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14. Auf dem Zeichenbüro von Kalubrigkeit & Co.

Karl Siebrecht trägt wieder seinen weißen, steifen Kragen. Vaters manchesterne Hosen sind von Rieke Busch gewaschen und hängen im Schrank neben den Sonntagshosen von Busch. Während Karl alle Tage seine Sonntagshosen trägt, kann der Maurer Walter Busch, der Dorsch, mit vollem Recht seine Arbeitshosen tragen: dank Riekes Mundwerk hat er wieder Arbeit. Und er arbeitet auch. Schweigsam und nüchtern, mit dem immer abwesenden Blick seiner blaßblauen Augen fügt er Stein an Stein und läßt zwischen ihnen die berühmte Fuge ohne Fehl und Tadel. Das Leben lächelt – Karl Siebrecht verdient hundertundzwanzig Mark im Monat, er ist Hilfszeichner, vorläufig noch auf tägliche Kündigung. Aber Herr Oberingenieur Hartleben ist ihm günstig gesinnt, der Junge hat trotz seiner Jugend, trotz seiner lückenhaften Kenntnisse alle Aussicht, fest angestellt zu werden.

Er hätte seine Schlafstelle bei der Brommen neben dem zweifelhaften Bäcker Bremer gut aufgeben und sich ein möbliertes Zimmer mieten können: seine Einkünfte erlauben das. Und er hätte auch der alten Minna ihre zweihundert Mark zurücksenden können, auch das erlauben seine Einkünfte. Wenn sie statt dessen auf ein Sparbuch gelegt worden sind, das Rieke Busch versteckt hat, so ist daran nur Rieke schuld. Diese nicht umzubringende, immer wieder neu hoffende Rieke, die trotz allen Mutes ein gesundes Mißtrauen in jeder Periode des Glücks setzt: »Wart man lieber ab, Karl! Det muß nich immer so weiterjehen! Keener weeß, wat kommen kann. Wenn de dir zweihundert Mark jespart hast, denn schickste diese weg! Eher nich!«

Wenn Karl Siebrecht auch lange nicht so mißtrauisch gegen das Glück der kleinen Leute war wie die durch hundert Erfahrungen gewitzte Rieke Busch, so war er doch ohne weiteres mit dem Zurückbehalten des Geldes einverstanden gewesen. Ja, man war im ganzen zufrieden mit dem jungen Mann auf der großen Zeichenstube der Baufirma Kalubrigkeit & Co. – aber war er mit der Zeichenstube einverstanden? Er war sich dessen nicht ganz sicher, er konnte es sich einfach nicht denken, daß dies von Bestand sein würde! Zwar die ersten unangenehmen Tage lagen hinter ihm, da man den von Herrn von Sender empfohlenen Knaben mit unverhohlenem Mißtrauen angesehen hatte. Zwei lange Tage fast hatte man ihm keine andere Arbeit gegeben, als Bleistifte zu spitzen, mit einem Messer Bleistifte so zu spitzen, daß eine lange, tödlich drohende, nadelscharfe Spitze entstand! Er hatte sehr intensiv an all die unangenehmen und lästigen Arbeiten denken müssen, die Rieke Buschs Leben fast den ganzen Tag ausfüllten, um durch dieses nadelspitze Fegefeuer mit Humor hindurchzukommen. Aber dieser intensive Gedanke hatte ihm entschieden geholfen: wenn sein schärfster Bedrücker, ausgerechnet der knapp zwei Jahre ältere Wums ihm einen Bleistift zurückgegeben hatte: »Da mach mal erst 'ne ordentliche Spitze ran! 'ne Spitze, die auch spitz ist!«, so hatte er mit entwaffnender Freundlichkeit gesagt: »Also 'ne Spitze, die 'ne Spitze hat? Wird gemacht, Herr Wums!« Und er hatte eben die Spitze noch einmal gespitzt, so daß sogar der picklige Wums nichts mehr hatte sagen können.

