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103. Das lange Zwiegespräch

Leise zog er die Haustür hinter sich zu und stand lauschend in einem dunklen Raum. Ziemlich entfernt tickte eine große Uhr, sonst war nichts zu hören. Mit grimmigem Lächeln bückte er sich und zog seine Schuhe aus. Er stellte sie neben die Tür und wagte dann, ein Streichholz anzuzünden. Er stand in einer Art Halle, Geweihe hingen an den Wänden, direkt vor ihm war ein Tisch mit einer großen Vase. Es war ein Glück, daß er keinen Schritt vorwärts getan hatte, er hätte die Vase vom Tisch geworfen und das ganze Haus geweckt. Das Streichholz erlosch, ehe er noch gesehen hatte, wie er weitergehen mußte. Aber beim Licht eines zweiten Streichholzes entdeckte er den Treppenfuß am anderen Ende der Halle und erreichte ihn, ehe ihn das Licht wieder verließ. Im Dunkeln, vom Geländer geführt, stieg er rasch empor. Er war jetzt kalt und entschlossen. Eigentlich wiederholte sich alles im Leben, so hatte er einmal am Stettiner Bahnhof gehalten, fünfunddreißig Mark in der Tasche, und hatte alles auf eine Karte gesetzt. Er hatte sie damals alle geblufft. Und er hatte gewonnen! Auch sie durfte nie erfahren, wieviel für ihn jetzt auf dem Spiel stand, wie wenig er ihr entgegenzusetzen hatte ...

Die Treppe war zu Ende, und hier wagte er nicht, noch ein Streichholz anzubrennen. Dunkel ahnte er links ein Fenster, es mußte hier ein Gang sein. Er bückte sich und fühlte mit den Fingerspitzen, wie der Läufer lief. Auf diesem Läufer ging er vorsichtig weiter, die Hände tastend ausgestreckt, die Augen zur Erde. Ihre Tür mußte links sein. Da sah er schon den matten Lichtschimmer am Boden, er hob die Hand suchend zur Klinke. Wenn ihre Tür abgeschlossen war, konnte er nur hinuntergehen und fortfahren. Ein Verhandeln durch die Tür war unmöglich. Er drückte auf die Klinke, die Tür öffnete sich, er trat ein. »Guten Abend, Hertha«, sagte er. »Da bin ich.«

Sie stand völlig angekleidet mitten im Zimmer und drehte sich langsam zu ihm um. Keinen Augenblick war sie erschrocken oder nur überrascht. »Da bist du!« sagte sie. »Ich habe es eigentlich nicht anders erwartet. Aber jedes Reden ist zwecklos. Ich tue es doch nicht.«

»Wir werden auch nicht mehr darüber reden. Ich bin so zu dir gekommen.«

»Was heißt das: du bist so zu mir gekommen?«

»Ich bin zu dir gekommen, um bei dir zu bleiben, so lange du mich haben willst.«

»Und die Hochzeit?«

»Laß die Hochzeit! Sie war eine Idee deines Vaters.«

Sie sah ihn aufmerksam an. »Und dein Geschäft?« fragte sie.

»Ich weiß noch nicht«, antwortete er. »Vielleicht gehe ich später dorthin zurück, wenn es dann noch Zweck hat. Ich weiß es noch nicht, vorläufig möchte ich bei dir bleiben.«

Wieder sah sie ihn prüfend an. »Du hast dich sehr verändert, Karl – deinen Worten nach ...«

»Das ist möglich. Die letzten Tage waren nicht ganz einfach für mich.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie etwas lebhafter. »Ich fühle, du belügst mich. Du hast nicht die Wahrheit gesagt, weder über die Heirat noch über das Geschäft. Du willst mich –« Sie brach ab. »Was ist das?« fragte sie.

Ein betäubendes Knattern war auf der Straße laut geworden, schwoll an und entfernte sich rasch. »Das ist der Rittmeister, der nach Berlin zurückfährt«, sagte er gleichgültig. »Der Motor war wohl kalt geworden. So, jetzt ist es wieder still. Er ist fort.«

»Er ist fort«, sagte sie rascher, »und du bleibst hier?«

»Ja, ich bleibe hier.« Er faßte sie bei der Hand. »Komm, Hertha, setze dich hierher zu mir auf das Bett und laß uns miteinander reden.«

»Wir wollen also doch miteinander reden?«

»Aber wir wollen nicht davon reden. Wir wollen von zweierlei reden, vielleicht sogar von dreierlei. Zuerst möchte ich mit dir über das sprechen, was du dem Rittmeister gesagt hast. Du meinst, du könntest eines Tages meine Liebe verlieren – und das ist auch der Grund gewesen, daß du dich mir so oft entzogen hast, nicht wahr?«

