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3. Abschied von der Jugend

Der Tag war grau, es wollte nicht hell werden. Am Fenster der Schlafstube stand Karl Siebrecht, sah hinaus in den kleinen Garten, dessen kahle Bäume von immer neuen Stößen des Novemberwindes erzitterten, sah über den Garten fort, zu der Rückseite des Wedekindschen Hauses ... Hinter ihm packte Minna Anzüge und Wäsche in einen Reisekorb. Sie hielt eine Hose aus gelblichem geripptem Samt in die Höhe und sagte: »Dann ist da noch Vaters Manchesterhose, die ist noch ganz gut. Wenn du ein bißchen wächst, wird sie dir passen!«

»Pack bloß nicht zuviel ein, Minna!« rief, ohne sich umzuwenden, der Junge ungeduldig. »Was soll ich mit all dem Zeug?«

»Es ist schon nicht zuviel Zeug da, Karl!« antwortete Minna trübe und legte die Hose in den Korb. Sie griff nach einem Stoß Wäsche.

Der Junge hielt in der Handfläche verborgen einen kleinen runden Taschenspiegel. Von der kahlen, leeren Rückwand des Pastorenhauses sah er ungeduldig empor zum vorwinterlichen Himmel, auf dem sich graue, lockere Wolken jagten. Er flehte um eine, um eine halbe Minute Sonnenschein ...

An seinem Stehpult, mit der Ausarbeitung der Sonntagspredigt beschäftigt, stand der Pastor Wedekind – ihm fuhr der im Spiegel gefangene Sonnenstrahl zuerst blitzend ins Auge. »Da ist doch wieder dieser infame Bengel mit seinem Taschenspiegel zugange!« rief er, empört auffahrend. »Und so was am Tage, nachdem wir seinen Vater zur Ruhe geleitet haben!«

Der Sonnenfleck war schon über die Stubendecke fortgetanzt, er glitt, von dem mißbilligenden Blick des Geistlichen verfolgt, am Kachelofen hinab und blieb einen Augenblick auf der Stirn der Frau Pastor ruhen. Sie schlug nach ihm, als sei er eine lästige Fliege. »Erika!« rief der Geistliche entrüstet. »Erika! Sofort gehst du – –«

Den Geistlichen, der zwischen Fenster und Tisch getreten war, traf ein zweites Mal das Licht des Novembertages, diesmal bestrahlte es die fleischige Backe. Er fuhr mit dem Kopf zurück, und der goldene Fleck ließ sich auf der Tischplatte nieder, gerade vor Erikas häkelnden Händen. Er zitterte ein wenig hin und her, schob sich nahe an die Hände heran, berührte, vergoldete, umspielte die Finger – – »Sofort gehst du in das Siebrechtsche Haus und sagst dem infamen Bengel, daß ich mir diesen Unfug verbitte – ein für allemal! Ich sei empört, daß er heute, an einem solchen Tage – ich meine, nach einem solchen Tage – –«

»Jawohl, Papa!« sagte Erika und löste mit einem leichten Bedauern ihre Hände aus dem Lichtgruß. Sie ging zur Tür.

»Aber in zwei Minuten bist du wieder hier!« befahl die nicht ganz so ahnungslose Mutter.

»Jawohl, Mama!«

»Ach nein, laß mich lieber selbst gehen!«

Doch war Erika schon aus der Stube. Leise und eilig lief sie die Treppen hinunter, trat in den winderfüllten Garten, schwang sich, ihre langen Röcke rücksichtslos raffend, über das Mäuerchen, das die beiden Gärten trennte, und lief durch den Siebrechtschen auf den Schuppen zu, in dem sowohl spärliches Gartengerät verwahrt wurde, als auch den Hühnern mit Stangen und Nestern eine Stätte des Verweilens bereitet war.

Nicht nur den Hühnern. Denn als sie in das halbe Dunkel hineinfragte »Karl?«, antwortete er sofort: »Ria!«, und der Freund zog sie an der Hand zu einer Karre. »Setz dich, Ria! Ich habe direkt zu Gott gebetet, um einen Moment Sonne! Ich glaube ja sonst nicht an Gott, aber diesmal –«

»Diesmal hast du Vater schön wütend gemacht! Ich soll dir sagen ...«

»Laß ihn! Es war das letztemal, Ria!« Mit einer gewissen Feierlichkeit wiederholte der Junge: »Es war das letztemal. Ich gehe fort, Ria! Ganz fort!«

»Du, Karl? Warum denn – –? Wer soll mir dann meine Schularbeiten machen?! Ich bleibe bestimmt zu Ostern kleben! Bleib doch hier, Karl, bitte!«

