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63. Suche nach dem Vergangenen

In diesen letzten Wochen des grauen, naß verrinnenden Jahres 1919 war Karl Siebrecht viele Wege gegangen, beseelt von der Hoffnung, daß er das Werk wieder arbeiten lassen konnte, das er einst als blutjunger Mensch in Gang gesetzt. Er war von Bahnhof zu Bahnhof gegangen, wie einst hatte er an den Gepäckausgaben gestanden und nach den alten Gesichtern Ausschau gehalten. Sie konnten doch nicht alle verschwunden sein ... Nein, sie waren es nicht. Manchmal stutzte so ein Mann in der grünen Jacke, einen Augenblick lächelte er: »Sind Se det, Herr Siebrecht? Na, ooch wieda heil zu Hause? Ick freu mir!« Sie schüttelten sich die Hände, aber gleich wurde des anderen Miene wieder trübe: »Se wollen doch nich mit die alte Fahrerei wieder anfangen? Da lassen Se man die Pfoten von! Kommen Se mal rin in unsern Gepäckkeller, wat da rumliegt, det fahren Sie in eine Fuhre raus!«

»Das kommt auch wieder anders! Wenn erst das Vertrauen zurückgekehrt ist.«

»Vertrauen –? Uff wat denn Vertrauen –?! Uff die Regierung? Uff den Dollar?! Uff die Alliierten?!! Nee, Herr Siebrecht, det machen Se sich man ab, det kommt nich wieda zurechte! – Jawoll, een paar fahren. Manchmal! Wenn sie grade nischt Besseres zu tun wissen. Sie können ja mal mit die Kutscher von die Kröpelfuhren reden, wenn die wat anderes sagen, heeß ick Fritze Bollmann!«

Nein, auch die Kutscher erzählten dem Karl Siebrecht nichts anderes. Es waren wirklich Kröpelfuhren, und die Leute erschienen Karl Siebrecht keineswegs so vertrauenswürdig, daß man ihnen Koffer gerne überlassen hätte.

Der Gepäckträger Beese, dem Karl Siebrecht davon sprach, schüttelte ernst seinen traurigen Pfeifenkopf. »Da haben Sie recht, Herr Siebrecht. Sehen Sie mal den Koffer an, den ich hier trage!«

Sie hatten sich oben an den Bahnsteigen auf dem Stettiner Bahnhof getroffen und gleich erkannt. Herr Beese trug einen ziemlich schweren schönen Lederkoffer. »Schöner Koffer«, sagte Karl Siebrecht. »Was ist mit ihm?«

»Das ist der einzige Koffer, der sich zu tragen lohnt!« sagte der Gepäckträger Beese. »Das ist nämlich ein Ausländerkoffer! Aber so was bekommen Sie nie zu sehen, das kommt mit dem Auto und geht mit dem Auto. Davon kriegen Sie nicht einen in die Pfoten. So ist das!«

Karl Siebrecht betrachtete den Herrn Beese nachdenklich. »Sie wenigstens sehen ganz unverändert aus, Herr Beese«, sagte er, und das stimmte wirklich: trauriger, als Herr Beese schon vor dem Kriege ausgesehen hatte, konnte man wirklich nicht aussehen.

»Das sagen Sie nun auch!« sagte Herr Beese und lächelte. Es war ein kümmerliches, es war ein erbärmliches Lächeln, aber es war ein Lächeln. Er nahm seine Mütze ab. »Und nun kieken Sie mal!«

Ja, das war nun freilich nicht mehr zu übersehen: quer über Herrn Beeses glatten runden Schädel lief eine breite, feurige Narbe. »Granatsplitter?« fragte Karl Siebrecht sachverständig.

Herr Beese nickte nur. »Douaumont!« sagte er kurz.

»Na, dann kucken Sie mich auch mal ab, Herr Beese!« forderte Karl Siebrecht ihn auf und nahm seinen weichen Filzhut ab. Er mußte ziemlich tief in die Kniebeuge gehen, denn Herr Beese war ja nur ein kleiner Mann. »Fühlen Sie ruhig unter meinen Haaren! Sie läuft fast wie bei Ihnen – Verdun!«

Und so befühlten sie gegenseitig ihre Narben und vergaßen den Stettiner Bahnhof und die zugrunde gehende Gepäckabfuhr. Sie erzählten sich, wo sie die Narben gekriegt hatten und wie lange sie gelegen hatten und was sie heute noch davon fühlten – bis Herr Beese von einem wutschnaubenden Schweden aufgestöbert wurde, dessen Zug eben abgefahren war ...

Karl Siebrecht verstand es allmählich besser, daß sich Kalli auf eine Autotaxe zurückgezogen hatte. Trotzdem scheute er den Weg auf die Eisenbahndirektion nicht. Dem ordentlichen Herrn Kunze mußte das jetzige Chaos doch ein Dorn im Auge sein!

