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17. Der Laufbursche

Pünktlich am nächsten Vormittag war die Nähmaschine im dritten Hof der Wiesenstraße eingetroffen, und keine Viertelstunde, so saß Rieke an der Maschine und nähte probeweise darauflos. Erst behutsam, dann, mit leicht sich rötenden Wangen, immer schneller, immer mutiger. Oh, sie hatte nicht aus Prahlerei zu Karl Siebrecht gesagt, daß sie Maschinenähen konnte, sie konnte es wirklich! Nicht umsonst hatte sie auf ihren Aufwartestellen die Augen offengehalten: sie hatte mancher Hausfrau vieles abgesehen. Rieke trat schneller und schneller, ihre Augen blitzten. Der alte Busch, der, die verstauchte Hand in einer Binde, stumpf am Fenster saß, sah verwirrt herüber. Er schloß die Augen, schüttelte den Kopf, als störe ihn dies Geräusch, und sah wieder herüber. »Wat, Vata, det bringt Leben in de Bude!« lachte Rieke triumphierend, und Herr Hagedorn war nun schon ganz vergessen. Tilda stand neben der Maschine und sah mit strahlenden Augen dies nickelblinkende, rumpelnde, schnurrende Ungeheuer. »Wat, Tildecken, det macht sich!« lachte Rieke wieder. »Und det erste, wat ick nu richtig nähe, Tilda, det is 'n Wintermantel for dir aus Tante Berthas Kleid. Wat sagste nu –?«

Rieke tritt und näht, sie näht alte Lumpen, eine Naht rauf, eine runter, die Maschine näht wirklich wie Puppe. Und das Rumpeln der Maschine breitet sich aus in dem Hinterhaus an der Wiesenstraße. Überwohner und Unterwohner horchen auf das ungewohnte Geräusch aus der Buschschen Wohnung, die Nachbarn legen das Ohr an die Wand ... Nicht lange, so klopft die erste an die Tür: »Det war mir doch so wunderlich, Rieke, ick dachte schon, hier is wat passiert, weil det so rumpelt! Aber det du nu 'ne Maschine hast mit deine vierzehn Jahre! Ick bin elf Jahre verheiratet und hab noch immer keene! Immer, wenn ick dachte, nu is et soweit, nu haben wa de Kröten zusammen, denn kam wieda wat Kleenet und neese waren wa.« Andere Nachbarinnen folgten, bald stand ein dichter Haufe Frauen bei Buschens in der Küche. Und die Kunde breitete sich im ganzen Haus aus, vom ersten Hof kam die Brommen, und aus dem Vorderhaus sogar die Frau des Vizewirts Spaniel, von der die Sage ging, sie trage nur seidene Wäsche. Rieke erlebte den stolzesten Tag ihres Lebens, sie wurde angestaunt, gelobt und bewundert. Und wenn sie auch mit ihrem nüchternen Menschenverstand gut wußte, wieviel Neid sich hinter all diesen rühmenden Worten verbarg, so tut Lob eben doch wohl, auch wenn's nicht ganz ehrlich gemeint ist.

Der alte Busch wurde unruhig von all den Frauen und ihrem Geschwätz. Er suchte nach seiner Mütze und verschwand, aber heute hinderte ihn Rieke nicht. Sie hätte ihm sogar noch eine Mark zugesteckt, wenn er darum gefragt hätte. Nimmermüde führte sie die Maschine vor, erklärte die Vorzüge des Rundschiffchens vor dem Langschiffchen, und wurde dabei immer rotbackiger und aufgeräumter. So fand sie Karl Siebrecht, als er von seiner Zeichenstube nach Hause kam. Die letzte Besucherin hatte sich verlaufen, und Rieke saß, schachmatt, aber selig, vor ihrer Maschine. »Karle«, sagte sie und kam ihm langsam entgegen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. »Karle, det is mein schönster Tag! Die Maschine is da, und alle haben se mir bewundert, Karle, heute bin ick janz glücklich ...«

