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Dritter Teil.
Franz Wagenseil

36. Vier Jahre später

Vier Jahre später, also im Frühjahr des Jahres 1914, fuhr die Berliner Gepäckbeförderung bereits mit sieben Wagen, und die Familie Busch wohnte nicht mehr in der Wiesenstraße. Mit Sack und Pack, mit der »Engländerin« und ihren beiden jungen Männern war sie in die Eichendorffstraße umgezogen.

Die Wohnung war, wenn auch erheblich größer – sie hatte vier Zimmer, einen Laden und Küche –, kaum eine Verbesserung. Rieke klagte oft über sie. Einmal lag sie ebenerdig und hatte kaum Sonne und nie gute Luft, dann aber war die Gegend gar nicht nett. Es ist eine Tatsache, daß die schönsten Romantiker, die Schlegel, Tieck, Novalis und Eichendorff, ihren Namen Straßen von wenig schönem Ruf haben leihen müssen. Es gab sehr viel zweifelhafte Lokale in diesen Straßen und ganz unzweifelhafte Dämchen. Rieke Busch stellte oft Vergleiche an zwischen den Proletariern des Weddings und diesen Damen, die auf den Schnepfenstrich zogen, und diese Vergleiche konnten nicht zum Vorteil der neuen Wohnung ausfallen.

Karl Siebrecht aber sagte gereizt: »Ach was, Rieke, was sollen die ewigen Quengeleien? Das weiß ich alles selbst. Aber kennst du eine Wohnung und einen Laden, die günstiger für meine Zwecke liegen? Na also!«

Und das mußte wahr sein: die Wohnung, der Laden lagen fast am Ausgang der Eichendorffstraße, genau gegenüber dem Stettiner Bahnhof, und der war noch immer der Hauptplatz der Berliner Gepäckbeförderung geblieben, trotzdem in der letzten Zeit auch andere Bahnhöfe ständig an Bedeutung für die junge Gesellschaft gewannen, vor allem der Lehrter Bahnhof, aber auch der Anhalter und der Schlesische Bahnhof und sogar der Bahnhof Charlottenburg.

In dem Laden hatte Karl Siebrecht sein Büro eingerichtet, dort befand sich das Telefon, mit dem die ständig wachsenden Bestellungen der Privatkundschaft auf Abholung von Gepäck entgegengenommen wurden. Es wurde bedient von Fräulein Palude, jenem ältlichen, etwas säuerlichen Fräulein, das einst auf dem Fuhrhof im Dienst gewesen war und das Karl – nicht ganz im Einverständnis mit Franz Wagenseil – übernommen hatte. Unter dem Siebrechtschen Einfluß hatte Fräulein Palude viel von ihrer Säuerlichkeit verloren, sie hatte sich sogar entschlossen, noch Schreibmaschine zu lernen, und schmetterte mit Verve auf diesem neumodischen Dings herum, was Franz Wagenseil bei seinen Besuchen im Büro immer wieder zu der Bemerkung veranlaßte: »Na also, bei mir haben Sie's nicht lernen wollen, aber da braucht nur so ein junger Laffe zu kommen, sofort klappt's. Die Öllsten sind immer die Döllsten.«

Unterstützt wurde Fräulein Palude von dem Bürolehrling Egon Bremer, einem fünfzehnjährigen, rothaarigen, sommersprossigen Bruder des Bäckers Bremer in der Wiesenstraße. Er war aber in der Hauptsache Laufbursche, Bote und Radler, immer zwischen dem Büro und den Bahnhöfen unterwegs, um die Weisungen des Hauptquartiers an die einzelnen Gespanne weiterzugeben.