»Ich muß fort, Ria! Ich gehe nach Berlin!«

»Ach, Karl, warum denn? Hier ist es doch auch ganz schön – manchmal –!«

»Ich will was werden, Ria!«

»Und wenn ich dich bitte, Karl?! Bleib hier, Karl! Ich bitte dich!«

»Es geht nicht, Ria, es muß sein!«

Einen Augenblick schwieg sie, auf ihrer Karre hockend. Er, vor ihr stehend, zu ihr niedergebeugt, sah gespannt in ihr dämmriges, doch helles Gesicht. Dann stampfte sie mit dem Fuß auf. »Also geh, geh doch in dein olles Berlin!« rief sie zornig. »Warum gehst du denn nicht? Ich bin froh, wenn du gehst! Du bist genauso ein ekliger Junge wie alle andern!«

»Aber, Ria!« rief er ganz bestürzt. »Sei doch nicht so! Versteh doch, daß ich fort muß! Hier kann ich nie etwas werden!«

»Ich muß gar nichts verstehen! Du willst wohl bloß weg, weil du uns alle über hast, mich auch – und ich habe gedacht, du möchtest mich ein bißchen gern ...« Bei den letzten Worten versagte ihr fast die Stimme. Sie sprang von ihrer Karre auf und zog sich tiefer in das Dunkel des Schuppens zurück, damit er nicht ihre Tränen sehen sollte. Sie scheuchte eine Henne von ihrem Nest auf, die mit lautem Protest gackernd aus der Tür flüchtete.

Karl Siebrecht hatte ihre Hand gefaßt und streichelte sie ungeschickt. »Ach, Ria, Ria«, bat er. »nimm es doch nicht so! Ich muß doch wirklich fort. Hier sollte ich Hausdiener im Hotel Hohenzollern werden.«

»Das tust du nicht, Karl, unter keinen Umständen!«

»Und ich will doch viel werden, und dann komme ich wieder.«

»Dauert es lange, bis du wiederkommst?«

»Es dauert wohl seine Zeit, Ria – ziemlich lange!«

»Und dann, Karl –?«

»Dann frage ich dich vielleicht etwas, Ria ...!«

Pause. Dann sagte das Mädchen leise: »Was willst du mich denn fragen, Karl?«

Er wagte es nicht. »Es ist noch so lange hin, Ria! Erst muß ich etwas geworden sein.«

Und sie, ganz leise flüsternd: »Frag es doch schon jetzt, Karl. Bitte!«

Er zögerte. Dann zog er vorsichtig etwas aus der Innentasche seines Jacketts. »Weißt du, was das ist?«

»Was soll das sein?«

»Das ist eine von den Blumen, Ria«, sagte er feierlich, »die du in Vaters Grab geworfen hast. Ich nehme sie mit nach Berlin und werde sie immer bei mir tragen!«

Der Wind jagte mit Schnee vermischten Regen zur Türöffnung herein. Sie drängte sich enger an ihn, sie flüsterte angstvoll: »Das ist doch eine Totenblume, Karl!«

»Aber ich habe sie von dir, Ria, sie bringt mir bestimmt Glück! Und hier habe ich einen kleinen Ring von meiner Mutter – willst du den nicht tragen, Ria, damit du immer an mich denkst?!«

»Ich darf doch keinen Ring von dir tragen. Vater würde es nie erlauben!«

»Du kannst ihn tragen, wo dein Vater ihn nicht sieht. Ich trage deine Blume auch auf dem Herzen!«

Sie schwiegen eine Weile. Dann flüsterte sie: »Ich danke dir für den Ring, Karl. Ich will ihn immer tragen.«

Und wieder Schweigen. Nahe sahen sie sich in die blassen Gesichter, ihre Herzen klopften sehr. Nach einer Weile flüsterte Siebrecht: »Möchtest du mir wohl einen Kuß zum Abschied geben, Ria?«

Sie sah ihn an. Dann hob sie langsam die Arme und legte sie sachte um seinen Hals. »Ja ...« flüsterte sie.

Krachend warf der Wind die Tür des Schuppens ins Schloß, gerade vor dem nahenden Pastor Wedekind, der in Sturm, Regen und Schnee seine Tochter suchte. Er rüttelte an der Tür. Mit Mühe öffnete er sie gegen den Winddruck und rief in den dunklen Schuppen. »Bist du hier, Erika?« rief er.

Der Junge, im Dunkeln das Mädchen im Arm, trat mit dem Fuß nach den Nestern. Laut gackernd flatterte eine Henne auf und torkelte gegen den geistlichen Herrn. Eine andere Antwort gab der Schuppen nicht.


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