Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

27. Streit mit Kalli Flau

Eine halbe Stunde später hatte der Schmied das Wagenrad geflickt, und der Großvater war auf den Lehrter Bahnhof geschickt worden. Er sollte sich ruhig ein bißchen vor die Halle in die schöne Sonne setzen und den Schreck ausschwitzen. Die Fuhre schafften sie schon allein, und das andere würde alles noch gut werden ...

Nun waren sie die Invaliden- und Paulstraße hinuntergefahren und kamen am Schloß Bellevue vorbei in den Tiergarten. Die Bäume waren noch kahl, aber im Sonnenschein sahen ihre Linien sanfter aus, als runde schon der aufsteigende Saft die Äste. Der Rasen aber wurde wirklich grün, und überall brachen aus ihm in gelben, lila und weißen Tuffs die Kelche des Krokus. Die beiden hatten bis dahin sehr rasch gezogen, als wollten sie die verlorene Zeit einbringen, nun verlangsamte sich ihr Schritt. Schließlich gab Kalli das Schieben hinten auf und kam nach vorn zu Karl. Er legte nur eine Hand auf den Holm und sagte: »Laß uns nur langsam gehen, Karl. Auf eine Viertelstunde kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

»Recht hast du!« gab Karl Siebrecht zu und schlenderte nur noch. »Wir wollen die Sonne genießen. Es werden noch genug schlechte Apriltage kommen. Gott sei Dank!«

»Warum meinst du Gott sei Dank?«

»Weil die Kerls bei schlechtem Wetter unseren Wagen eher gebrauchen werden als bei gutem.«

Einen Augenblick schwieg Kalli. Dann meinte er: »Du sagst ›unseren Wagen‹, Karl. Aber nimm es mir nicht übel, Karl, mir hast du bisher von der ganzen Geschichte noch nicht ein Wort gesagt.« Wieder schwieg er. Dann setzte er doch hinzu: »Und der Rieke wahrscheinlich auch nicht.«

»Nein, der auch nicht«, gab Karl Siebrecht zu und war ein wenig rot geworden. »Weißt du«, versuchte er sich zu entschuldigen, »ich wollte nicht eher reden, bis es soweit war. Ich mag das Hin-und-Her-Geschwätze nicht. Und dann ist es mir plötzlich über den Hals gekommen, ehe ich noch mit dir gesprochen hatte. Das hat mich selbst geärgert.«

»Ich hätte schon nicht hin und her geschwätzt«, sagte Kalli Flau. »Du weißt gut, Karl, ich mach bei allem mit, was du anfängst. Mit mir kannst du Pferde stehlen. Aber reden wir nicht mehr davon. Was willst du nun eigentlich anfangen?«

Karl Siebrecht setzte es ihm auseinander. Er wurde wieder warm dabei. Wieder fiel das Wort Hornochse. Jeder, der nicht einsah, daß diese neu Regelung für alle Teile vorteilhaft war, war eben ein Hornochse! Kalli Flau war keiner, er sah es sofort ein. Aber am meisten interessierte ihn nun die Frage, wo Karl Pferd und Wagen hernehmen wollte. Hätte er schon was Festes abgemacht? »Pferde!« sagte Karl Siebrecht mit Nachdruck. »Nicht ein Pferd – Pferde! Es muß gleich nach was aussehen, sonst beißt keiner an. Und ich habe auch einen guten Rollwagen. Das heißt, was Festes habe ich noch nicht ausgemacht, ich wollte erst sehen, wie das mit den Dienstmännern ausgeht.«

»Und wie ist es ausgegangen, Karl, was meinst du selbst?«

»Schlecht«, gab Karl Siebrecht zu.

