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50. Nach dem Sieg

Ja, da hielt das Wagenseilsche Gespann, und Karl Siebrecht betrachtete es mit Anerkennung und Wehmut. Wenn er nur einmal, wenn er nur ein einziges Mal mit einem solchen Gespann vor dem Bahnhof hätte halten können! Da fehlte aber auch gar nichts! Die neuen Geschirre glänzten nur so von Lack und Neusilber, die hellen Mähnen der leichten Belgier waren in viele Zöpfchen geflochten, und ihre Hufe waren so spiegelnd geputzt wie höchstens die Lackstiefel eines Offiziers vom Gardekürassier-Regiment. Der Rollwagen war frisch überholt, über ihm hing ein großes Schild: »Einzige Bahnhofs-Gepäckbeförderung. Inh. Franz Wagenseil.«

Karl Siebrecht wandte sich an seinen Beifahrer: »So hätten wir es einmal haben sollen, was, Jahnke?«

»Das können Sie wohl sagen, Herr Siebrecht! Aber nicht einen Koffer haben die auf dem Wagen!«

»Der Beifahrer wird drinnen im Bahnhof sein. Zu Anfang werden die wohl noch Gepäck kriegen, aber wir hängen sie schon ab! Jetzt sind wir die Schnelleren.« Und zu dem noch unerfahrenen Chauffeur: »Am besten reden Sie mit den Leuten von dem Gespann vor uns gar nicht! Die sind nämlich Konkurrenz!«

Worauf der Chauffeur voll Verachtung erwiderte: »Ick und mit Pferdekutschern reden? So 'ne Leute seh ick übahaupt nich! Mit so 'ne Leute mach ick mir doch nich jemein!«

Karl Siebrecht kam mit Jahnke an die Gepäckausgabe, und wer stand dort, eifrig, hitzig redend, fast schon schimpfend? Mit schwarzledernen Gamaschenbeinen der Herr Franz Wagenseil selbst! Auf einen Ruck verstummte er, als er Karl Siebrecht sah. »Ich möchte Gepäck holen!« sagte Karl Siebrecht und sah den Franz Wagenseil gar nicht.

»Mit was holen Sie denn heute?« wurde er vorsichtig gefragt. »Wieder bloß mit dem Handwagen?«

Karl Siebrecht lächelte. »Mit 'nem Kanalljenvogel!« platzte Jahnke los. »Bloß, wat een Kanalljenvogel uff dem Schwanz wegträgt!« Alle platzten los.

»Ich fahre von nun an nur mit Autos!« sagte Karl Siebrecht, als sie sich ein wenig beruhigt hatten.

»Also denn ran mit den Karren! Und sehen Sie, daß wir heute ein bißchen Luft kriegen, es ist wirklich so kein Arbeiten mehr!«

»Heute kriegen Sie soviel Luft, wie Sie nur brauchen!« antwortete Siebrecht, und sie fingen an, die Karren vollzupacken.

Franz Wagenseil war verschwunden. Und er blieb auch verschwunden, eine ganze Weile lang. Er erkundigte sich wohl bei dem Chauffeur des gelben Wagens nach allem Näheren, das der auch nicht kannte.

Sie waren gerade dabei, die ersten Gepäckkarren zum Auto zu stoßen, als Wagenseil wieder angestürzt kam. Er war blaß, seine Hände zuckten. »Das dürfen Sie nicht!« schrie er schon von weitem. »Wenn Sie mir kein Gepäck geben wollen, dürfen Sie dem erst recht keines geben. Der ist ja noch minderjährig, der ist ja bloß ein Rotzjunge! Der darf ja noch gar keine Firma haben –!«

»Das müssen Sie mit der Eisenbahndirektion ausmachen!« wurde ihm geantwortet. »Wir haben Anweisung, nur an die Firma Siebrecht & Flau auszuhändigen.«

»Aber seit wann denn? Früher hat doch jeder fahren dürfen! So etwas gibt es ja gar nicht!«