Sie nickte langsam mit dem Kopf. »Ja, davor habe ich Angst, immer.«

»Wenn ich den Herrn von Senden recht verstanden habe, hat es keinen Sinn, dir zu versichern, daß du meine Liebe nie verlieren wirst. Du weißt, daß alle Gefühle wandelbar sind, und so glaubst du, auch meine Liebe könne sich wandeln.«

»Ich weiß es. Nur keine Bindungen. Liebe verträgt keine Bindung.«

»Ich fühle, daß ich dich immer lieben werde.«

»Ja, jetzt fühlst du so!«

»Eben, aber ich kann nur vom Jetzt reden wie du auch. Beide wissen wir nichts über die Zukunft. Aber worüber ich reden kann, das ist das, wozu ich mich entschlossen habe ...«

»Und wozu hast du dich entschlossen?«

»Bei dir zu bleiben! Ich habe in Berlin alles stehen- und liegenlassen, wie es eben ist. Ich werde denen einen höflichen Brief schreiben, daß sie nicht mehr mit mir zu rechnen haben. Ein Nachfolger ist auch schon da, du weißt, jener Bremer, vor dem du mich einmal gewarnt hast, ein tüchtiger Mann. Ich werde mich um nichts mehr kümmern.«

»Aber was wirst du dann tun, Karl?«

Er merkte, sie wurde unruhig. Er sagte: »Ich werde eben für dich da sein. Das heißt«, fügte er rasch hinzu, als er Unbehagen auf ihrem Gesicht sah, »ich will nicht etwa immer bei dir herumsitzen. Du sollst dich ganz frei fühlen. Nur, wenn du mich brauchst, werde ich immer da sein, ich werde nur auf dich zu warten haben.« Er machte eine Pause. Er sah, das Unbehagen hatte sich bei ihr verstärkt. Er führte einen weiteren Schlag: »Ich will ganz offen zu dir sein, du wirst freilich sagen, daß dies wieder nur Karlchen ist. Es gibt einen heiklen Punkt dabei, das ist die Geldfrage. Ich werde nichts verdienen, und du weißt, ich habe keine Ersparnisse. Aber ich denke, wir werden uns mit der Zeit daran gewöhnen. Ich habe nur wenig Bedürfnisse, sehr lästig werde ich dir nicht fallen. Aus dem Ehevertrag, den ich gestern unterschreiben mußte, habe ich gesehen, daß du ein recht wohlhabendes Mädchen bist. Du wirst es kaum spüren, und ich will sehen, daß Karlchen es auch nicht spürt.« Eine Weile schwiegen sie. Dann legte er seine Hand leicht auf die ihre und sagte: »Ist das nicht ungefähr das, was dir vorschwebte, Hertha?«

»Vielleicht«, sagte sie tonlos. Sie war sehr blaß, dunkel und unruhig sah sie ihn an. Aber sie zwang sich zur Ruhe, als sie fragte: »Das ist eine sehr plötzliche Sinnesänderung bei dir, nicht wahr, Karl? Sonst hättest du doch wohl kaum den Herrn von Senden überredet, mit dir hierherzufahren.«

»Herr von Senden war die andere Chance. Ich muß gestehen, daß diese andere Möglichkeit, von der wir nicht reden werden, mir die liebere gewesen wäre. Aber von allem Anfang an, von jener unseligen Verhandlung bei den Anwälten an, als dein Vater die Heirat gewissermaßen erzwingen wollte, hatte ich das Gefühl, nichts konnte dich umstimmen. So habe ich von allem Anfang an diese jetzige Möglichkeit ins Auge gefaßt, wenn ich dabei auch alles getan habe, um die andere Möglichkeit vorzubereiten.« Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Als dein Vater gestern mittag zu mir kam von seiner vergeblichen Fahrt zu dir, da wußte ich schon, daß weder Senden noch ich dich überreden können.«

»Was hat mein Vater gesagt?«

»Er sagte, er habe nichts ausgerichtet, und ich könne nun tun und lassen, was ich wollte. Es klang etwa so, als sollte ich mich zum Teufel scheren. Er sagte auch, selbst ich könne nun nichts mehr verderben.« Er versuchte zu lächeln. »Und so bin ich hier, Hertha, wie du siehst, dein Vater hat recht behalten. Ich hoffe nur, ich habe nicht noch mehr verdorben.«

»Nein«, sagte sie tonlos. »Das hast du nicht. Und was hast du mir sonst zu sagen? Du sprachst von dreierlei Dingen, von denen du mit mir reden wolltest.«