»Das ist großartig, Rieke! Ich freu mich auch, über dich!«

»Ja, Karle, und det det so jeworden is, daran bist alleene du schuld. Seit ick dir in eure Kleinbahn sah – weeßte noch die ulkichte Nudel mit ihre Notbremse? –, seitdem jeht det jut bei uns!«

»Ach, Rieke, rede nicht! Was habe ich wohl mit der Maschine zu tun?! Die hättest du auch ohne mich angeschafft! War übrigens der Hagedorn selber hier?«

»Och!«

»Und ging alles glatt? Hat er nicht nach deiner Mutter gefragt?«

»Ach der! Der kann ville fragen – for den weeß ick imma 'ne Antwort. – Nee, Karle, red nich, ohne dir war det mit de Maschine nischt jeworden. Es ist nich bloß von wejen deinem Kostjelde, trotzdem det ville hilft. Nee, nich bloß darum. Es is von wejen die Kurage – seit ick dir kenne, ha ick 'ne janz andere Kurage im Leibe. Det is et.«

»Ach, Rieke, das beruht ganz auf Gegenseitigkeit! Ich freue mich immer auf dich, wenn ich abends nach Hause gehe.«

»Tust du det, Karl? Wirklich? Det is fein, det hätt ick nie von mir jedacht! Ick bin doch bloß 'ne unjebildete Berliner Krabbe aus 'm Wedding, aber det is jut. Det macht mir Laune! – Und nu hör zu, Karl«, ohne weiteres ging Rieke Busch von den Gefühlen zur praktischen Seite des Lebens über, »ick wollt ja eijentlich erst zu Neujahr mit die Näherei for Feltens in de Jerusalemer Straße anfangen, aber ick habe mir det anders übalegt. Det sind noch elf Tage – wat soll ick de neue Maschine unjebraucht stehenlassen? Ick mache schon morgen bei Feltens, und wenn de Zeit hast, denn kommste mit. Det is ne janze Wucht Stoffe, die ick da kriege, die schaff ick nich alleene. Wenn de mir die buckeln hilfst, Karle, det soll mir ooch uff 'ne Molle nich ankommen, junger Mann!«

»Natürlich, Rieke, helf ich dir, und die Molle spendiere lieber dem Vater. Wo ist er denn? Schon wieder weg? Vater wird immer geheimnisvoller, um den müssen wir uns mal kümmern.«

»Recht haste, Karl, man müßte bloß mehr Zeit haben. Also morjen zittan wa bei Feltens.«

Und so zitterten sie denn am nächsten Tage wirklich zu Feltens. Karl Siebrecht entdeckte, daß auch bei dieser Firma schon alles auf eine Frau Friederike Busch vorbereitet war, aber zur Beruhigung seines Gewissens brauche er hier nichts zu bestätigen, er mußte auch nicht den großen Bruder spielen. Nur als sich die Haufen zugeschnittener Mantelteile immer höher vor Rieke auftürmten, meinte Herr Feiten unzufrieden: »Deine Mutter hätte auch gut mitkommen können, Kleine. Das schafft ihr beide nicht – ihr schmeißt mir die Stoffe bloß in den Schneematsch!«

»Det schaffen wa alles, Herr Feiten«, antwortete Rieke ungerührt. »Wat denken Se, wat ick for Kräfte habe! Und mein Freund erst – der is nämlich uff 'n Zeichenbüro. Bauzeichner ist der –« Nun ist allerdings nirgendwo bekannt, daß Bauzeichner über sonderliche Kräfte verfügen müßten, aber so frei Rieke von jeder Eitelkeit für die eigene Person war, so stolz war sie auf ihren Freund. Sie harrte das übrigens gleich wieder vergessen, sie stürzte sich in einen zornigen Streit mit Herrn Felten, der ihrer Ansicht nach nicht genug Nähgarn herausgeben wollte. »Det jibt et nich, Herr Felten!« rief sie schrill. »Mir können Se nich belackmeiern! Drei Rollen Garn uff fuffzehn Mäntel?! Bei Sie piept's wohl?! Uff zehn Mäntel drei Rollen, und det is schon wenig, manche geben ooch vier Rollen uff zehn Stück!«