Am dritten Tage hatte dann aber der wortkarge, ältliche Oberingenieur Hartleben, der in einem heiligen Sonderraum neben dem Zeichensaal hauste, plötzlich losgeknurrt: Was denn das heißen solle? Die Herren Zeichner möchten sich ihre Bleistifte gefälligst selber spitzen wie üblich. Und der Oberingenieur hatte Karl Siebrecht persönlich an einen tiefen braunen Schrank geführt und ihn gefragt, ob er sich wohl zutraue, aus dem Wust von Bauzeichnungen, die dort ungeordnet aufgestapelt waren, die Zeichnung der Dachkonstruktion XYZ – Straße Nummer soundsoviel aufzufinden – man brauche sie höchst nötig für die Baupolizei, die mal wieder stänkere ...

Karl Siebrecht hatte sich das zugetraut. Am nächsten Morgen schon war die Dachkonstruktion gefunden, und nun war der Junge beauftragt worden, eine endgültige Ordnung in das Durcheinander dieses Schrankes zu bringen. Tagelang waren Zeichnungen über Zeichnungen durch seine Hände gegangen, diese Zeichnungen, auf denen die Daumen der Poliere und der Bauschlosser ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten – er hatte sie verglichen, geordnet. Nun lagen sie Fach bei Fach, wie sie zueinander gehörten, von den Fundamenten bis zum Dachfirst, jedes Fach säuberlich beschildert, ein wohlgefälliger Anblick. Ja, es tat auch Karl Siebrecht wohl, als er diese von ihm geschaffene Ordnung sah. Aber war das alles? Eroberte man so Berlin?

Wenn Herr Oberingenieur Hartleben in seinem Allerheiligsten über der Planung ganzer Häuserblocks und Straßenzüge versunken saß, wenn von dort das eifrige Klappern seiner überlebensgroßen Reißschiene und seines gewaltigen Dreiecks klang, wenn Herr Oberingenieur Planungen von derart ungeheuren Dimensionen entwarf, daß er auf einem Riesentisch auf dem Zeichenblatt selbst bald hockte, bald auf den Knien mit weit hingestrecktem Oberkörper lag, als bete er demütig eine Gottheit an, dann durfte ihn niemand stören. Dann führte an seiner Statt in der Zeichenstube der Herr Diplomingenieur Feistlein das Kommando. Diplomingenieur Feistlein dünkte sich sehr viel, denn er hatte auf einer richtigen Hochschule studiert, was noch manch roter Schmiß in seinem blühenden Antlitz bewies. Die anderen, auch Herr Oberingenieur Hartleben, hatten im besten Fall ein Technikum besucht, sie waren nichts gegen Herrn Feistlein. Karl Siebrecht aber, der nicht einmal eine richtige Lehre durchgemacht hatte, der war schon der reine Garnichts.

Die geplanten Bauten im Bayrischen Viertel der Stadt Berlin beschäftigten Herrn Oberingenieur Hartleben sehr stark: als Karl Siebrecht mit dem Ordnen des einen Schrankes fertig geworden war, schickte ihn Herr Feistlein einfach an einen anderen Schrank. Und von dem anderen Schrank an einen dritten. Da aber Herr Feistlein, wie er oft stolz von sich sagte, kein pedantischer Ordnungsmensch war, sondern ein Architekt, also ein freier Künstler, wurde die hinter Karl Siebrecht entstandene Ordnung fast ebenso rasch wieder zerstört, wie sie geschaffen worden war, so daß alle Aussicht bestand, daß er mit dem Ordnen der zehn oder zwölf Schränke eine Lebensstellung erworben hatte. Nicht genug damit! Herr Feistlein ging auch dazu über, den Knaben Karl, wie er ihn nur nannte, zu Botendiensten zu verwenden. Dann mußten Marken von der Post geholt, nun Briefe zur Post getragen werden, jetzt war Zeichenmaterial herbeizuschaffen, nun ein Stoß Pausen auf eine Baustelle zu bringen. Für all solche Wege gab es nur den Knaben Karl.

Der Knabe Karl erledigte diese Dinge eigentlich recht willig. Er war fast froh, aus dem endlosen, immer etwas düsteren Zeichensaal zu kommen. Er rannte in die frische Winterluft, er lernte immer neue Straßen kennen. In so vielen Häusern hatte er nun Geschäfte – wenn der Herr Feistlein dachte, ihn zu ärgern, so irrte er sich sehr. Das war des Karl Siebrecht Ehrgeiz nicht, ein perfekter Bauzeichner zu werden, um etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahre zum Vorsteher einer solchen Stube aufzurücken. Das alles war, er fühlte es, nur Durchgangsstation, eines Tages würde es zu Ende sein, mit oder ohne Herrn Feistlein.

