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33. Der zweite Tag – am Tage

Auf dem Küchentisch der Brommen hatte ein dickes, gut in Zeitungspapier eingeschlagenes Stullenpaket gelegen. »Hat der Kalli abgegeben«, berichtete die Brommen, »und 'nen schönen Jruß von die Rieke. Seid ihr also doch nich auseinander?«

»Von was reden Sie eigentlich?« hatte Karl Siebrecht grob geantwortet, aber ihm war gar nicht grob zumute gewesen. Einen Augenblick erwog er, gleich zu Rieke hinüberzugehen und ihr zu danken, vielleicht erwartete sie ihn. Aber dann hob er es doch lieber für den Abend auf. Er wollte unbedingt zur Zeit am Stettiner halten, heute mußte es anders gehen –!

Es war gut, daß er früh auf den Fuhrhof kam, zuerst sah es ganz so aus, als solle es heute überhaupt kein Gespann für ihn geben. Franz Wagenseil war völlig gekränkte Leberwurst, war auf eine Art kurz und schnippisch, die dem großen Mann sehr komisch zu Gesicht stand. »Ist dir ja alles nicht gut genug, was ich für dich tue«, sagte er gekränkt. »Ach was, Pferde, solche Pferde, wie du brauchst, habe ich gar keine. Geh mal bei S. M. in den Marstall, da findest du welche!«

»Sei bloß nicht albern«, sagte Karl Siebrecht.

»Ich albern! Du alberner Affe!« schrie Wagenseil. »Wenn ich mal 'ne gute Reklameidee habe, dann ist das albern. Mach dir doch deinen Dreck alleine! Bring lieber Geld, verstehst du? Und du verlangst, ich soll Geld für Blumen ausgeben? Du lächerst mich ja!«

»Du mich auch, Franz!« sagte Karl Siebrecht.

Schließlich bekam er den genesenen, aber noch schonungsbedürftigen Rappen, den er sich erst putzen mußte, und einen reichlich pflastermüden Belgier, rotblond, ein Gespann, das gar nicht paßte. Als aber Karl Siebrecht darauf aufmerksam machte, schrie Wagenseil sofort: »Morgen kriegst du überhaupt nur einen Gaul! Mein Geld spazierenfahren, das möchtest du!«

»Es ist aber meines, Franz!« lachte Karl Siebrecht und fuhr ab.

Sieben Minuten vor zehn hielt er am Bahnhof. Die Dienstmänner waren schon da. Auch der eine, der bewußte. Karl Siebrecht überlegte, ob er schon jetzt mit ihm abrechnen sollte, aber er ließ es. Er war noch zu guter Stimmung, um sich zu krachen. Die Luft war diesig. Die Sonne hatte noch nicht den Dunst über der Stadt durchbrechen können, aber sie würde schon noch kommen, leider. Aber trotzdem würde es heute anders und besser gehen, Karl fühlte es. Er strängte seine Pferde ab. »Na, Karle?« fragte Opa Küraß. Er war auf seinen stöckerigen Beinen herbeigewackelt und betrachtete seinen ehemaligen Karrengefährten neugierig aus vorstehenden Greisenaugen, die ganz voller roter Äderchen waren.

»Na, Opa, das Leben noch frisch?« fragte Karl zurück. Er hatte einen raschen Blick zu den Dienstmännern hinübergeworfen und gesehen, daß sie alle den alten Küraß gespannt beobachteten. Er war also vorgeschickt worden mit irgendeinem bestimmten Zweck und mit keinem guten. Kalli Flau war nirgends zu sehen.

»Wie lange willste denn den Quatsch noch machen?« fragte der Opa.

»Welchen Quatsch wohl, Opa?«

»Den Quatsch mit den Pferden doch.«

»Pferde sind doch kein Quatsch, Opa.« Karl Siebrecht stellte sich völlig verständnislos. »Pferde sind doch Pferde.«

»Du weeßt schon jut, wat ick will, Karle«, sagte der Opa gekränkt.

»Keine Ahnung! Aber erzähl mir mal, Opa, was die dir aufgetragen haben. Kalli wird schön schimpfen, wenn er sieht, daß du dich von denen schicken läßt.«

»Ick laß mir von keenem schicken. Und Kalli kann mir jar nischt sagen.«

Aber der Opa war doch sehr unruhig geworden, er schielte nach dem Seitenportal.