Denn es war Karl Siebrecht noch immer nicht gelungen, in die Bahnhöfe selbst vorzudringen, sich dort Büros einzurichten. Es lag das nicht so sehr an den Bahnhofsverwaltungen, die sehr wohl den Segen seiner Einrichtung erkannt hatten. Es lag das nicht an der Bahn, es lag allein an der Firma Siebrecht & Flau, die nicht über das nötige Betriebskapital für Pacht, Kaution und Einrichtungen der neuen Geschäftsstellen verfügte. Daß aber trotz guten Geschäftsganges die Firma immer noch von der Hand in den Mund lebte und mit dem Gelde gerade so hinschrammte, lag wieder nicht an Karl Siebrecht und Kalli Flau, sondern es lag allein ...

»Also sieh mal, Rieke«, sagte der nun zweiundzwanzigjährige Kalli zu der achtzehnjährigen Freundin, »nimm es bloß nicht tragisch, wenn Karl jetzt etwas gereizt ist. Ich würde es an seiner Stelle auch sein. Wir sparen und sparen, und der Franz wirft das Geld mit vollen Händen zum Fenster heraus! Jetzt soll er sich sogar Gewächshäuser bauen. Ananas will er züchten! Der hat ja 'nen Vogel!«

»Hat er schon imma jehabt«, antwortete Rieke Busch. »Und Karle weeß det ooch janz jut. Bloß: Karle is zu anständig! Ick ärjere mir ooch über Karlen, ick ärgere mir, weil er zu anständig is!«

Jawohl, die beiden Jungen, die aber nun schon junge Männer waren – Karl Siebrecht war jetzt zwanzig Jahre alt –, sparten. Ihnen war die Entwicklung des Geschäftes nicht so zu Kopf gestiegen wie – andern. Sie hatten sich anständige Monatsgehälter bewilligt, mehr nicht. Karl Siebrecht bekam dreihundert Mark im Monat, Kalli Flau zweihundertfünfzig.

Auf diesem kleinen Abstand hatte Kalli bestanden. »Nee, nee, Karl«, hatte er gesagt. »Das ist ja ganz schön, daß ich dein Teilhaber bin, und wir wollen es auch dabei lassen, aber eigentlich bin ich es doch nur auf den Wagenschildern. Du hast alle Verantwortung und alle Sorgen, ich bin nicht mehr als dein Wachthund.«

»Nun, nun«, hatte Karl Siebrecht erwidert, »jedenfalls bist du ein erstklassiger Wachthund, und so einer kostet viel Geld! Ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne dich anfangen sollte!«

Das stimmte. Natürlich waren die Zeiten längst vorbei, als sie selbst auf dem Rollwagen fuhren. Karl Siebrecht hatte die Leitung der Geschäfte, er kümmerte sich um Abrechnung und Geldbeschaffung, um Disposition und Ausbau, er war auf den Bahnhöfen und auf dem Fuhrhof.

Aber Kalli Flau hatte mit den Menschen zu tun. Er besaß die Karl Siebrecht abgehende Gabe, mit jedermann von gleich zu gleich zu reden. Er war ständig bei Kutschern und Aufladern, Gepäckträgern und Dienstmännern. Und obwohl er wirklich nichts anderes war als ein Wachthund, ein Aufpasser, ein Kontrolleur der Firma, war er bei den Leuten beliebt. Er machte Witze mit ihnen, trank auch einmal eine Molle und einen Korn mit ihnen – nie mehr –, aber sie wußten, seine Augen waren scharf, in seiner Nähe ließ sich nicht ein Gepäckstück auf die Wagen mogeln.

Der eigentliche Nutznießer der Firma Siebrecht & Flau war Franz Wagenseil. Niemand verdiente an ihr soviel Geld wie er. Und völlig mühelos. Als das Geschäft erst in Gang gekommen war, hatte er rasch nacheinander das Fouragegeschäft, dann den Kartoffel- und Kohlenhandel aufgegeben. Das lohnte sich nicht mehr, das war alles bloß Läpperkram.

Dann war auch das Fuhrgeschäft sanft entschlafen. Er begnügte sich mit dem Stellen von Fuhrwerken für die Berliner Gepäckbeförderung, das brachte genug ein! Den Fuhrhof besorgte ein alter Futtermeister, da brauchte er nur alle Woche einmal eine Pupille hinzuschmeißen!