»Eigentlich nur von zwei Dingen. Von dem dritten will ich nur vielleicht mit dir sprechen, Hertha. Weißt du, während der ganzen Fahrt hierher habe ich mir überlegt, was ich wohl in der Zeit tun sollte, da Herr von Senden hier drinnen mit dir sprach. Ich wußte, das Warten würde unerträglich sein.«

»Weiter!« drängte sie. »Und was tatest du in dieser Wartezeit?«

»Ich rechnete.«

»Was tatest du?«

»Ich rechnete. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, daß dein Vater bei jener unseligen Verhandlung eine Bemerkung einschlüpfen ließ, daß er mich bei unserem Vertrag ein wenig übers Ohr gehauen hat. Er hat zwar sofort widersprochen ...«

»Weiter!« drängte sie. »Ich erinnere mich sehr gut. Weiter.«

»Während ich also hier wartete«, fuhr er, unbeirrt durch ihre Unruhe fort, »habe ich mir den ganzen Vertrag noch einmal durchgerechnet. Ich habe alle Tarifsätze im Kopf – ich merkte gar nicht mehr, daß ich wartete. Und, Hertha«, rief er und wurde immer lebhafter, »ich habe den Punkt gefunden. Es ist eine Lücke im Vertrag. Ich bezahle auch die Leerkilometer, die wir fahren, sogar an unserem Verlust verdient dein Vater! Ich hatte eine Wut auf ihn – es war eine wahre Erlösung für mich, als der Rittmeister kam.« Er besann sich. »Freilich, jetzt, wo ich alle Geschäfte niederlegen werde, ist es sinnlos, sich noch zu ärgern. Soll er ruhig weiter an den Leerkilometern verdienen, es interessiert mich nicht mehr.«

»Aber du wirst es deinem Nachfolger schreiben –?«

»Dem Bremer? Ich denke gar nicht daran!«

Sie riß ihre Hand aus der seinen und sprang vom Bett auf. »Du lügst! Du lügst!« rief sie in zorniger Erregung. »Jedes Wort, das du gesagt hast, ist gelogen. Du willst gar nicht von meinem Geld leben! Du willst die Geschäfte nicht aufgeben! Du willst meinem Vater heimzahlen, was er dir angetan hat!«

Er war sitzen geblieben, aber er sah sie mit leuchtenden Augen an. »Selbstverständlich habe ich gelogen«, sagte er so ruhig, wie er nur konnte. »Nie würdest du mich lieben, wenn ich solch ein Kerl wäre. Kein Hund möchte ein Stück Brot von mir nehmen, wenn ich so ehrlos dächte! Und doch, Hertha«, sagte er ernst, stand auf und trat nahe an sie heran, »ist dies das Leben, das du uns bereiten willst, wenn du auf deinem Vorhaben beharrst. Ich habe dir nur geschildert, was geschehen wird. Und ich schwöre dir, ich werde all dies tun, wenn du weiter auf deinem Vorhaben beharrst. Ich will lieber, daß du mich unglücklich machst, als daß ich dich unglücklich mache. Ich habe eine Frau in meinem Leben unglücklich gemacht, das ist mir genug.« Er sprach immer leiser: »Es gibt keine Sicherheit im Leben, mein armes Kind, auch in der Liebe nicht. Versuche zu vertrauen, vertraue der Stunde, dem Tag, der Woche dann, vertraue den Jahreszeiten, die so rasch wechseln, laß dich von ihnen weitertragen. Du bist ja nie gebunden, das weißt du doch. Wer kann dich binden? Ich? Ach, ich Armer!«

»Ach, du Armer!« wiederholte sie zärtlich in seinem Arm. Und leise, sehr leise: »Und das dritte, sage mir schnell das dritte, Karl!«

Er beugte sich ganz über sie: »Und wie denkst du über deine Kinder, Hertha Eich – Hertha Siebrecht?«

Sie schloß die Augen. Dann, nach einer langen Weile, fragte sie: »Können wir noch zur Zeit nach Berlin kommen?«

»Packe nur!« sagte er. »Das Auto wartet unten. Wir schaffen es noch.«

»Das Auto? Aber der Herr von Senden ist damit fortgefahren? Oder ist auch das nicht wahr?«

»Doch, Senden ist schon längst auf dem Weg nach Berlin. Unten wartet ein zweiter Wagen – für uns allein.«

»Wußtest du denn, daß es so kommen würde?«

»Nein, ich wußte es nicht. Ich hoffte es nur. Aber ich habe auch an das gedacht, was kommen würde, wenn du nicht ja sagtest. Dann hätte ich dich gebeten, noch in der Nacht mit mir irgendwo anders hinzufahren. Es wäre Karlchen nämlich sehr peinlich gewesen, in dieser Pension, wo du bekannt bist, als dein Geliebter aufzutreten.«


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