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54. Derselbe und verwandelt

Er hatte niemandem geschrieben, daß er kommen würde. Zwei Hausdiener standen auf dem Bahnsteig, er gab dem vom Hotel Hohenzollern seinen schönen Lederkoffer und sagte, daß er erst später ins Hotel kommen würde.

Langsam ging er die Bahnhofstraße hinunter. Die Häuser sahen völlig unverändert aus, nur schienen sie niedriger geworden. Geduckt lagen sie unter dem hohen strahlenden Sommerhimmel. Da war der Laden von Biermann; vor diesem Schaufenster mußte der Großstädter lächeln über diesen ungeschickten Aufmarsch von Stallaternen, Zinkeimern, Waschmitteln, und in der Mitte stand ein Kaffeegeschirr mit großen, bunten Blumen! Wie er das alles bewundert hatte – früher! Er ging weiter, die Straße verengte sich, die Häuser rückten näher aneinander, aber höher wurden sie darum nicht. Die Frau, die ihn eben so neugierig angesehen hatte, war die Briefträgerfrau Bartels gewesen – sie hatte ihn nicht erkannt! Hier war das Café Bitterling, einmal in der Woche hatte er hier mit Minna Kuchen geholt, aus dem Laden, in das Café selbst hatte er nie gedurft. Er konnte über die Mauer in den Schulhof sehen, zehn Jahre seines Lebens war er dort in der großen Pause herumgelaufen. Jetzt war der Schulhof ganz leer, auch aus den Fenstern drang kein eifriges Gesumm – ach ja, jetzt waren die großen Ferien. Er ging immer schneller über den kleinen Marktplatz in den Gerstgrund hinein. Was ging ihn das eigentlich alles an? Was hatte er mit diesen Häusern und Menschen zu tun? Mochten sie glücklich sein, mochten sie weinen, er wußte nichts von ihnen, er gehörte nicht mehr dazu!

Tief aufatmend stand er vor dem Haus des Vaters still. Er sah es lange an, es war frisch verputzt und rosa getüncht, es sah fremd und vertraut aus. Hinter jenem Fenster gleich neben dem Eingang hatte der Vater sein kleines Büro gehabt – wie oft hatte er den versorgten, so früh gealterten Kopf dort über Rechnungen gebeugt gesehen, wenn er aus der Schule gekommen war! Jetzt hing dort ein messingblankes Vogelbauer, er hörte den Kanarienvogel singen ... Ein kleines Schild war an der Tür, er ging hin, um zu sehen, wer jetzt in dem Hause wohnte. »Fritz Gelsen, Prozeßagent« stand darauf. Er kannte keinen Gelsen – der Mann mußte erst nach seiner Zeit zugezogen sein, und nun war es doch so, daß diesem Neuen das Haus wirklich gehörte, aber er, der es in sich hatte, besaß es nicht! Wenn ich einmal viel Geld habe, werde ich mir das Haus kaufen, dachte er. Und ganz schnell: Nein, nur nicht! Was geht mich das Haus an! Er ging schnell hinten herum und spähte in den Garten. Der Garten war leer, er hätte ungehindert eintreten können, aber er zögerte. Die alten Obstbäume waren abgehauen, auch die mit Buchsbaum eingefaßten Blumenrabatten waren verschwunden. Und dahinten – ach, auch der Geräteschuppen an der Mauer, in dem er ein paar selige, verwirrte Minuten erlebt hatte, war fort. Niedergerissen, keine Spur mehr von ihm – jetzt waren Mohrrübenbeete dort. Alles vertraut und doch fremd geworden! Alles verwandelt, gleich und verwandelt, wie er derselbe und doch verwandelt war. Er warf nur einen raschen Blick auf die Hinterfront des Pastorenhauses – dies sparte er sich für den Schluß auf – dann ging er eilig.

Er stand auf dem Kirchhof. Hier waren die Gräber von Vater und Mutter. Auf dem Stein stand jetzt auch: »Hermann Siebrecht, gestorben am 11. November 1909« – das hatte die alte Minna besorgt. Beide Gräber waren jetzt dicht mit Efeu übersponnen, man sah nichts mehr davon, daß sechzehn Jahre zwischen dem Todestag von Mutter und Vater lagen – so völlig gleich waren sie sich geworden. Und in seinen Ohren klangen noch die Worte des Pastors Wedekind: »Staub zu Staub! Asche zu Asche! Erde zu Erde!« Unwillkürlich sah er zu jenem Grabstein hinüber, hinter dem damals die Jugendfreundin gestanden hatte. Dann fiel ihm die Aster ein, die er aus des Vaters Gruft herausgeholt hatte. Er griff nach seiner Brust, er lächelte unbestimmt. Wo war die Aster? Er trug sie nicht mehr bei sich auf dem Herzen, er hatte sie verloren, er wußte nicht einmal wann! Vorbei! Vorbei! Was sollte er noch hier? Auch hier war seine Jugend nicht, er hatte sie auch hier nicht wiedergefunden, wenn sie noch irgendwo war, so bei der alten Minna, die ihn aufgezogen hatte, die seine getreueste Freundin gewesen war – dieses alte Mädchen mit seinem trockenen unbeweglichen Holzgesicht. Er mußte zu Minna.


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