Der Fuhrherr selbst aber legte sich auf die lockere Seite, saß in Schenken herum und amüsierte sich nachts mit kleinen Mädchen. Das war zu jener Zeit gewesen, als Frau Elschen offiziell zu Besuch bei ihrer Mutter in Schivelbein, Hinterpommern, weilte. Aber in einer sehr angetrunkenen Stunde hatte Franz Wagenseil seinem Freunde Karl erzählt, daß Elschen mit einem Schornsteinfeger durchgegangen war. Der Umstand, daß es gerade ein Schornsteinfeger war, schien Wagenseil viel mehr zu kränken als das Durchgehen.

»Und da sagt man noch, daß Schornsteinfeger Glück bringen! Sag selbst! Was kann Elschen bloß an so 'nem schwarzen Kerl finden? Verstehst du das, Karl?«

Auch Karl verstand es nicht. Aber jedenfalls kehrte Elschen nach einiger Zeit von ihrer kranken Mutter in Schivelbein, Hinterpommern, zurück und nahm die Zügel des Eheregiments wieder in ihre Hände. Mit der Kneipensitzerei und den kleinen Mädchen war es für Franz nun wieder vorbei. Else Wagenseil war nicht weicher, sie war noch strenger geworden. Aber vielleicht hatte sie selbst das Gefühl, daß sie zwar nicht moralisch, aber gesellschaftlich einen Fehltritt begangen hatte. Sie mußte sich rehabilitieren. Eine Villa in Erkner wurde erstanden. Elschen und Franz sagten nur »die Filla«. Und auf dem Gartengrundstück der Filla wurden jetzt Gewächshäuser zur Ananaszucht gebaut. Franz Wagenseil wollte ganz Berlin mit Ananas beliefern. Er konnte genau vorrechnen, wieviel Hunderttausende ihm das bringen mußte. Die Firma Siebrecht & Flau aber zahlte!

Dabei konnte nichts weniger üppig und reich aussehen als die Räumlichkeiten der Firma und ihrer Inhaber. In dem »Büro« genannten Laden war nur das Nötigste, die Regale waren aus Fichtenholz, und die Kasse bestand aus einer Blechbüchse, in der einmal Thorner Kathrinchen aufbewahrt gewesen waren. Man erkannte noch Spuren der bunten Malerei auf dem Deckel. Am Tage stand sie in Fräulein Paludes Schublade, nachts nahm sie Karl Siebrecht in sein Zimmer mit. Stühle waren immer knapp.

Waren wichtige Verhandlungen zu führen, die nicht jeder hören durfte, so ging man vom Laden in das anstoßende, auch nach der Straße zu liegende Zimmer, in dem die beiden jungen Firmeninhaber schliefen. Ihre Betten standen in der dunklen Ecke des Zimmers hinter einer spanischen Wand, die ewig knarrte und gerne umfiel. Im offenen Teil des Zimmers standen ein Tisch mit ein paar Stühlen, eine Kommode, zwei Kleiderschränke, das war alles. Man wusch sich wie früher in der Küche. Den einzigen Schmuck des Zimmers bildete eine goldgerahmte Dreimastbrigg in Buntdruck. Kalli hatte das Bild irgendwo aufgetrieben und behauptete in gewissen Zeiten gesteigerten Selbstbewußtseins, das sei der Trawler »Emma« von Käptn Rickmers, auf dem sei er einmal gefahren.

Das war aber auch die einzige seemännische Erinnerung bei Kalli Flau. Im übrigen war er ein Teilchen der Stadt Berlin geworden. Er schaukelte nicht einmal mehr beim Gehen. Mit Rieke berlinerte er sogar manchmal – aber nur, wenn Karl Siebrecht nicht in der Nähe war. Der hörte das gar nicht gerne: Rieke sollte richtig deutsch sprechen, Kalli nicht berlinern lernen.