Es sah beinahe so aus, als sollte es mit Herrn Feistlein zu Ende gehen. Denn der Ingenieur ging dazu über, den Knaben Karl auch zu persönlichen Besorgungen anzuhalten. Dann waren aus einem Geschäft in der Französischen Straße zehn ganz bestimmte Zigarren zu holen, dann aus der Weinhandlung des noch nicht lange eröffneten Hotels Adlon eine Flasche Cognac. Der Knabe Karl brachte Cognac und Zigarren, er war sowieso unterwegs, er war ohne Berufsstolz, er brachte, was Herr Feistlein verlangte. Bald aber mußte er auch extra für Herrn Feistlein über die Straße laufen. Jetzt war es nach einem Glas Bier, das vorsichtig unter den Zeichentisch gestellt wurde, nun nach Schrippen und Leberwurst, nun nach zwei sauren Gurken und nun wieder nach einem Glas Bier. Siebrecht merkte die Absicht, und sein jugendlicher Trotz lehnte sich auf. Aber es war schwer, da böswillig aufzuhören, wo er gutwillig angefangen hatte. Der Ingenieur hatte seine Wünsche ganz allmählich vermehrt, der Punkt, wo sie das Erträgliche überschritten hatten, war längst vorbei – es mußte ein besonderer Anlaß kommen, der Karl Siebrecht berechtigte, seinen Vorgesetzten den Gehorsam aufzukündigen.

Wer wartet, gewinnt. Es kam ein Nachmittag, an dem Herr Oberingenieur Hartleben nicht auf der Zeichenstube anwesend war, der Chef hatte ihn zu sich gerufen. Dies hatte Herr Feistlein zum Anlaß genommen, auch sich auf ein oder zwei Stunden von der Zeichenstube zu beurlauben, ohne vom Chef dazu berufen zu sein. Als Feistlein gegen vier Uhr nachmittags die Stube wieder beitrat, glühte ein Antlitz wie eine schöne rote Holländer Tulpe.

Herr Feistlein war nicht gesonnen, sich nun sogleich an seine Arbeit zu machen. Er ging erst eine Weile, gewaltig leuchtend, auf und ab, wobei er die Zeilen vor sich hinsummte: »Wo sind sie, die vom breiten Stein nicht wankten und nicht wichen, die ohne Moos bei Bier und Wein den Herrn der Erde glichen? Sie zogen mit gesenktem Blick in das Philisterland zurück. O jerum, jerum, jerum, o quae mutatio rerum!« – »Knabe Karl!« rief Herr Feistlein herumfahrend: »Übersetze: quae mutatio rerum!«

Der Knabe Karl hätte es sogar gekonnt, soviel Latein hatte ihm der Rektor Tietböhl immerhin beigebracht, aber er hatte keine Lust, sich hier zum Vergnügen der ganzen Zeichenstube examinieren zu lassen. So sagte er: »Keine Ahnung, Herr Feistlein!«

»Da sieht man's wieder!« rief Herr Feistlein, rot strahlend. »Nicht humanistisch gebildet! Oh, welch ein Abgrund von Unwissenheit bist du doch, Knabe Karl! Du ahnst es nicht, wie unwissend du bist, aber ich weiß es, und es tut mir wehe, wenn ich dich ansehe! Unser Kaiser hat gesagt, daß er das Realgymnasium wohl fördert, aber mit Treue an dem humanistischem Gymnasium hängt! Uns Humanisten liebt unser herrlicher Kaiser nach seinen Herren Offizieren am meisten. – Da habt ihr's!«

Damit fuhr Herr Feistlein zu den grinsenden Zeichnern, deren Gesichter sofort ernst oder beifällig wurden, herum und vergaß eine Weile den Knaben Karl. Er ging nun von Zeichentisch zu Zeichentisch, tadelte vieles und fuhrwerkte gewaltig mit seinem Bleistift herum, hütete sich aber wohl, auch nur einen einzigen Strich zu tun. Denn so klar war er noch, seinem Zustand zu mißtrauen. Dann sank er in den Stuhl vor seinem Tisch, stützte das Haupt in die hohle Hand und versank in tiefes Sinnen. Es wäre nun alles gut abgelaufen, wenn Herr Feistlein nicht von dem Schlackerwetter draußen nasse Füße gehabt hätte. Ohne dies wäre er sanft entschlummert, eingelullt von dem warmen Sausen der Gasflammen.