»Das hier sind aber alles Kindermäntel!«

»Als wenn ick det nich wüßte! Jlooben Sie, Sie haben alleene Oogen int Jesichte?! So blau! Nu her mit's Jarn, Männecken, noch zehn Rollen, sare ick ...«

Zu Anfang waren Karl Siebrecht solche Auseinandersetzungen seiner Rieke recht peinlich gewesen. Er war mit einem gewissen Feinheitstick aus seiner Kleinstadt nach Berlin gekommen, aber er hatte rasch begriffen, daß, was in der Kleinstadt galt, hier noch lange nicht genügte. In Berlin mußte man schimpfen können, wer da dachte, mit flüsternder Vornehmheit sich zu behaupten, der lag schon unter dem Schlitten. Eine beliebte Redensart Riekes war es, daß fein von dünn kommt und: dünn toogt nischt, dünn reißt imma! So hörte Karl Siebrecht jetzt auch den Streit zwischen Rieke und Herrn Felten mit stillem Vergnügen an, fest davon überzeugt, seine kleine Freundin werde schon zu ihrem Recht kommen. So wurde es auch. Herr Feiten legte zwar keine zehn, aber er legte doch sechs Rollen zu. Beide grollten leise nach, und doch war beiden anzumerken, daß sie nicht unzufrieden waren und daß keines dem anderen böse war. Nur als die Stoffberge nun in zwei große schwarze Schneidertücher eingeschlagen waren, als Rieke und Karl sie auf den Rücken nehmen wollten, erwies sich, daß hier Herr Feiten recht gehabt hatte: die Last war zu schwer. »Ich habe es ja gleich gesagt«, meinte Herr Felten, überlegen lächelnd, »ihr schafft das nicht; ihr hättet eben die Mutter mitbringen sollen!« Er war aber durch seinen Sieg gnädig gestimmt. »Dann soll euch für diesmal der Laufbursche die Mäntel mit dem Lieferrad hinfahren – aber nur diesmal, verstanden? Ausnahmsweise! Sonst ist Abholen und Bringen eure Sache!«

»Vasteht sich, Herr Chef!«

»Franz!« schrie Herr Felten. »Franz, komm mal her!« Aber kein Franz rührte sich in den dunklen Tuchgewölben. »Wo der Bengel bloß mal wieder steckt?! Der schläft auch ewig! Ich will doch mal sehen –« Herr Felten ging auf sachten Sohlen in die immer tiefere Dunkelheit zwischen den düsteren Stoffregalen, und auf sachten Sohlen folgten ihm Rieke und Karl Siebrecht. Leise öffnete der Chef die Tür zu einem Verschlag, und da lag nun, matt von einem nur halb vorhandenen Gasglühstrumpf beleuchtet, der Botenjunge der Firma Felten. Aus Stoffballen, aus dem schönsten Aachener Samt, hatte er sich eine Lagerstätte bereitet, da schlief er, sanft und selig, in allem Dreck und Speck seiner völlig ungewaschenen siebzehn Jahre, aber wahrhaft fürstlich zugedeckt, wiederum mit Aachener Samt. Herr Felten war so erschrocken, daß ihm die Arme sanken. »Mein schöner Samt«, flüsterte er. »Zehn Mark der Meter – und dieser Schweinekerl legt sich ...«