»Und der Zusammenstoß mit dem Kiesow eben, war der nun schädlich oder nützlich? Der Blaue hat ihm doch gesagt, er soll sich mit uns einigen.«

»Mit dem Opa«, verbesserte Karl. »Mit dem wird er schnell fertig, dem gibt er eine Mark, und fertig ist der Lack. Auf uns aber wird er nun eine Extrawut haben, das heißt auf mich.«

»Auf mich sicher auch, ich habe ihm ja sogar Dresche angeboten. Du aber hast gesagt, du willst ihn nicht anzeigen.«

»Das hat alles nichts zu sagen. Dich mögen sie, und mich kann keiner ausstehen, weiß der Henker, warum!« Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Doch, ich weiß schon warum!«

»Warum meinst du denn, Karl?«

»Weil ich klüger bin als die! Das giftet die, darum können sie mich nicht leiden!« Er sah Kalli Flau herausfordernd an, und als der schwieg, fragte er: »Nun, stimmt das Kalli, oder stimmt es nicht?«

»Ach, Karl –« sagte Kalli und schwieg wieder.

»Was heißt das: ach, Karl –? Stimmt es oder stimmt es nicht?«

»Natürlich stimmt es nicht, Karl. Es gibt einen ganzen Haufen Leute, die klüger sind als die Dienstmänner am Stettiner. Das wissen die ganz gut, und das finden die auch ganz richtig, deswegen haben die noch lange keine Wut auf die Klügeren. Aber –«

»Aber –?« fragte Karl Siebrecht ungeduldig, als Kalli Flau noch immer schwieg.

»Ach, du schnappst ja doch ein, wenn ich es dir sage, Karl!«

»Ich schnappe bestimmt nicht ein, Kalli!«

»Doch tust du es!«

»Bestimmt nicht, Ehrenwort, Kalli!«

»Also meinethalben! Weißt du, Karl, du hast so eine verfluchte hochnäsige Art zu den Leuten. Zu allen, Karl, nicht nur zu den Dienstmännern. Auch zu Rieke und zu mir.«

»Ich habe euch doch nie –« fing Karl Siebrecht gekränkt an.

»Doch hast du, Karl! Du hast uns schon viele Male merken lassen, wie dumm wir sind und wie klug du bist. Du denkst immer, wir merken es nicht, aber wir merken es doch. Du mußt ja nicht immer die Leute gleich Hornochsen schimpfen –«

»Aber sie waren Hornochsen, richtige Hornochsen waren sie!«

»Ja, glaubst du denn, Karl, das haben sie dir übelgenommen, daß du sie Hornochsen geschimpft hast?! Die schimpfen sich noch ganz anders untereinander: Mistvieh und alter Madensack, deswegen schnappen die noch lange nicht ein. Aber wenn du sie schimpfst ...«

»Siehst du, es ist nur, weil ich es tue. Mich können sie eben nicht leiden!«

»Aber wenn du sie schimpfst, dann fühlen sie, daß du sie verachtest, und das kränkt sie. Darum ist dir heute auch alles schiefgegangen, und darum haben sie solche Wut auf dich. Sieh mal, Karl, daß es Arme und Reiche und Dumme und Kluge auf der Welt gibt, das wissen wir alle, und darüber regt sich keiner groß auf. Wenn nun aber die Klugen, die doch schon viel besser weggekommen, sind, anfangen, die Dummen verächtlich zu behandeln, dann muß es ja schiefgehen, Karl!«

Karl Siebrecht schwieg eine lange Weile still zu den Worten des Freundes. Sie waren nun schon in der Hofjägerallee, sie schlenderten langsam nebeneinander her. Leise ächzend lief die Karre hinter ihnen, Karl Siebrecht drückte nur gerade so viel auf die Holme, daß sie im Gleichgewicht blieb. Er schämte sich ein wenig, gerade die schlichte Art, in der Kalli gesprochen hatte, hatte so etwas Überzeugendes an sich. Und doch dachte er: Und ich habe doch recht! Sie sind nun mal Hornochsen, und das finde ich verächtlich. Nur nicht so anmerken lassen darf ich es mir – das war nicht richtig!