»Seit wann? Vor einer Stunde ist hier angerufen worden. Ja, Herr Wagenseil, da sind Sie eben ein bißchen zu spät aufgestanden. Hätten Sie den Mist mit den halbtoten Pferden nicht gemacht! – Obacht! Obacht! Sie!« Der »Sie« war Franz Wagenseil. Er stand so bestürzt da, daß er sich beinahe hätte umfahren lassen. Zum erstenmal sah Karl Siebrecht seinen ehemaligen Fuhrherrn ohne ein Wort. Einmal in seinem Leben wußte Franz Wagenseil nichts zu antworten. Der Findige, der Schlaue, der Beschlagene, der Bedenkenlose – nun standen einmal seine eigenen Taten gegen ihn auf. Er wußte nichts zu sagen, er konnte nichts tun. Als sie wieder in den Bahnhof zurückkamen, war er verschwunden. Und als sie wieder aus dem Bahnhof herauskamen, war sein Gespann fortgefahren. Es war ein leichter Sieg gewesen, ohne Kampf erfochten, man hatte keine Ursache, auf dieses Schlußgefecht besonders stolz zu sein! So viele hatten zu diesem Siege geholfen, zum Schluß noch am meisten der Herr Regierungsrat Kunze! Mit Dankbarkeit dachte Karl an diesen verstaubten Mann im dunklen Büro am Schöneberger Ufer.

Sie fuhren und fuhren an diesem herrlichen Maitag, sie beförderten Koffergebirge. Und während sie so dahinfuhren in der Maisonne, heiß vom Verladen und gekühlt vom Fahrwind, grübelte Karl Siebrecht schon über Autos mit größeren Pritschen. Er mußte sich auch eine andere Sorte Chauffeure heranziehen als diese Herren, die zu fein waren, einen Koffer anzufassen, die nur fahren wollten. Sie wurden viel zu teuer. Karl Siebrecht war gerade in solchen Gedanken, als er von einer Mädchenstimme angesprochen wurde: »Würden Sie wohl meine Handtasche zum Stettiner Bahnhof befördern?«

Rot werdend, starrte er in das lockenumrahmte Gesicht von Fräulein Ilse Gollmer!

Boshaft fuhr sie fort: »Sie sind doch Spezialist in Handtaschen, nicht wahr?«

»Ach Gott, Fräulein Gollmer!« rief er glücklich. »Das ist aber nett von Ihnen, daß Sie mich auch besuchen!«

»Ich Sie besuchen? Na, wissen Sie! Ich kam hier gerade vorbei und sah dies komische gelbe Auto, und da habe ich –« Jetzt wurde auch sie rot: »Sie haben ja eine dolle Schürze um, Sie sehen beinahe so schön aus wie als Gärtner! Ich finde aber, Sie können Ihre Schürze mal waschen lassen!«

»Leder kann man doch nicht waschen, Fräulein Gollmer«, entschuldigte er sich.

»Dann kratzen Sie es wenigstens mal mit einem Messer ab!« Sie musterte ihn kritisch: »Ihr Scheitel ist auch nicht in Ordnung, und Sie haben nicht einmal einen Schlips um!«

Nachdem sie ihn so völlig zerschmettert hatte, nickte sie gnädig: »Adieu, Herr Siebrecht, übrigens soll ich Sie von Vater daran erinnern, daß Sie ihm einen Distelstecher versprochen haben!« Sie ging, und Karl Siebrecht fiel erst drei Minuten später ein, daß sie ihn also doch extra aufgesucht hatte, sonst hätte sie ihm ja keine Bestellung des Vaters ausrichten können! Sie war ein großartiges Mädchen!

Sie fuhren immer weiter an diesem schönen Maientage, Karl Siebrecht war leicht und froh zumute – aber noch waren nicht alle Schatten der Vergangenheit verschwunden! Da war nun dieser Pferdehändler Engelbrecht – Karl Siebrecht hatte den Mann dann und wann auf dem Fuhrhof gesehen, einen schweren, schlaffen Mann mit einem talgigen Gesicht und merkwürdig kleinen Augen –, auch er suchte Karl Siebrecht auf, einen jungen Menschen, dessen Gruß er früher kaum erwidert hatte.