Aber seine Füße störten ihn. Ein paarmal starrte er irritiert auf sie, dann richtete er sich auf und schrie: »Karl, Knabe Karl!«

»Jawohl, Herr Feistlein?«

»Mal herkommen!« Der Knabe Karl kam, er stand vor seinem Herrn und sah ihn an. »Zieh mir mal die Dinger aus!« sagte Herr Feistlein. Der Knabe Karl sah ihn an. »Du sollst mir die Stiebel ausziehn, verdammt noch mal! Hörst du nicht?!«

»Nein, Herr Feistlein!«

»Wie –?!!!«

»Nein, Herr Feistlein, das tue ich nicht!«

»Du tust nicht, was ich dir sage?«

»Nein, Herr Feistlein, dies nicht!«

»Dann soll dich und mich«, sagte Herr Feistlein mühsam, »der Teufel holen!« Und Herr Feistlein stieß mit dem Fuß nach dem Jungen.

»Lassen Sie das lieber, Herr Feistlein!« sagte Karl Siebrecht warnend.

Der Ingenieur hatte selbst das dunkle Gefühl, daß es besser wäre, dies zu lassen. Da aber die Anregung dazu von dem Jungen kam, vertrug es sich nicht mit seiner Ehre, auf sie einzugehen. Herr Feistlein schlug noch einmal aus und traf kräftig das feindliche Schienbein. »Da!« rief er, von der Wucht seines Stoßes überrascht und begeistert.

»Da!« rief auch der Junge und hatte den Fuß fest in Händen.

»Laß los, sofort!« schrie Herr Feistlein.

»Nicht, ehe Sie nicht aufhören, zu treten!«

»Ich denke ja gar nicht daran!« rief der Ingenieur. »Du kriegst noch ganz andere Tritte von mir!« Und er bemühte sich, den Fuß aus den Händen des Knaben zu befreien. Dabei hatte er aber jede Rücksicht auf seinen durch Alkoholgenuß gestörten Gleichgewichtssinn vergessen: er rutschte vom Stuhl und landete mit einem Krach auf dem Stubenboden. »Da!« rief er verblüfft. Karl Siebrecht aber hatte den Fuß losgelassen und lachte aus vollem Halse, so sehr amüsierte ihn das rote Gesicht, das fassungslos zu ihm emporleuchtete.

Die ganze Zeichenstube war in einem Aufruhr. Viele fanden sich, die dem gestürzten Gewaltigen dienstfertig aufhalfen. Spaßbolde klopften ihn von hinten sehr kräftig ab. Andere aber auch schoben sich um Karl Siebrecht und flüsterten ihm zu: »Das hast du recht gemacht! – Laß dir nur nichts gefallen von dem! – Dem Protz gehörte lange eine Abreibung!«

»Du bist auf der Stelle entlassen!« schrie der Ingenieur, der sich ein wenig gefaßt hatte.

Karl Siebrecht wäre nicht ungern gegangen, aber so wollte er auch nicht entlassen werden. »Sie können mich gar nicht entlassen, das kann nur der Herr Oberingenieur!«

»Du hast mich tätlich bedroht!«

»Nachdem Sie mich getreten hatten!«

»Du hast mir den Gehorsam verweigert!«

»Nie in dienstlichen Dingen!«

»Ich verwende dich, in was du zu gebrauchen bist!«

»Ich bin als Hilfszeichner eingestellt!«

»Du hast ja keine Ahnung vom Zeichnen!«

»Eine Ahnung habe ich schon!«

»So!« sagte Herr Feistlein. »So!« Er sah sich suchend auf seinem Zeichentisch um. Er faßte nach einer Zeichnung. »Hier ist der Grundriß eines Wohnhauses. Mach mir die Berechnung für die Fundamente, und zeichne die Pläne für den Schachtmeister!«

»Sie wissen sehr gut«, sagte Karl Siebrecht, »daß ich das gar nicht zu können brauche. Keiner hat bei meiner Anstellung verlangt, daß ich selbständig berechnen und zeichnen soll ...«

»Du kannst nicht zeichnen!« rief Herr Feistlein triumphierend. »Da mußt du eben den Laufjungen spielen!«

»... aber ich habe bei meinem Vater so oft solche Zeichnungen gesehen, daß ich es vielleicht doch kann. Jedenfalls will ich es versuchen.« Er nahm dem verblüfften Herrn Feistlein den Grundriß einfach aus der Hand, überlegte einen Augenblick, machte dann noch eine kleine, nur eine winzige Spur spöttische Verbeugung und ging an sein Tischlein im Winkel, das er bisher nur zum Bleistiftspitzen und Paketemachen gebraucht hatte. Er zündete das Gas an.