»Dann kannst du ja auch wieder gehen, Opa«, lachte Karl Siebrecht, »wenn du dich von keinem schicken läßt. Wiedersehen, Opa!«

Jetzt hatte aber auch der alte Küraß gemerkt, daß er ein bißchen veralbert wurde. »Du dummer Bengel!« schalt er. »Mach bloß, det du hier wegkommst! Keener will dir hier sehen! Und Gepäck kriegst du nie! Wir haben for dir jesammelt, du Lulatsch, bloß, weil wir dir nicht mehr sehen können! Eenen Taler haben wir jesammelt, den sollste haben, wenn de hier bloß wegfährst.«

»Gib ihn her, den Taler, Opa!« sagte Siebrecht überraschend und hielt dem Opa die offene Hand hin.

»Nee, nee, nee!« rief Opa hastig und schloß die Hand so fest, daß der Junge merkte, der Spott-, Hohn- und Sammeltaler lag wirklich darin. »Du fährst doch nich weg!«

»Natürlich tu ich's«, lachte Karl Siebrecht, »wenn du mir den Taler gibst.«

»Fährste wirklich weg?« fragte der Alte ängstlich und schielte zu den anderen Dienstmännern. Gar zu gerne hätte er sich von ihnen Rat geholt, an diesen Ausgang der Spötterei hatte keiner gedacht. Alle hatten geglaubt, Karl Siebrecht würde in Wut das Geld zurückweisen.

»Wirklich und wahrhaftig, Opa«, beteuerte der Junge. »Auf der Stelle fahre ich weg. Mein Wort!« Er strängte schon das Sattelpferd an.

»Na denn«, sagte der Opa hilflos. Der Taler glitt in Karls Hand. Er steckte ihn schnell in die Tasche, schwang sich auf seinen Sitz, rief: »Adjüs, Opa!« und »Auf Wiedersehen!« Er knallte mit der Peitsche, die Gäule trabten, Karl Siebrecht sah zurück. Er sah, wie sie alle eifrig und wütend auf den Opa einredeten, sah die hilflosen Gebärden des Alten ... Er lachte in sich hinein. Gerade so weit fuhr er in die Invalidenstraße, daß er ihnen aus den Augen war. aber er strängte das Pferd nicht wieder ab. Er blieb auf seinem Kutschersitz, Zügel und Peitsche in der Hand, fahrbereit. Es waren höchstens noch drei oder vier Minuten bis zum Warnemünder Zug. Der wird sich was wüten! dachte er, meinte aber nicht den Opa.

Er mußte gar nicht lange warten, da kamen die Dienstmänner mit ihren Karren auf der Fahrt zum Lehrter Bahnhof, zur Friedrichstraße, zum Potsdamer und zum Anhalter Bahnhof. Manche sahen ihn nicht. Den Kopf gesenkt, die Schulter in den Gurt gestemmt, machten sie geduldig mit ihrer Last einen Bogen um den Feind und fuhren weiter, langsam oder eilig, ganz nach den Zügen, die sie erreichen mußten. Andere sahen ihn. Sie schauten einmal hin, zweimal hin und noch einmal hin, jedesmal aber schauten sie schnell wieder fort. Manche taten, als hätten sie nichts gesehen, und konnten doch das Wiederhinschauen nicht lassen. Einige lachten höhnisch, einer rief: »Da stehste jut!« Einer wurde zornrot, ließ den Holm los, drohte mit der Faust und schimpfte: »Du verdammtet Aas, du!« Das war einer, den der verlorene Taler zu sehr schmerzte.

Karl Siebrecht sah auch Kalli Flau vorüberziehen, in die Gurte gebeugt. Der Freund von ehemals stutzte einen Augenblick, dann rief er: »Morgen, Karl!«

»Morgen, Kalli«, rief Karl Siebrecht zurück, und der Freund fuhr vorbei, ohne wieder hochzusehen. Hinter seinem Karren trippelte verstört der alte Opa, nicht einmal zu schieben vermochte er mehr. Zuviel hatten sie wohl auf ihm herumgehackt, und den Rest hatte ihm dann sicher Kalli Flau mit seinen Vorwürfen gegeben.