»Nun bist du also doch eingeschnappt, Karl«, fing Kalli wieder an.

»Nein, bin ich gar nicht, Kalli!«

»Und warum sagst du nichts?«

»Weil ich nachdenke.«

»Worüber denkst du denn nach?«

»Ach, nur so. – In einem hast du doch unrecht, Kalli. Daß ich es mit den Dienstmännern falsch angefangen habe, habe ich schon zugegeben. Aber daß ich dich und die Rieke verachte, ist nicht wahr, euch mag ich richtig gern. Ich weiß auch gar nicht, wann ich euch so was hätte merken lassen!«

Nun war es Kalli, der schwieg. Als ihn aber Karl Siebrecht drängte: »Sag nur ein einziges Beispiel, wo ich euch verächtlich behandelt habe«, antwortete er nur: »Ach, Karl, wozu soll man das alles heraussuchen? Es sind ja alles nur Kleinigkeiten!«

Karl Siebrecht rief: »Siehst du, gar nichts weißt du! Das hast du nur so hingesagt, und das finde ich nicht hübsch von dir! Ich bin immer euer guter Freund gewesen, und nun redest du so von mir! Und vielleicht sprichst du auch mit Rieke so über mich ...«

Bei diesen Worten des Freundes hatte sich Kalli Flau aufgerichtet. Unwillkürlich zog er stärker am Karren, der jetzt über die Tiergartenstraße fort in die Friedrich-Wilhelm-Straße rollte. Kalli sah den Freund ein paarmal von der Seite an, rasch, wischte sich mit der freien Hand über den Mund, schluckte und sagte dann grob: »Manchmal verdienst du einfach Prügel, Karl!«

»Was ist denn jetzt mit dir los?« rief Karl Siebrecht und sah den Freund erstaunt an. »'ne Schraube locker geworden, was?!«

»Bei wem wohl die Schraube locker geworden ist?« schrie Kalli plötzlich wütend. »Du willst mich hier wohl dummreden? Du willst mir Vorwürfe machen, als wenn ich mit Rieke über dich quatsche?! Gleich zwitschere ich dir aber eine, daß du ewig daran denken sollst!«

»Ich versteh wirklich noch immer nicht, was du eigentlich von mir willst, Kalli?« rief Karl Siebrecht, dem es zu dämmern anfing, daß er es wieder einmal falsch angefangen hatte.

»So, du verstehst nicht, du Hornochse, du?« schrie Kalli Flau, plötzlich rasend vor Wut. »Dann will ich es dir sagen, du Riesenroß! Von was willst du eigentlich dein großartiges Unternehmen starten? Womit willst du denn Pferde und Wagen bezahlen, he?«

»Du weißt doch, Kalli«, sagte Karl Siebrecht nun ganz verwirrt, »daß wir Geld gespart haben. Gestern waren es gerade hundert Mark –«

»So, haben wir Geld gespart, du Flachkopf?« schrie Kalli Flau immer rasender. »Du hast Geld gespart, du hast uns unser Geld abgenommen, heißt das, und dann gehst du her und erzählst allen Leuten von deinem großartigen Rollfuhrunternehmen, aber die Rieke und mich, uns fragst du überhaupt nicht! Ach, du hättest uns gar nicht zu fragen brauchen, nur davon erzählen hättest du sollen – keiner hätte ein Wort dagegen gesagt! Aber du bist ja so schrecklich fein, du kannst das Hin-und-Her-Geschwätze nicht vertragen! Und das nennst du Freundschaft, und mir willst du Vorwürfe machen?! Ich habe immer, ohne Wort, getan, was du willst! Aber du bist noch nie auf die Idee gekommen, uns auch nur zu fragen, ob uns auch recht ist, was sich dein hochgeborener Schädel ausgeheckt hat! Weißt du, was du bist, Karl? Das hochnäsigste Armloch von ganz Berlin bist du, und wenn du so weitermachst, dann kannst du dir deine Freunde bald mit der Laterne suchen! Bloß finden wirst du keine, die Rieke nicht und mich auch nicht!« Nach diesem kräftigen Ausbruch sah Kalli den Freund noch einmal zornig an, spuckte dann kräftig aus, sagte wegwerfend: »Ach was, überhaupt alles Scheibenhonig!« und zog kräftig weiter.