»Halt!« rief Herr Feistlein. »Du verdirbst mir die Zeichnung bloß, Karl!« Er fühlte viele Blicke auf sich. Fast verlegen sagte er: »Na, laßt ihn schon! Er wird einen schönen Bockmist anrichten, dieser Laufbursche!« Und er wandte sich zu seinem Zeichentisch. –

Wenn der Oberingenieur Hartleben auch wortkarg war, so sah er doch viel. Möglicherweise hatte er aber auch seine Zuträger. Es konnte der reine Zufall sein, es konnte aber auch mit Vorbedacht geschehen, daß Herr Hartleben am nächsten Vormittag gerade am Tisch des jungen Siebrecht stehenblieb, erst weiterredete – er berichtete von neuen Bauplanungen des Chefs –, nun einen zerstreuten Blick auf diesen Tisch warf, dann seine Rede unterbrach und erstaunt rief: »I, ich glaube gar! Du machst ja wohl Zeichnungen für den Schachtmeister, Karl! – Herr Feistlein!«

Herr Feistlein fuhr hoch und lief rot an. »Jawohl, Herr Hartleben! Jawohl! Ich habe dem Jungen – dieser Junge behauptet nämlich, er könnte einfach alles zeichnen ...« Karl Siebrecht sah den Herrn Feistlein fest an. Herr Feistlein verstummte. Eine grobe Stimme rief aus dem Hintergrunde »Oho! Oho!« und verstummte auch. »Schließlich ist er als Hilfszeichner eingestellt«, sagte Herr Feistlein schwach.

Jemand säuselte vernehmlich: »Und holt Bier –!« Ein paar lachten los.

Oberingenieur Hartleben hatte die Zeichnung in die Hand genommen. »Gar nicht so schlecht«, nickte er. »Aber – ist das nicht das Gelände, wo aufgefüllt werden muß, wo gar nicht ausgeschachtet wird? Wie, Herr Feistlein?«

»Ich glaube. Ich erinnere mich momentan nicht genau. Es ist immerhin möglich, Herr Hartleben.«

»Soso«, sagte der Oberingenieur. »Karl, gib diese Zeichnungen an Herrn Feistlein zurück.«

Unter tiefem Schweigen der ganzen Zeichenstube trug Karl Siebrecht die Zeichnungen zu Herrn Feistlein. »Bitte sehr, Herr Feistlein!« sagte er.

»Danke!« murmelte der. Er wollte nach den Zeichnungen fassen, besann sich und befahl, mit zwei Fingern zwischen Hals und Kragen, der ihn zu beengen schien: »Da, auf den Tisch!« Karl Siebrecht ging an seinen Platz zurück.

»Von nun an, Karl«, sagte der Oberingenieur Hartleben, »bekommst du deine Arbeit von mir zugeteilt, und nur von mir, verstanden?«

»Ja, Herr Oberingenieur.«

Herr Hartleben nickte und fuhr in seinem Vortrag über die Bauplanungen des Herrn Kalubrigkeit fort.

Von Stund an war Karl Siebrechts Stellung im Büro gesichert. Niemand kam mehr auf den Gedanken, ihm Stifte zum Anspitzen anzuvertrauen. Als einzige Erinnerung an überwundene Zeiten verblieb der Stube die Redensart »und holt Bier«. Immer, wenn nach jemandem gefragt wurde, rief ein Spaßvogel: »Und holt Bier!«