Karl Siebrecht fuhr auf dem Auto. Er stand ungeduldig neben der vollbeladenen Pritsche – was hatte all diese Rederei für einen Zweck? Begriffen diese Menschen nie, daß Schluß wirklich Schluß hieß? »Es hat gar keinen Zweck, Herr Engelbrecht!« sagte er ungeduldig. »Ich fahre jetzt mit Autos, weil Autos wirtschaftlicher sind. Der Franz kann schicken, wen er will: er kommt doch nie mehr in Frage!«

»Ach, der Franz!« Der Viehhändler machte eine wegwerfende Bewegung. »Der hat sich seine eigene Grube gegraben. Ich rede doch nicht für den Franz. Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Ich habe ein vollstreckbares Urteil gegen die Wagenseils: heute nachmittag noch laß ich ihnen den ganzen Fuhrhof mit Rupps und Stupps pfänden. Ich kann die Stallungen gut für meinen Betrieb brauchen. – Sie haben ja wohl auch eine Stange Gold von denen zu kriegen?«

»Vielleicht.«

»Na, Sie werden Ihr Geld auch nie wieder zu sehen bekommen – Sie nicht und der Ziegenbrink auch nicht. Der hat ihn jetzt in der Zange, aber es fällt nichts mehr raus bei dem Franz. Und bei ihr auch nicht. Gerade noch das Zeug, das sie auf dem Leibe tragen, so alle sind sie –! Ich habe besser aufgepaßt, ich bin jedenfalls zu meinem Geld gekommen.« Er reckte sich schläfrig, aber nur schwach. »Nun wollte ich Ihnen vorschlagen, daß ich als Kompagnon in Ihre Firma eintrete. Ich habe immer Pferde zu stehen, denen ein paar Tage Arbeit nur guttun. Die eiligen kleinen Fuhren machen Sie mit Autos, die schweren mit Pferden.«

»Nein, danke schön, Herr Engelbrecht.«

»Nicht so schnell! Man kann ja ein Wort darüber reden, nicht wahr? Ich bin nicht der Franz, ich bringe nicht nur die Pferde ein, ich würde mich auch mit Geld beteiligen. Ich habe nun mal das Gefühl, mit Ihnen ist Geld zu machen. Was meinen Sie zu einer Beteiligung mit zwanzigtausend Mark –?«

»Und die Wagenseils haben wirklich nichts mehr?«

»Nichts! Nicht mal mehr ein Zimmer. Nicht mal mehr ein Bett, aber die Leute haben es ja nicht anders gewollt. – Nun, wie ist es mit uns beiden? Wir machen einen anständigen Vertrag vor anständigen Anwälten.«

»Nein, danke wirklich, Herr Engelbrecht.«

Es war schwer, diesen langsamen, zähen Mann loszuwerden. Vielleicht war es auch nicht einmal richtig. Siebrecht konnte schon Betriebskapital gebrauchen. Aber er wollte mit all diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Von nun an würde er nur noch mit Menschen wie Gollmer oder Frenz arbeiten. – Saubere Geschäfte! Nichts mehr vom Schlage Wagenseil!

Und während er weiterfuhr und verlud, mußte er an diesen Mann denken, den er einmal auf eine gewisse Art gerne gemocht hatte, auf dessen Fuhrhof er aus und ein gegangen war, den er bei hundert Verrichtungen gesehen hatte, übereifrig, eifrig, dann immer lässiger werdend. Das leichte Geldverdienen hatte ihn verdorben. Weil Karl Siebrecht ihm ein gutes Geschäft gebracht hatte, war er zugrunde gegangen. Was den einen gehoben hatte, hatte den anderen in den Schmutz gedrückt. Karl Siebrecht sah diesen Mann, wie er heute losgefahren war mit seinem funkelnden Gespann: die Pferde waren geborgt, die Geschirre waren geliehen, alles Funkeln war unecht, das Silber war nur Neusilber! Er aber glaubte, alle Trümpfe in der Hand zu haben, siegesgewiß fuhr er zum Bahnhof. Dann fielen alle Karten gegen ihn, seine Trümpfe stachen nicht, der Spieler begriff, daß er alles verspielt hatte, nichts blieb ihm. Doch ja, eines: ein Weib, das ihn haßte, das er haßte – die schwarze Treffdame, seine Unglückskarte, die blieb ihm!

Es war spät, als Karl Siebrecht in die Eichendorffstraße zurückkam. Es war noch später, als er sein Abendbrot aß. Rieke war allein bei ihm in der Stube. Sie war unruhig, sie war bedrückt. Immer wieder ging sie an das Fenster und spähte durch die Gardinen.