Zum Schaden des Schläfers verwendet man in der Konfektion noch Maßstäbe, die aus hartem Holz geschnitten und auf einen Meter geeicht sind. Der Gedanke an den hohen Preis seines Aachener Samts hatte die Arme des Herrn Felten elektrisch belebt, ein Meterstock war zu Hand gewesen und fing schon an zu tanzen. Mit einem Schrei fuhr der Junge von seinem Samtlager hoch und begann zu springen unter dem Stock, der auch sprang. »Herr Felten, lassen Sie das!« jammerte er. »Herr Felten, ich bitte Sie! Herr Felten, mir war so kalt! Herr Felten, ich lasse mir das nicht gefallen!«

Aber der Stock tanzte unbarmherzig weiter, und in dem engen Käfterchen gab es kein Entrinnen für den Jungen. »Zehn Mark –« stöhnte Herr Felten. »Warte, Franz, dir will ich schon heiß machen! Bei mir sollst du nicht frieren! Zehn Mark, und legt sich mit seinen dreckigen Schuhen darauf –« Die letzte Erwägung verlieh Herrn Feltens Armen besondere Kraft, der Stoff pfiff nur so durch die Luft, der Junge stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Mit der Kraft der Verzweiflung rannte er gegen seinen Peiniger an. Der kam ins Wanken, und zwischen Karl und Rieke entsprang der Knabe Franz in das weitläufige, düstere Lager. »Verfluchter Bengel, warte nur!« rief Herr Felten und sprang ihm, den Stock fester packend, nach.

Aber jetzt half ihm der Stock nichts gegen die schnelleren Beine des Jungen. Eilig huschte der um die Regale, die ungeschickten Schläge fielen nur auf Holz, nie auf Fleisch, und während Herr Felten, immer knapper an Atem, nur noch leise ein »Zehn Mark –« ächzte, schrie der Bengel ihm immer gellender seine Beschimpfungen ins Gesicht: »Sie alter Aasvogel, Sie! Sie Kinderausbeuter! Sie Blutsauger! Sie können mich –! Ich mach hier überhaupt Schluß! Machen Sie Ihren dreckigen Laden alleine! Ich zeige Sie auf dem Gewerbeamt an! Sie Stoffschinder! Sie alter Samthengst, Sie!« Rieke und Karl Siebrecht hielten sich die Seiten vor Lachen. Denn nun war der Knabe darauf geraten, im Vorbeilaufen Stoffballen um Stoffballen aus den Regalen zu reißen. Dumpf polternd fielen sie zu Boden, sie wirbelten Staub auf, der den matten Schein der spärlichen Gaslampen verdüsterte. Manche entfalteten sich, sie legten sich um die Füße des nachstolpernden Felten, der nur noch leise jammern konnte. »Das will ich dir zeigen, du alter Papageienvogel!« schrie triumphierend der Bengel. Er stemmte seine Schulter gegen ein Regal, es neigte sich – und dumpf polternd stürzte es. Aus einer alles verhüllenden Staubwolke, die sich über dem Kampfplatz erhob, tönte die klägliche Stimme des Chefs: »Höre auf, Franz! Bitte, höre auf! Ich will dich auch bestimmt nicht mehr schlagen –«

»So, willst du das nicht mehr?« schrie schrill der Botenjunge. »Sei froh, wenn ich dich nicht schlage! Willst du mir meine Papiere geben, du alter Lohndrücker, du?! Du vertrocknete Maßelle, du!«

»Ja, ja! Bitte, Franz, schmeiß nicht noch mehr um!«

»Und willst du mir meinen vollen Wochenlohn geben? Zwölf Mark!«

»Franz, das geht nicht! Das ist Erpressung! Heute ist erst Donnerstag! Sechs Mark will ich dir geben – oh, du liebes Jesuskind im Himmel! Da schmeißt er schon wieder ein Regal um!«

Donnergepolter ertönte, der Staub verdichtete sich, kläglich schrie Felten: »Ja, ja, Franz! Du sollst zwölf Mark haben! Höre nur endlich auf!«