Aber Herr Regierungsrat Kunze war nicht mehr auf der Direktion. Herr Kunze war pensioniert! Siebrecht fand seinen ehemaligen Beschützer in einer kleinen düstern Wohnung, in einem kalten Plüschzimmer, wo er vom Fenster auf eine düstere, kalte Straße hinaussah.

Auch Herrn Kunzes Stimmung war düster und kalt. »Ja, mein Lieber«, sagte er, »sie haben mich pensioniert, das heißt, sie haben mich abgesägt. Ich hätte noch zehn, noch zwanzig Jahre arbeiten können, aber man braucht Leute wie mich nicht mehr!«

Einen Augenblick überlegte Karl Siebrecht, dann meinte er, daß es vielleicht sehr gut passe, wenn Herr Kunze pensioniert sei. Und ehe der Regierungsrat noch aufbrausen konnte, erklärte er ihm, daß man bei einer wirklich groß ausgebauten Gepäckabfuhr unbedingt einen Fachmann brauchen werde als Verbindungsmann mit der Direktion. Als er seinen Plan weiterentwickelte, erwärmte sich die kalte Stimmung des anderen ein wenig – er sah wieder Arbeit vor sich. Aber das Feuer ging aus, ehe es noch recht gebrannt hatte.

Herr Kunze schüttelte den Kopf: »Mein lieber Siebrecht, das alles ist nur Phantasterei! Daraus wird nie etwas! Was denken Sie denn, welche Zustände auf der Bahn herrschen!? Alles rollende Material ist ruiniert! Und das bißchen, das noch was taugt, müssen wir an die Entente abliefern: alle Lokomotiven, alle Wagen. Davon erholt sich die Bahn in fünfzig Jahren nicht! Nein, verkaufen Sie Schnürsenkel oder amerikanische Zigaretten, da werden Sie was! Aber arbeiten –? Sehen Sie mich an! Ich glotze zehn Stunden am Tag auf die Straße! Das ist meine Arbeit – die schwerste, die ich in meinem ganzen Leben zu leisten hatte!«

Damit gab er dem ehemaligen Schützling flüchtig und verlegen die Hand, verlegen, weil er sich seine Verzweiflung hatte merken lassen ...

Schon manches Mal war Siebrecht an dem großen Laden Unter den Linden vorübergekommen, hinter dessen Scheiben, genau wie vor dem Kriege, noch immer oder schon wieder Autos mit Nickel und Lack glänzten und lockten. Er war nicht näher herangegangen. Dies war sein letzter Ausweg, hierhin wollte er erst gehen, wenn er feste Vorschläge zu machen hatte. Nun ging er doch zu dem Laden – wohin sollte er sonst noch gehen?

Die Wagen standen in den Fenstern wie vor dem Kriege, aber jetzt trugen sie keine deutschen Namen mehr, es waren alles französische, englische, amerikanische Wagen. Berlin, die Stadt der Ausländer, wie Deutschland das Land der Alliierten war! Auch das kleine Namensschild an der Tür hatte sich geändert. Wohl trug es noch immer den Namen »Ernst Gollmer«, aber ein »& Co.« war dazugekommen, und darunter stand zu lesen »G. m. b. H.«. Karl Siebrecht trat ein. Der Laden war gut besucht, sehr gut sogar. Überall standen Gruppen von Leuten um die Wagen, genau jener Schlag Leute, die dem Karl Siebrecht verhaßt waren, dicke Leute in schönen englischen Mänteln, aus deren Taschen sie nur ungern die Hände nahmen, Männer mit harten Augen. In einem mit rotem Leder gepolsterten Auto saß ein weibliches Wesen, etwas unvorstellbar Aufgeputztes und Bemaltes. Es drehte am Steuerrad, wie ein Affe daran gedreht hätte, und stieß dabei hohe, kreischende Schreie aus, die irgend etwas bedeuten sollten, denn vier Männer hörten dem Papageiengekreisch mit ernster Andacht zu.

Karl Siebrecht hatte sich überall umgesehen: der backenbärtige Prokurist war nicht mehr hier. So wandte er sich an einen Cut-gekleideten Herrn, der hinter einem Pult saß, und erkundigte sich nach Herrn Gollmer. Er sei persönlich bekannt mit Herrn Gollmer ...

Der Cut sah ihn prüfend an, Karl Siebrecht fühlte es förmlich, wie er auf die Möglichkeit eines Autokaufs hin überprüft wurde. Dann schüttelte der Cut den Kopf: Nein, Herr Gollmer sei nicht hier ...

