinnerte. Wir waren nur Kinder, und Kinder schenken einander gern etwas.«

Der Pastor wiegte den Kopf hin und her. »Man weiß nie, was aus solchen Kinderfreundschaften wird«, meinte er.

»Nein, das weiß man nicht. Aber das weiß man bei allem nicht. Man muß auch ein bißchen auf Anständigkeit und guten Willen vertrauen, nicht wahr? – Herr Pastor«, sagte er bittend, »ich bin nur noch eine knappe Stunde hier, dann reise ich wieder ab und werde kaum zurückkommen. Erlauben Sie, daß die Erika mich zur Bahn bringt –? Ich würde doch gern einen hübschen Eindruck mitnehmen von meiner Vaterstadt.«

»Mit der Erika bis zum Bahnhof?« sagte der Pastor zweifelnd. »Die Leute werden sich die Mäuler zerreißen.« Er besann sich. »Nun gut, ich bin ein wenig in deiner Schuld, Karl, glaube ich, und man soll auch keine Furcht vor den Menschen haben. Warte hier, ich rufe sie.«

Dann kam sie herein, schon fertig zum Spaziergang, und er erkannte sie nicht! Er wäre auf der Straße an ihr vorbeigelaufen und hätte sie nicht erkannt. Ihr Gesicht war so grob geworden und ihre Gestalt so plump, sie hatte eine Figur wie eine Frau.

Weiß der Himmel, ob sie sich wirklich so verändert hatte! Sie war Jahre hindurch sein heimlichster Traum gewesen, da war sie wohl immer zarter und himmlischer geworden. Nun stand sie vor ihm, aus der Erde gewachsen, stämmig, mit roten Backen und einer starken Brust, mit festen Händen, denen man ansah, daß sie zupackten, arbeiteten, in Haus, Garten und Stall – ein Mensch, mitten aus dem täglichen Leben! Keine Blumenelfe mehr, keine zarte Fee ... Diese letzte Enttäuschung war die schwerste, weil sie so völlig überraschend kam.

»Karl!« rief sie und vergaß ganz alle Begrüßung. »Wie hast du nur fertiggebracht, daß Vater das erlaubt hat? Die Leute werden reden, und Otto wird mir Vorwürfe machen!«

»Wer ist denn Otto?« fragte er. »Und halt, Ria, du hast mir noch nicht einmal guten Tag gesagt. Guten Tag, Ria. Guten Tag nach soviel Jahren!«

»Guten Tag, Karl, und du sagst wirklich noch Ria! Wie komisch das klingt! Keiner sagt mehr Ria zu mir, alle nennen mich Erika, auch Otto.«

»Also, wer ist Otto?« fragte er ergeben und bedauerte es keinen Moment, daß sein Zug schon so bald ging. Sie waren jetzt schon auf der Straße.

»Aber du mußt doch Otto kennen! Von der Schule her. Er muß zwei oder drei Jahre älter sein als du, der Sohn von Kaufmann Biermann!«

»Ach, der Otto!« rief Karl Siebrecht. »Wir nannten ihn immer Schiele-Otto!«

»Pfui, Karl, das ist aber richtig gemein von dir! Übrigens schielt er überhaupt nicht mehr, er hat sich operieren lassen, jetzt hat er höchstens noch einen Silberblick, aber auch das sieht man nicht mehr.«

»Entschuldige mich einen Augenblick, Erika. Ich will nur meinen Koffer hier aus dem Hotel holen. Ich bin sofort wieder zurück.«

Und als Karl Siebrecht wieder auf die Straße trat, seinen Koffer in der Hand: »So, Erika, und nun mußt du mir alles erzählen. Bist du eigentlich schon richtig verlobt mit Otto! Ich sehe keinen Ring an deiner Hand! Wird es dir denn als Kaufmannsfrau gefallen?«

»Aber großartig!« sagte sie. »Ich helfe schon manchmal beim Bedienen. Das ist fein, wenn man einen ganzen Laden voll Sachen hat und nicht alles selber kaufen muß ...« So ging es mühelos weiter. Sie war noch längst nicht mit ihrem Bericht fertig, als sein Zug abfuhr. Mit keinem Wort hatte sie nach ihm und seinem Ergehen gefragt. Keinen Gedanken hatte sie für die Vergangenheit gehabt, sie hatte den Schuppen wohl längst vergessen, mit seinen ersten jungen, hastigen Küssen! Aber der Schuppen war ja auch abgerissen, es gab ihn nicht mehr. Es gab nichts mehr von seiner Jugend ... Nichts mehr ...


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