Einen Augenblick war Siebrecht versucht, den Opa anzurufen und ihm den Taler zurückzugeben. Aber er überlegte es sich anders. Großmütig darf man nur zu einem großmütigen Feind sein, ein kleinlicher Feind hält Großmut immer für Schwäche. Nun endlich kam sein kleinlichster Feind. Karl hatte schon gefürchtet, der habe eine Fuhre in anderer Richtung, etwa zum Schlesischen oder zum Görlitzer Bahnhof. Aber da kam er, und nicht umsonst kam der Dienstmann 13, Kiesow, so spät: seine Karre war hochgetürmt mit Koffern bepackt! Mit Stricken hatte er sie noch festschnüren müssen, die Karre ächzte und krächzte. Und dabei hatte es der Mann auch noch eilig, lang lag er im Gurt, schon jetzt war sein Gesicht gerötet ... Ohne aufzusehen, zog Kiesow an Karl Siebrecht vorüber, und »Hüa!« sagte der. Die Pferde gingen los, direkt hinter der Karre ließ Karl Siebrecht sie gehen, so nahe hinter der Karre, daß ihre Nasen fast an die Koffer rührten. Nun stieß die Deichsel – ganz sanft – an den Karren an.

Ein Dienstmann ist es gewöhnt, im Großstadtverkehr zu fahren, kleine Zusammenstöße sind da unvermeidlich. Man schimpft, wenn man Zeit hat, oder zieht schneller, wenn man eilig ist. Kiesow, der den Stoß und Schub gespürt hatte, wandte weiterziehend den Kopf zurück, ein Fluchwort gegen den Unachtsamen auf den Lippen. Sein Blick begegnete dem von Karl Siebrecht. Der sah ihn, hoch über dem Dienstmann thronend, hell und spöttisch an. Die Peitschenschmitze nickte an ihrer Schnur.

Kiesow schloß den Mund, er hatte es eilig, er war schon spät daran. Dieses Jüngelchen würde er sich nachher kaufen. Er legte sich stärker in den Gurt, um aus der Nähe des Feindes zu kommen.

Eine Kleinigkeit schneller ließ Siebrecht seine Pferde gehen. Was für den Dienstmann eine schwere Anstrengung war, für die Gäule war es Spielerei: wieder nickten ihre Nasen über den Koffern, und wieder stieß die Deichsel gegen den Karren. Als das zum drittenmal geschah, wandte der gehetzte Dienstmann (den Kopf zurück: »Vadammt noch mal, paß doch auf!« schrie er.

»Verdammt noch mal! Ich paß ja grade auf!« schrie Karl Siebrecht zurück. Und der Dienstmann, der vorwärts mußte, der seinen Zug nicht versäumen durfte, legte sich wortlos in seinen Gurt, vor Wut vergehend.

Sie waren nun am Neuen Tor, an jener Stelle, wo es einen ersten Zusammenstoß gegeben hatte, wo Karl Siebrecht sein herrenloses Gespann mit dem feige beschmutzten Schild gefunden hatte. Kiesow warf einen zweifelnden Blick auf den Schutzmann. Es war derselbe Blaue wie gestern, gerne wäre er ihn um Hilfe angegangen. Aber was sollte er sagen – und gerade diesem Blauen? Er zog rasch in einem Viertelkreis an ihm vorbei, zwischen den beiden Torhäuschen durch, der Luisenstraße zu. Karl Siebrecht atmete auf. Der Feind fuhr nicht zum Lehrter Bahnhof, der nur noch ein paar Schritt entfernt lag, er fuhr zum Potsdamer oder Anhalter, einen weiten Weg, auf dem er gepeinigt werden konnte. Und wie würde er ihn peinigen ... Er setzte seine Pferde in Trab. Mit der Peitsche grüßte er: »Morgen, Herr Wachtmeister!« Der Schutzmann sah auf, erkannte ihn, nickte kurz.

An Kiesow vorbei fuhr Karl Siebrecht. Er sah das wütende, gehetzte Gesicht des anderen, das sich entspannte, als er den Jungen vorüberfahren sah. Aber, kaum an Kiesow vorbei, ließ Karl Siebrecht die Pferde wieder im Schritt gehen. Er fuhr nun vor Kiesow her, erst noch in einigem Abstand ... Aber seine Pferde krochen. Ach, wie sie krochen – die reinen Schnecken! Rasch kam der Moment, da der Dienstmann 13 fast gegen die Hinterwand des Rollwagens stieß, da er langsam ziehen mußte. Noch langsamer. Und die Zeit drängte, der Zug fuhr, das Gepäck mußte abgefertigt werden, der Bahnhof war noch weit ...