»Aber in drei Minuten, Chef«, klang drohend die Stimme aus der Staubsäule, »sonst fliegt wieder was hin!«

»Ja, ja doch, Franz, laß mich doch nur suchen! Man sieht ja nichts vor Staub!« Sie hörten den Felten niesen, röcheln, husten, stöhnen, mit Papier rascheln. Auch sie husteten, rieben sich die Augen. Ein kalter, frischer Windzug fuhr in den Staub: Franz hatte die Ausgangstür aufgestoßen, um sich einen raschen Abgang zu sichern. Aus der sich senkenden Wolke tauchten zuerst die Häupter der Kämpfer auf, mit zerrauften Haaren, die Gesichter mit Staub und Schweiß verklebt. »Hier sind deine Papiere und dein Geld, Franz«, rief sanft der Chef und wedelte damit.

»Und was haben Sie in der anderen Hand? Die Elle! Du falscher Hund, du!« schrie der Botenjunge. »Gleich legen Sie alles auf den Tisch – und nun gehen Sie ganz zurück, zu den beiden Hübschen da, sonst donnert's noch einmal! So ist es recht, Chef, immer hübsch artig!« Der Junge nahm Geld und Papiere, sah sie flüchtig an. »Siehste, wie hübsch das geht, Chef!« rief er noch. Er warf sich mit aller Kraft gegen ein Regal. Der Donner des Sturzes mischte sich mit einem Klageseufzer von Herrn Felten. Laut schlug die Ausgangstür zu: der Junge war entflohen.

»Da gibt es gar nichts zu lachen!« sagte Herr Felten verdrossen. »Den Bengel zeige ich bei der Polizei an! Den mache ich haftbar! Na, hört schon auf zu lachen, faßt lieber an beim Aufräumen. Lieber Gott, wie sieht mein schönes Lager aus –« Und zu diesem Seufzer hatte Herr Felten wirklich alle Veranlassung, das Lager sah aus, als hätten Räuber darin gehaust. Ganz unmöglich schien es, daß ein einzelner Junge in fünf Minuten eine derartige Verwüstung hatte herbeiführen können. »Na, nun faßt doch an!« sagte Herr Felten ungeduldig. »Fangt an, die Ballen aufzuwickeln. Und bürstet die Stoffe vorher gut ab – hier sind Bürsten –«

»Hören Se mal, Herr Felten«, sagte Rieke, »Sie sind ja komisch! Wat jeht denn uns Ihr Lager an? Sind wir Ihre Anjestellten? Sie schnauzen uns hier an ...«

»Ich habe euch doch nicht angeschnauzt! Ich habe euch bloß gebeten, mir zu helfen –«

»Jebeten? Ick höre imma jebeten. Hast du wat von jebeten jehört, Karl?«

»Kein Gedanke! Angeschnauzt haben Sie uns, Herr Felten! Komm, Rieke, wir gehen nach Haus!«

»Aber nun seid doch nicht so«, bat Herr Felten nun wirklich flehentlich. »Ihr könnt mich doch nicht so sitzenlassen! Das dauert doch Stunden, bis ich das allein aufgeräumt kriege! Ich will euch ja gerne was geben!«

»'nen Taler für jeden!« sagte Rieke rasch. »Det ist jemacht!«

»I wo, Rieke!« rief Karl Siebrecht. »Fünf Mark für jeden – und das ist noch billig, was, Herr Felten? Wo wollen Sie denn jetzt am späten Abend noch Leute herkriegen?« Karl Siebrecht fand, er mußte nun auch anfangen, ein bißchen geschäftstüchtig zu werden, sich auf Berlin umzustellen. Rieke sollte ihm doch nicht in allem Praktischen überlegen sein!