Karl Siebrecht aber war so bestürzt über diese unerwartete Meuterei seines Getreuesten, daß er im ersten Augenblick seine Gedanken nicht sammeln konnte, sondern nur aufs Geratewohl sagte: »Dir hätte ich schon alles erzählt, Kalli, aber die Rieke redet immer soviel über alles.«

Damit aber hatte er es erst richtig verkehrt gemacht. Der Kalli Flau tat vor Wut einen Satz, schüttelte ihm die Fäuste vor der Nase und schrie: »Sage das noch einmal, du verfluchter Lügner, du! Nun auch die Rieke schlechtmachen! Von was willst du denn leben die nächsten Tage bei deiner feinen Fahrerei, wenn kein Geld einkommt? Doch bloß von der Rieke! Und du willst behaupten ...«

»Ich habe bloß gesagt, daß die Rieke ein bißchen viel redet.«

»Die Rieke kann besser den Mund halten, wenn's darauf ankommt, als du! Du machst deine Klappe immer nur auf, wenn es ganz verkehrt ist! Aber ich habe es jetzt satt mit dir, Karl! Das eben hat mir den Rest gegeben. Bloß Freund sein zum Ja- und Amen-Sagen und zum Kuschen, dafür danke ich! Mach du dir von jetzt an deinen Dreck alleine, da fahre ich noch lieber auf der ›Emma‹ mit Käpten Rickmers!« Er hatte die Karre losgelassen und stolzierte jetzt steifbeinig wie ein zorniger Gockel zum Bürgersteig hinüber. Karl Siebrecht starrte ihm nach. Er konnte es noch immer nicht begreifen, daß dies geschehen war, wie es geschehen war, daß es endgültig zu Ende sein sollte. Nein, es war wirklich noch nicht zu Ende: Kalli Flau kam zurück. Mit zusammengekniffenen Augen und verächtlicher Miene sagte er: »Weil man dir so was ja noch extra sagen muß, Karl Siebrecht: mit der Rieke werde ich kein Wort über die ganze Sache reden, der erzählst du es am besten selbst. Und viel Spaß wünsche ich dir dabei!« Wieder spuckte er aus. Dann setzte er sich in Marsch, von Karre und Freund fort, der Herkulesbrücke zu. Die Jungen waren in der letzten Zeit nicht mehr recht weitergekommen, bei den erregteren Punkten ihrer Unterhaltung waren sie meist stehengeblieben. Kalli Flau ging an das Geländer der Brücke, stützte seine Arme darauf und fing an, in den Landwehrkanal zu spucken, ein Zeichen dafür, was er von dieser Welt und ihren Menschen hielt.

Karl Siebrecht legte sich in den Ziehgurt und brachte die Karre wieder in Gang. Wie schwer sie ihm plötzlich schien, da er allein an ihr zog! Als er im Rücken Kallis angekommen war, hielt er an und rief, erst halb, dann ganz laut: »Kalli! Kalli Flau!« Schließlich drehte sich Kalli Flau auch um, aber nur halb. Dabei macht er jene auffordernde Bewegung, die nicht nur unter seefahrenden Leuten und in Hafenstädten verstanden wird. Worauf er sich wieder dem Kanal zuwandte und seine Spuckerei neu aufnahm. »Na, denn nicht!« rief Karl Siebrecht patzig und fuhr los, alleine, nach der Kurfürstenstraße 72.


 << zurück weiter >>