Siebrecht sah sich nicht um, aber ihm war, als fühle er die Blicke des Verzweifelnden in seinem Rücken, er fuhr noch langsamer. Dann, ohne den Kopf zu drehen, gewissermaßen nur im Augenwinkel, sah er, daß der Dienstmann Anstalten machte, ihn zu überholen. Er ließ ihn fast bis an die Pferde kommen, dann bog er in einem spitzen Winkel auf die Fahrbahn aus, den Geleisen zu, und eingekeilt zwischen dem massigen Rollwagen und einer anfahrenden Elektrischen, blieb dem Dienstmann nichts, als zurückzufallen, wieder hinter den Rollwagen zu kriechen, zu schleichen, wo er laufen wollte, den unerreichbaren Rücken des Jungen anzustarren, vorne hoch vor sich. So ging es die ganze Luisenstraße hinunter. Es gab kein Entrinnen für Kiesow. Dann, bei der Dorotheenstraße, machte er einen Versuch auszubrechen, statt geradeaus zu fahren, bog er rechts ab, dem Reichstag zu. Aber Karl Siebrecht war auf dem Posten. Im Augenblick hatte er sein Gespann herumgeholt, und nun gingen die Pferde wieder hinter dem Karren, die Deichsel schlug gegen ihn – nun wurde der Mann gehetzt, der eben noch hatte schleichen müssen.

Voraus oder hintennach: Karl Siebrecht behielt das Spiel in der Hand, und er spielte es, bis zur letzten Karte. Der Mann hatte gemein gegen ihn gehandelt, er war sein Hauptwidersacher, der würde die anderen immer wieder von neuem gegen ihn aufreizen. Den mußte er kleinkriegen, der hatte erst seine Lektion zu begreifen. Am Tiergarten entlang, über den Potsdamer Platz, am Potsdamer Bahnhof vorbei. Zufällig sah es der Junge, wie der Dienstmann 13 einen Blick zur Uhr an der Halle warf und wie sich sofort seine Haltung entspannte, der Gurt schlaff wurde: der Zug war endgültig versäumt, Kiesow hatte den Kampf aufgegeben! Karl Siebrecht knallte mit der Peitsche, er ließ seine Pferde traben, holpernd und polternd ging es über die Kopfsteine der Königgrätzer Straße, auf den Anhalter Bahnhof zu, am Anhalter Bahnhof vorbei. Achtundzwanzig Minuten hatte er den Feind geschunden, nur achtundzwanzig Minuten, und wie lang waren sie ihm erschienen! Wie lang mußten sie erst Kiesow vorgekommen sein!

Er hat gewendet, er hält jenseits des Platzes, aber er hat eine gute Sicht auf die Gepäckabfertigung. Nach einer Weile Warten sieht er Kiesow aus dem Bahnhof auftauchen, er hat ein paar Handkoffer, die er auf seine Karre stellt. Kiesow fährt ab, er fährt langsam über den Platz, sieht sich dabei nach allen Seiten um. Es ist Karl Siebrecht gleichgültig, ob er gesehen wird oder nicht: das Spiel geht doch weiter. Aber er wird nicht gesehen, Kiesow biegt in die Anhalter Straße ein, weg ist die rote Mütze. Schon sitzt der Junge wieder auf dem Bock, die Pferde traben, und noch sind keine drei Minuten vergangen, da stößt die Deichsel wieder an den Karren. Aber diesmal hat es Kiesow nicht eilig, auch er wünscht jetzt die Auseinandersetzung. Er hält seinen Karren so plötzlich an, daß Karl seine Pferde auf dem Fleck parieren muß, sonst treten sie das schwache Holzding in Stücke: »Jetzt will ich dir was sagen –« beginnt Kiesow. Er hat sich von seinen Gurten losgemacht und geht von der Seite auf Wagen und Feind zu.