Sie sprang ihm auch sofort bei. »Recht haste, Karl!« rief sie. »Fünf Mark für jeden, det is noch billig, Herr Chef. Und denn überhaupt, wo mein Freund Bauzeichner is, der macht doch so 'ne Arbeit sonst überhaupt nich.« Und nach einigem Zappeln und vielem Stöhnen willigte Herr Felten denn auch schließlich in den Preis. Eine Weile arbeiteten die drei fast schweigend, nur die kummervollen Seufzer des Herrn Felten unterbrachen von Zeit zu Zeit die Stille. Als wieder ein besonders schwerer Seufzer im Lager erklang, sagte Rieke: »Der kam aber von't Herze, Herr Felten.«

»Der verfluchte Bengel!« seufzte Herr Felten nun laut. »Mich gerade zum Fest sitzenzulassen! Wo kriege ich jetzt einen Laufjungen her?«

»Daran hätten Se denken müssen, ehe Se den Stock in de Hand nahmen, Herr Felten«, sagte Rieke weise.

»Und der Dreckfink soll seine Füße ungestraft an meinem schönen Samt abwischen dürfen! Zehn Mark kostet mich der Meter!«

»Det wissen wa nu, Herr Felten. Aba wer woll am meisten jestraft is, Sie oder er?« Felten seufzte nur.

Karl Siebrecht aber meinte: »Wenn Sie einen Handkarren hier haben, will ich unsere Stoffe schon nach Haus fahren, Herr Felten. Ich bringe den Karren dann morgen früh zurück, ehe ich aufs Büro gehe.«

»Es ist ein Dreirad«, seufzte Herr Felten. Und nach einigem Überlegen: »Sagen Sie mal, was sind Sie? Bauzeichner? Wann machen Sie denn da Schluß?«

»Meistens um fünf. Wieso?«

»Vielleicht sind Sie zu fein dazu – die jungen Leute sind ja alle zu fein heute fürs Geldverdienen –, aber wenn Sie dann abends noch drei, vier Stunden kämen und lieferten mir die Ware ab? Bloß, bis ich einen anderen Jungen habe?«

»Wat meenste?« fragte Rieke.

»Was würden Sie denn dafür ausgeben?« erkundigte sich Karl Siebrecht. »Na, fünf Mark habe ich gedacht.«

»Fünf Mark den Abend, det is nich schlecht! Det würde ick mir überlegen, Karl!«

»Den Abend! Bin ich denn wahnsinnig? Die Woche meine ich natürlich!«

»Das ist ja ein feines Geschäft, was Sie mir da vorschlagen, Herr Felten«, sagte Karl Siebrecht. »Ich mache Ihnen nach Feierabend die Arbeit von Ihrem Botenjungen, und statt zwölf Mark geben Sie mir fünf. Danke schön.«

»Recht haste, Karl!«

»Aber der Junge war zehn Stunden hier!«

»Reden wir nicht mehr davon, Herr Felten!«

»Ich meine doch nur, der Junge hat hier zehn Stunden gearbeitet und Sie –«

»Wir reden nicht mehr davon, Herr Felten!«

»Ich meine doch nur ...«

»Wo mein Freund Bauzeichna is – der verdirbt sich bloß seine Hände!«

»Wir reden nicht mehr davon, Rieke.« – Nachdem sie noch eine Viertelstunde davon geredet hatten, war Herr Felten erledigt: für einen Wochenlohn von zwanzig Mark wurde Karl Siebrecht der Aushilfslaufbursche der Firma Felten.

»Paß uff, Karle«, sagte Rieke bei ihrem späten Heimweg. Sie ging eilig neben ihm, der ihre Mäntel auf einem Dreirad beförderte. »Paß uff, Karle, nu vadienen wa Jeld wie Heu!«

»Beruf es bloß nicht, Rieke«, sagte er warnend, aber auch er war zufrieden und stolz. Er hatte das Gefühl, als hätte er nun den Fuß auf die unterste Leitersprosse gesetzt. Hinauf, hinauf auf die Stadtmauer von Berlin!


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