Dann sahen alle Augen zu Karl Siebrecht hin. Er aber sah nicht hoch. Er hatte die angenehmste Arbeit, Herr Hartleben sorgte dafür, daß der Anfänger nicht in der öden Beschäftigung des Pausens steckenblieb. Auch das mußte getan werden, aber dazwischen gab es Zeichnungen, bei denen nachzudenken und etwas zu lernen war. Dann stand der Oberingenieur wohl auch einmal fünf Minuten am Tisch des Jungen und erklärte ihm mit ein paar Worten dies und jenes, oder sein Zeichenstift löste mit einigen raschen sicheren Strichen ein für unlösbar gehaltenes Problem. Manche merkten, daß der Oberingenieur auf eine stille, unmerkliche Art den Laufburschen auszeichnete, und sie gingen dazu über, Karl Siebrecht mit Sie anzureden, unter ihnen als erster der Pickelhering Wums. Herr Feistling redete den Karl Siebrecht nicht mit Sie an, er redete ihn, wenn es irgend zu vermeiden war, überhaupt nicht an. Es hatte wohl noch eine kleine Aussprache unter vier Augen zwischen dem Oberingenieur und seinem Diplomingenieur gegeben. Eine lange Zeit ging Herr Feistlein gedrückt umher, sein Gesicht blühte weniger, und er ließ nichts mehr von der Überlegenheit des Akademikers über die Besucher eines Technikums verlauten. Nein, Karl Siebrecht hatte auf der ganzen Linie gesiegt. Er war im Besitz einer gesicherten Stellung, die tägliche Kündigung war in eine vierzehntägige verwandelt, er lernte etwas und hatte die besten Aussichten auf ein langsam ansteigendes Gehalt. Aber freute ihn das? Es freute ihn gar nicht. Es machte ihn unruhig. Solange seine Stelle noch etwas Provisorisches, Behelfsmäßiges gehabt hatte, war sie zu ertragen gewesen, aber jetzt, da alles in feste, sichere Bahnen gelenkt war, kam ihm immer wieder der Gedanke: Das habe ich doch nicht gewollt! An der Art Vorwärtskommen ist mir doch nichts gelegen!

Wenn er am Morgen seinen Weg aus der Wiesenstraße nach der Krausenstraße antrat, wenn er aus den engen, überfüllten, schmutzigen Arbeiterquartieren durch das verrußte Industrieviertel der Chausseestraße in den Geschäftstrubel der oberen Friedrichstraße kam und weiterging durch das reichbeschilderte Vergnügungsquartier bis in den Bezirk der Büros, wenn sich dies Tag für Tage wiederholte, die gleichen Läden, die gleichen Schilder, der gleiche mit Fuhrwerken und Autos brausende Verkehr, in dem er unbeachtet mitwimmelte – dann fühlte er, daß er jung war, daß er nicht so mitwimmeln durfte, daß er etwas anderes wollte. Manchmal blieb er stehen, als schüttelte es ihn, und er dachte: Nicht so! Nicht so! Nicht so!

Und wenn er dann auf die Zeichenstube kam, und leise summend begrüßte ihn das Gas mit seinem süßlichen, weichen Geruch, und wenn er über sein Jackett die Überärmel zur Schonung streifte, und wenn er immer die gleichen Gesichter sah, den Herrn Feistlein und den pickligen Wums und den Bechert und den Karbe, und wenn er dann dachte, daß er im Frühling, im Sommer, heute übers Jahr die gleiche Stube, das gleiche Gas, die gleichen Ärmel, das gleiche Reißbrett seiner wartend finden würde – dann hätte er am liebsten kehrtgemacht, wäre auf die Straße gelaufen und hätte geschrien: Ich will Berlin erobern! Heh, Berlin, hier bin ich! Ich bin kein Stubenhocker und will nie einer werden! Los! Aber dann fühlte er den Blick des Herrn Feistlein auf sich, rasch nahm er den Zeichenstift in die Hand und dachte mit jungenhaftem Trotz: Nun gerade nicht! Dem tue ich den Gefallen noch lange nicht! Der würde ja denken, ich bin vor ihm ausgerissen. Das andere hat noch Zeit, das kann ich jeden Tag anfangen. Jetzt bleibe ich erst noch ein paar Wochen hier und ärgere den, bis er platzt. Nein, er konnte wirklich noch nicht fort – schon um des Herrn Feistlein willen nicht. Und dann hätte er die Rieke Busch auch so betrübt, wenn er diese vorzügliche Stellung aufgegeben hätte – gerade jetzt zur Weihnachtszeit.


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