Aber hier in der belebten Anhalter Straße ist nicht der Ort für eine hitzige Auseinandersetzung. »Später! Später!« ruft Karl Siebrecht und setzt seine Pferde in Trab. Er fährt im Bogen um die Karre herum und rasch weiter. Erst im stillen unteren Ende der Wilhelmstraße hält er den rechten Augenblick für gekommen. Ganz überraschend aus einer Seitenstraße einbiegend, setzt er dem Gegner den Rollwagen – plautz – vor die Nase und zwingt ihn zum Halten. »Nun erzähl, was du zu erzählen hast, Kiesow!« sagt er. Wird ein Kampf einmal unvermeidlich, ist es immer besser, man ist der Angreifer statt der Angegriffene. Siebrecht steht erhöht auf seinem Wagen, er hält die Peitsche in der Hand, aber umgedreht, so daß er mit dem starken, biegsamen Stielende zuschlagen kann.

Kiesow macht sich langsam von seinem Gurt frei. Langsam geht er auf den Wagen zu. Langsam fragt er: »Wie lange willst du das noch machen, du –?«

»Bis du klein beigegeben hast, Kiesow!« antwortete Siebrecht und läßt keine Bewegung des Feindes außer acht. Der Mann scheint ihm zu friedlich, das ist verdächtig. Der Mann hat etwas vor.

»Und was nennst du klein beigeben?« fragt Kiesow. Er steht jetzt einen guten Meter von dem Jungen entfernt, aber auch einen Meter tiefer als der.

»Erstens setzt du als erster dein Gepäck auf meinen Wagen, als Entschädigung für die Hetzerei, die du bei den anderen gegen mich getrieben hast.«

»Da warte man drauf!« antwortet der Dienstmann, aber viel zu ruhig. »Und was noch?«

»Zweitens sagst du den Gepäckträgern auf dem Stettiner, daß es eine gemeine Lüge von dir war, daß du mich in grüner Jacke auf dem Bahnsteig vom Lehrter erwischt hättest!«

»Auch ganz schön!« meinte Kiesow. »Und was noch?«

»Das ist vorläufig alles«, sagt Siebrecht.

»Nein, das ist nicht alles, damit fangen wir erst an!« schrie der Kiesow, sprang gegen den Wagen und griff nach den Beinen des Jungen. Er wollte ihn vom Wagen aufs Pflaster reißen.

Aber der war auf seiner Hut gewesen, er sprang zurück, und nun traf der schwere zähe Peitschenstiel den Dienstmann am Kopf. Die Mütze fiel, einen Augenblick stand Kiesow wie betäubt, dann fuhr er mit beiden Händen an den geschlagenen Kopf und schrie: »Jetzt gehn wir auf die Polizei, jetzt kommst du aber mit auf die Polizei! Das blutet ja, das zeige ich denen! Jetzt fliegst du rein!«

»Ja, das blutet, Kiesow«, sagte Karl Siebrecht. »Und wenn du willst, gehen wir auf die Polizei. Ach bitte«, sagte er zu einem der Neugierigen, die sich schon angesammelt hatten, »haben Sie nicht gesehen, daß der Mann mich angesprungen hat? Daß ich mich bloß verteidigt habe?«

»Natürlich hab ick det jesehen, Jüngling!« sagte der kleine Mann, wie alle Berliner überraschend plötzlich gekränkt. »Denken Sie, ick habe schlechtere Oogen als Sie?!«

»Und böse wärste mit 'm Dötz aufs Pflaster jeballert«, sagte eine amtliche Stimme, nämlich ein Briefträger. »Wie können Se denn so wat machen, Mann? Jemanden an de Beene vom Wagen reißen – es ist die Möglichkeit!«

»Und so eener red't von Polizei«, murmelte eine Baßstimme.

Kiesow merkte, daß die Volksstimmung gegen ihn war. »Mit dem Peitschenstiel übern Nischel!« murrte er. Dann bückte er sich nach seiner roten Mütze, legte sein sehr fragwürdig aussehendes Taschentuch auf die geschundene, jetzt rasch anschwellende Stelle und klemmte es mit der Mütze fest.

»Daß ihr so sein könnt gegen 'nen ollen Dienstmann –« sagte er vorwurfsvoll. »Na ja, auf ein totes Aas hacken alle Raben!«

»Da hast du recht: ein Aas biste!« rief der Baß, und viele lachten.