Im übrigen war Kalli Flau ein breiter, untersetzter junger Mann, dunkel, mit ruhigen Augen und einem kleinen schwarzen Schnurrbart. Siebrecht war ihm längst über den Kopf gewachsen, er war sehr blond und fast zu schlank, gut um einen halben Kopf länger als Kalli.

Neben dem Zimmer der jungen Männer, aber nur über den Flur erreichbar, lag die Schneiderstube Riekes. Hier stand die Engländerin, die noch nie gestreikt hatte, und benähte, was aus der Gegend des Oranienburger Tors seinen Weg in die Eichendorffstraße fand. Rieke hatte mit den Jahren so viel gelernt, daß sie ihre Kundschaft, lauter kleine Leute, zu deren Zufriedenheit mit Blusen, Unterkleidern und Röcken versorgte. Manchmal gab es auch ein Kostüm zu nähen, das waren dann große Tage für Rieke.

Sehr umfangreich war Riekes Kundenkreis nie und durfte es auch nicht sein: sie hatte die Wohnung mit drei Männern und die kleine Tilda zu versorgen, die jetzt auch schon zur Schule ging.

Die beiden Schwestern schliefen in einer ziemlich engen, sehr dunklen Stube nach dem Hofe heraus. Aber diese Lage war Rieke noch lieber als die hellere nach der Straße zu. »Da hör ick doch wenigstens nicht alle Nacht det Jejohle und Jejachter von die anjesoffenen Weiber! Karle, det is 'ne bescheidene Jejend. Wedding is viel hübscher. Mach man, det wir hier balde wieder ausziehen!«

Worauf Karl sein Sprüchlein von der günstigen Lage betete.

In der vierten Stube neben der Küche, die aber bloß eine enge, lichtlose Kammer war, hauste der alte Busch. Der Maurer hatte nun zum drittenmal umgesattelt: aus einem Bügler war er Portier geworden. Das heißt, nicht eigentlich Portier, dafür war er zu stumpf, denn er redete nun schon lange überhaupt nichts mehr. Aber er fegte für die verwitwete Portiersfrau die Treppen, hielt die Höfe sauber, kümmerte sich um den Müll, brachte verstopfte Klosetts wieder in Ordnung und bastelte sogar an den elektrischen Leitungen herum.

Besonders auf ihn aufgepaßt mußte nicht mehr werden. Was in seiner Brust gestürmt hatte, war zur Ruhe gegangen. Die Last auf seinem Herzen war nicht fortgenommen, aber das Herz hatte sich wohl an sie gewöhnt. Alle acht oder zehn Wochen kriegte er »seine Touren«, dann ging er in die nächste Kneipe und betrank sich. Die Gastwirte rundum kannten ihn alle, sie sandten dann zu Rieke: Vater sei nun voll, sie möge ihn nur abholen.

Dann kam Rieke und löste ihn ein, denn der alte Busch hatte nie einen Pfennig in der Tasche. Selten noch, daß sie ihn in der Nacht darauf beruhigen mußte. Am nächsten Morgen war er wieder auf seinem Posten. »Jottlob, det haben wir mal wieder ausjestanden für zwei Monate«, sagte Rieke dann zu Karl. »Dieses Mal hat er nur drei zwanzig verbroocht. Der Mann verträgt imma weniger, Karle! Weeßt de noch, wie Vata mal hundertsechzig Märker von deinem Sparbuch uffjetutscht hat – da war er noch in Form!«

»Gott ja, die zweihundert Mark von der alten Minna!« antwortete Karl Siebrecht. »Nun wird es aber wirklich Zeit, daß ich sie ihr zurückschicke. Ich muß mich direkt schämen! Wie lange habe ich von Minna nichts mehr gehört, Rieke? Zwei oder drei Jahre?«

»Weihnachten vor zwei Jahre hat se dir doch noch 'ne Jans jeschickt, Karle!«

»Und ich habe ihr nicht mal gedankt! Und das Geld habe ich ihr auch nicht geschickt! Zu nichts kommt man mehr! Und nie habe ich Geld –!«


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