Karl Siebrecht wandte sich zögernd zum Ausgang. Ein Verkäufer ging an ihm vorüber. Flüchtig sahen sie einander an, gleichzeitig erkannten sie sich, mit einem Ruck blieben sie beide stehen. »Na, Haifisch?« fragte Hans Tischendorf, ganz im Ton des Stettiner Bahnhofs und grinste dabei ungemein. »Was machst du denn hier bei uns? Auto kaufen, was? Ich empfehle dir den Packard da hinten, kostet nur eine Kleinigkeit, viertausend Dollar – he?« Und er lachte. Er hatte noch immer das bleiche, käsige Gesicht mit den unruhigen Mausaugen, aber die Pickel waren verschwunden, und die Ratte war sehr selbstsicher geworden. Bestimmt hatte Tischendorf Erfolg gehabt, und er sah auch nicht so aus, als sei er im Felde gewesen. Er trug einen dunklen Anzug mit diskreten hellen Nadelstreifen, dazu ein rohseidenes Oberhemd. »Willst du wieder Lastautos kaufen?« fuhr Hans Tischendorf fort. »Ich habe zufällig gesehen, daß du hier mal Großkäufer gewesen bist! Aber mit dem Fuhrgeschäft ist es doch vorbei. Heute muß man handeln, mein Lieber, nur handeln! Beim Arbeiten setzt man Geld zu, beim Handeln muß man ja verdienen, schon durch die Markentwertung!« Er sah den ehemaligen Feind an. »Ich mache diesen Laden hier nur noch nebenbei«, sagte er lässig. »Ich habe eine eigene Firma in der Wallstraße. Gebrauchtwagen, verstehst du? Wenn du zu mir kommst, kann ich dir was zeigen. Man kann gebrauchte Wagen heute erstaunlich billig kaufen – Heeresgut, verstehst du? Man muß natürlich nicht zu genau nach den Papieren fragen, und die Wagen müssen ein bißchen anders angepinselt werden – aber für hundert Mark kann man ja einen Haufen Farbe kaufen, was?« Wieder lachte er. »Sag mir nur, was du brauchst, Siebrecht! Ich besorge dir alles! Du kannst dir den Wagen gewissermaßen auf der Straße aussuchen, und eine Woche später hast du ihn! Das sind Geschäfte, was?«

»Du bist also doch in der alten Branche geblieben, genau wie auf dem Stettiner Bahnhof, wo dir manchmal Koffer verlorengingen, Tischendorf!« sagte Karl Siebrecht kalt.

Der andere hörte auf zu lachen. Sofort bekam sein Gesicht den alten feigen und doch frechen Ausdruck.

»Wo treffe ich Herrn Gollmer?«

»Den Alten? Keine Ahnung! Habe ihn nie gesehen, kenne ihn gar nicht. Kommt nie hierher. Ich glaube, er ist nur noch stiller Teilhaber, wenn er überhaupt noch in der Firma ist!«

»Danke!« sagte Karl Siebrecht.

»Du, Siebrecht, du verstehst doch Spaß? Ich habe eben doch nur einen Spaß gemacht, das verstehst du doch?! Natürlich bin ich nur Angestellter, ich wollte nur ein bißchen angeben vor dir!«

»Guten Tag!« sagte Karl Siebrecht und ging.

Er hatte schon ein paarmal versucht, in der Villa am Grunewald anzuläuten, aber er hatte keine Verbindung bekommen. Nun fuhr er hinaus. Alle Jalousien waren heruntergelassen, die Villa war unbewohnt. Eine Weile stand er am Gitter und sah in den Garten. Auf den Wegen lag totes Laub, ein Spaten steckte verloren in einem Beet. Nach kurzem Umsehen schwang er sich über die niedrige Eingangspforte. Eilig ging er um das Haus herum. Dies waren die Spaliere, die er an einem denkwürdigen Tage gegen Blattläuse behandelt hatte. Dort hinten stand der Schuppen mit dem Gartengerät. Langsam ging er zu der Laube, in der er einmal Kaffee, einmal Bowle mit den Gollmers getrunken hatte. Er setzte sich auf die feuchte Holzbank, er starrte vor sich hin. Er erinnerte sich des Tiergartens, der Handtasche, des zerrissenen Bildes. Wo war wohl jetzt der schmissige Herr? War er gefallen wie so viele, oder hatten die beiden geheiratet, warf sie jetzt ihre hellen Locken für ihn zurück, lachte für ihn? Er zog seine Brieftasche, nahm einen Zettel und schrieb darauf die Worte: »Ich hätte Sie gerne einmal gesprochen. Ihr Siebrecht.« Er zögerte einen Augenblick, plötzlich war er sich nicht ganz sicher, daß man sich nach fünf Jahren dieses Namens erinnern würde. So setzte er seine Firma darunter: »Siebrecht & Flau, Berliner Gepäckbeförderung« – den Namen einer gestorbenen Firma. So war es heute: das Lebendige mußte sich durch das Tote erklären. Mit dem Zettel in der Hand stieg er die Stufen zur Villa hinauf. Aber als er schon die Klappe zum Briefkasten gehoben hatte, wurde er wieder anderen Sinnes. Er ließ sie fallen – es tönte hohl aus dem unbewohnten Hause wider – und zerknüllte den Zettel. Es hatte alles keinen Zweck. Man erweckte Totes nicht wieder zum Leben. Es war eben vorbei ...


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