Mit einem letzten vorwurfsvollen Blick, der aber den Karl Siebrecht vermied, spannte sich Kiesow vor seine Karre und zottelte langsam davon. Auch der Junge setzte sich wieder auf seinen Bock. »Hüa!« rief er, und die Pferde zogen an. Jetzt folgte er in weitem Abstand dem Kiesow, aber er folgte ihm. Immer sah er die rote Mütze vor sich, und die rote Mütze fuhr nicht zum Stettiner Bahnhof, rechts bog sie ab, immer weiter rechts, nach Osten statt nach Norden wies ihr Kurs. Karl Siebrecht wurde ganz zweifelhaft, ob es noch Zweck hätte, ihr weiter zu folgen ...

Schließlich aber hielt der Dienstmann 13 an. Er hielt ohne jeden ersichtlichen Grund, in einer dieser Straßen beim Schlesischen Bahnhof, die einander alle so ähnlich sehen. Kiesow stellte sich auf den Bürgersteig und sah, die Hände in den Taschen, dem anfahrenden Jungen entgegen. Auch Karl Siebrecht hielt, und einen Augenblick blickten die beiden einander stumm an. Der Dienstmann sah eher trübe als kampfeslustig aus. »Na, denn steig man runter«, meinte Kiesow schließlich. »Aber die Peitsche läßt du oben!« Der Junge sah die Straße auf und ab. Sie war weder besonders belebt, noch war sie leer. »Hast du Bange?« fragte Kiesow. »Ich tu dir nichts.«

»Aber ich dir!« rief Karl Siebrecht und sprang vom Wagen. »Nämlich, wenn du mich noch einmal anfaßt.«

Die beiden standen sich schweigend gegenüber, jetzt auf gleichem Boden. Dann fragte Dienstmann 13: »Was willst du eigentlich von mir?«

»Das habe ich dir schon gesagt!«

»Was du gesagt hast, ist Stuß! Das tue ich nie!«

»Dann fahre ich dir so lange vor der Nase rum, bis du es über hast!«

»Dann zeige ich dich an wegen Existenzschädigung!«

»Dann zeige ich dich erstens an wegen Verleumdung ...«

»Das muß einem erst bewiesen werden!«

»Dafür habe ich Zeugen!« behauptete Siebrecht kühn. »Dann hast du mir meinen Wagen verschleppt ...«

»Habe ich nicht!« rief Kiesow rasch. »Das hat ein ganz anderer getan!«

»Das weiß ich recht gut«, behauptete der Junge. »Aber in deinem Auftrag geschah es.« Er sah den Mann an, er wagte es, nur dieser Mann konnte es getan haben. »Und dann bist du am Neuen Tor gesehen worden, wie du das Schild eingeschmutzt hast!«

»Das war ich nicht!« rief wieder rasch Kiesow. »Ich habe es bloß gehalten!«

»Das genügt mir«, lachte der Junge. »Und der Polizei genügt es auch.«

Der Dienstmann 13 sah finster auf den Lachenden. Dann, mit einer plötzlichen Bewegung wandte er sich zu seiner Karre, nahm die drei Handkoffer herunter und stellte sie auf den Rollwagen. »Da!« sagte er. »Da hast du sie! Fahr du sie auf den Stettiner. Ich lasse mich da nicht wieder sehen. Du hast mich alle gemacht.«

Siebrecht sah ihn prüfend an, er glaubte ihm nicht. Dann sagte er: »Macht neunzig Pfennig, Kiesow!«

»Was?« rief der Mann wütend. »Geld willst du auch noch von mir?«

»Mein Anteil am Fuhrlohn«, verlangte Siebrecht. »Aus Freundschaft für dich kann ich vorläufig noch nicht fahren, Kiesow!«

Der Mann murrte und murmelte, aber er suchte in seinem Portemonnaie: »Da!« sagte er dann mürrisch. »Einen Groschen kriege ich zurück.«

Der Junge gab ihn. »Da, Kiesow! Nun sind wir glatt.«

»Nee, glatt sind wir nicht«, sagte der Mann finster und faßte nach der Brüsche unter der Mütze. »Das kann nun keiner behaupten!«

»Nein, so glatt sind wir nicht«, lachte Karl Siebrecht und stieg auf den Bock. »Denn wenn du dich wieder auf dem Stettiner sehen läßt, fängt's von frischem an!« Er fuhr los. Er fuhr im schlanken Trab bis zum Stettiner: Es war noch ein paar Minuten vor zwölf, als er dort anlangte. Ein paar Dienstmänner standen da. Er nahm die Koffer vom Wagen, lief in den Bahnhof. Im Vorbeigehn sagte er zu den Dienstmännern: »Die Koffer habe ich von Kiesow!« Ihren Gesichtern sah er an, daß sie ihm nicht glaubten.