»Ist da etwas? Wonach siehst du?«

»Ach nischt!« Sie kam an den Tisch zurück, sah schweigend seinem Essen zu. Dann ging sie wieder zum Fenster.

»Da ist doch was! Wonach siehst du denn?«

»Ach nischt! Bloß, die beiden stehen noch immer da!«

»Welche beiden?« Aber er wußte schon die Antwort.

»Na, die Wagenseils doch! Franz und Else!«

»So!« sagte er. Trotzdem er die Antwort gewußt hatte, war er jetzt verwirrt. »Stehen sie schon lange da?«

»Doch, der Herr Frenz hat ihnen doch det Haus verboten!«

»Was wollten sie denn?«

»Na, mit dir sprechen doch, Karle!«

Er machte sich härter als er war. »Nein«, sagte er, »ich habe mit denen nichts mehr zu sprechen.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte sie: »Haben die jar nischt mehr?«

»Ich weiß nicht, Rieke. Ich glaube nicht. Nein.«

»Nicht mal 'ne Bleibe for de Nacht?«

»Ich weiß nicht, wahrscheinlich nicht.«

Sie schwieg lange. Dann sagte sie halblaut: »Und die Else hat ihr schwarzet Seidenkleid an, und denn nich wissen, wo schlafen ...«

»Machst du mir einen Vorwurf, Rieke?« fragte er plötzlich. »Wenn die nun gesiegt hätten, und ich stünde draußen, glaubst du, ihm wäre das Herz schwer gewesen? Gelacht hätte er über mich! Mir ist das Herz schwer, Rieke!«

»Ick weeß ja, Karle! Ick mache dir ja ooch keenen Vorwurf, ick habe Wagenseils nie jemocht. Bloß, det se so da draußen stehen! Kannste denn nischt for se tun?«

»Ich will nichts für sie tun.« Er besann sich: »Das ist alles schon einmal passiert, Rieke. Mit kleinen Vorschüssen fing es an, und sie wurden immer größer. Aber da hatte er schon ein Recht auf Vorschüsse, und als ich sie ihm verweigerte, ging er hin und spielte mir gemeine Streiche. Nein, ich will nicht wieder mit ihm anfangen.«

»Kannste ihm keene Arbeit geben?«

»Er würde mich bei jeder Abrechnung betrügen!«

»Denn mach ihn doch zum Kutscher! Mit Pferden weeß er Bescheid!«

»Ich brauche keine Kutscher mehr, ich habe Chauffeure!«

»Du willst ihm eben nich helfen!«

»Richtig, ich will nicht!«

Sie spähte durch die Gardinen. »Jetzt streiten se sich«, flüsterte sie.

»Warum sollen sie sich nicht streiten? Sie haben sich ihr ganzes Leben lang gestritten!« Und plötzlich: »Hier, Rieke, bring jedem zwanzig Mark. Aber sage, daß es von dir kommt, sage nichts von mir! Versprich mir das!«

»Ick wer doch nich tun, wat du nich willst, Karle! Bist janz ruhig!«

Jetzt stand er hinter der Gardine. Er sah Rieke über die Straße gehen, der Streit zwischen den beiden Eheleuten brach ab. Sie redeten alle drei miteinander. Franz wurde immer hitziger. Wahrhaftig, er schrie und schimpfte. Er drohte mit der Faust gegen den Laden. Dann beruhigte er sich langsam, jetzt gab ihnen Rieke das Geld. Überraschend schnell trennten sie sich. Rieke kam ins Haus zurück. Langsam ging Frau Else Wagenseil in ihrem schwarzen Seidenkleid die Eichendorffstraße hinunter, tiefer in die übelbeleumundeten Straßen hinein. Der Franz stand noch am längsten da. Dann überquerte er den Fahrdamm, ging in der Richtung auf den Stettiner Bahnhof. Karl konnte leicht erraten, wohin Franz ging: in die Großdestillation an der Ecke, wo Mut und Erfolg in kleinen Groschengläsern verkauft werden.

»Soll ick abräumen, Karle?« fragte Rieke in seinem Rücken. »Biste satt?«

»Ja, ich bin satt, Rieke«, antwortete er.


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