Als er zurückkam, vertrat ihm Kupinski den Weg. Drohend sagte er: »Du, hör mal, gib uns unsern Taler wieder!«

»Euren Taler? Den hab ich mir redlich verdient! Ich sollte wegfahren, und ich bin weggefahren.«

»Du solltest aber ganz wegfahren.«

»Ich bin auch ganz weggefahren. Es ist nichts von mir hiergeblieben! Oder?«

»Ich meine –« Es wurde Kupinski schwer, auszudrücken, was er meinte. »Du solltest für immer wegfahren!«

»Für immer? Davon hat der Opa nichts gesagt. Ich sollte wegfahren, und das habe ich getan. Damit habe ich den Taler verdient!«

»Wir wollen unsern Taler zurück! Du hast uns angeschissen!

»Nein, das habe ich nicht! Aber ihr wolltet mich verhohnepiepeln, und dabei seid ihr reingefallen. Das kostet euch nun einen Taler.« Sie sahen ihn schweigend an. Nicht auf allen Gesichtern war Unwille zu lesen. Manche schienen selbst zu finden, es sei so ganz richtig. Siebrecht sagte: »Der Taler gehört mir. Aber ich will euch was sagen: ich werde ihn dem zurückgeben, der zuerst sein Gepäck auf meinen Wagen setzt.«

»Darauf warte man!« sagte Kupinski höhnisch.

»Jawohl, Kupinski, genau darauf warte ich«, antwortete der Junge und ging zu seinem Wagen zurück. Während er den Pferden Hafer gab, hörte er ihre erregten Stimmen. Sie waren in Streit, und wenn sie sich erst seinetwegen stritten, stiegen seine Aussichten. Trotzdem richtete er sich darauf ein, den ganzen Nachmittag wieder umsonst zu warten, so schnell besannen sie sich nicht. Wer aber kam, war der Hans Tischendorf, den er fast vergessen hatte.

»Na, Haifisch?« fragte der gestürzte Stift eines Anwaltsbüros.

»Nichts mehr Haifisch!« lachte Siebrecht. »Ich bin Gepäckfuhrunternehmer! Da, lies das Schild!«

»Habe ich längst gelesen«, sagte Tischendorf und warf nur einen kurzen Blick auf das Schild, der dem Jungen scheu vorkam.

Rasch sagte er: »Na, Tischendorf, wieviel hat dir denn der Kiesow dafür gegeben?«

Das Gesicht des anderen wurde nicht rot, aber seltsamerweise röteten sich seine großen abstehenden Ohren. Sie wurden immer röter, Siebrecht sah es mit Vergnügen. »Wofür gegeben?« fragte Tischendorf.

»Für das Forstehlen von meinem Wagen und das Einsauen vom Schild.«

»Du spinnst ja!«

»Kiesow hat es mir selber gestanden. Er hat das Schild gehalten, sagte er, und du hast eingesaut!«

»Stuß!« sagte Tischendorf. »Ich werde den Kiesow fragen, wenn er kommt. Das kann er gar nicht gesagt haben!«

»Der Kiesow kommt nicht mehr auf den Stettiner, der arbeitet nun auf dem Schlesischen!« Karl Siebrecht hielt es für gut, wenn sich diese Nachricht möglichst bald auf dem Stettiner Bahnhof verbreitete. Sie würde dem Kiesow eine Rückkehr nicht gerade erleichtern.

»Das glaubt dir keiner!« sagte Tischendorf rasch.

»Frage Kiesow selbst! Und sieh dir die Brüsche an, die ich ihm mit dem Peitschenstiel über den Schädel gegeben habe!«

»Ach nee!« sagte Tischendorf nur, und seine dunklen scheuen Augen gingen hierhin und dorthin, nur nicht zu Siebrecht. »Jedenfalls, wenn er behauptet, ich habe was mit deinem Wagen gehabt, dann mache ich ihn meineidig!«

»Das könnt ihr alles vorm Richter ausmachen«, meinte Karl Siebrecht. »Wenn sich nämlich Kiesow hier noch mal sehen läßt. Ich habe ihm versprochen, daß ich dann euch beide anzeige.«

Tischendorfs Ohren hatten längst ihre normale Farbe angenommen. Er hatte die Lage juristisch überprüft und nichts Beunruhigendes an ihr gefunden. »Was da schon viel bei rauskommt! Im schlimmsten Falle ist es grober Unfug, kostet zehn Mark Geldstrafe, und die zahlt Kiesow.«

»Warten wir's ab.«

»Und wie stehen die Geschäfte?« fragte Tischendorf, wie es schien, völlig unerschüttert.

»Danke, danke. Habe eben die Koffer für Kiesow gefahren.«

»Schon gehört. Und jetzt glaube ich es dir sogar. Ein Kamel, der Kiesow, sich so von dir ins Bockshorn jagen zu lassen. Mich kriegst du nicht so leicht!«

»Und du mich gar nicht, Tischendorf!«

»Wie steht's denn mit uns? Hast du dir das mit den sechzig Prozent überlegt?«

»Von morgen an nehme ich Haifische nur für vierzig Prozent mit«, verkündete Siebrecht.

»Ach nee? Deine Pferde brauchen keine Bewegung?«

»Die kriegen noch zuviel Bewegung!«

»Du kriegst aber kein Gepäck!«

»Das Gepäck kommt schon!«

»Bofke!« sagte Hans Tischendorf diesmal zum Abschied und entschwand, in grauen Korkzieherhosen, völlig ungewaschen.

Und nun war es wieder still um Karl Siebrecht. Langsam entschwanden auch die Stunden, sie brachten die Züge mit ihren Reisenden, mit den Gepäckmassen, aber ihm brachten sie nichts. Die Gepäckträger liefen, die Dienstmänner hoben die Koffer auf ihre Karren und legten sich in die Gurte, er stand tatenlos.

Aber er war doch in der allerbesten Stimmung. Manche Änderung hatte der heutige Tag schon gebracht. Es sah nicht mehr alles hoffnungslos für ihn aus! Vor allem besann sich der April auf seinen Namen. Diesmal stieg der Nebel nicht, er löste sich in einen feinen Regen auf. Dann fing es zu wehen an, und der Regen wurde stärker.

Karl Siebrecht legte den Pferden die Lederdecke über und sah zu, wie auch die Dienstmänner kleine graue Planen über ihre Koffer zogen. Sieh da! sagte er sich. Daran habe ich nicht gedacht. Morgen früh muß ich mir von Franz eine Wagenplane geben lassen, das darf ich nicht vergessen, sonst werden meine Koffer naß. Er rechnete für morgen schon bestimmt mit »seinen« Koffern.

Später bummelte Siebrecht noch durch den Bahnhof, er wagte es heute schon, sein Gespann allein zu lassen. Es würde ganz nützlich sein, dem Gepäckträger Beese von seinen Erlebnissen mit Kiesow zu berichten. Aber er fand Beese nicht, der hatte wohl Spätdienst. Dafür stieß er in »Herren« auf eine ganze Versammlung von Rotmützen, unter ihnen auch auf den nicht rotbemützten Kalli Flau. Sie standen in eifrigem Getuschel um einen Herrn in Zivil.

Bei seinem Erscheinen löste sich die Gruppe sofort auf. Jeder suchte sich einen Platz an der wasserrauschenden Wand, der Zivilist verschwand eilig in einer Toilette. Karl Siebrecht hatte sein Gesicht nicht sehen können, die Gestalt war ihm bekannt vorgekommen, nur ungewohnt verändert. Flüchtig dachte er an den Dienstmann 13 – aber dies war ein Zivilist gewesen ...

Er fand einen freien Platz neben Kalli und sagte: »Na, Kalli –?«

Er konnte dem Freunde nicht länger böse sein. Schon war halb vergessen, warum sie sich verzankt hatten.

»Na, Karl?« fragte Kalli mit einem Aufleuchten der Augen zurück.

»Was macht die Rieke?«

»So wie immer. Danke.«

»Ich komme heute abend mal bei euch vorbei.«

»Schön, werde ich ihr bestellen.«

»Also, Kalli!«

»Also! Mach es gut, Karl!«

Er ging, trotzdem er sich den Zivilisten hinter der verriegelten Tür gerne einmal angesehen hätte. Aber er scheute auch nur den Verdacht, zu spionieren.


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