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12. Der eifersüchtige Bäcker

Das Mädchen war müde gewesen, der Junge war müde gewesen: sie waren beide am Herd eingeschlafen. Das Feuer erlosch, der letzte Hauch von Wärme verflog, nebenan in der Stube rührte sich Tilda im Schlaf: sie erwachten beide, es war ihnen kalt. »Gleich elfe«, sagte Rieke Busch und reckte sich. »Und Vata imma noch nich da!« – Der Junge hatte ein Schuldgefühl, er sagte nichts. – »Vata verträgt nich ville«, sagte das Mädchen wieder. »Und nu is er bald zwölf Stunden uff de Tour.«

»Soll ich noch einmal hingehen und versuchen, ihn fortzukriegen?« fragte Karl Siebrecht.

»Haste ihn nich weggekriegt, als er noch nüchtern war, wirste ihn nich wegkriegen, wenn er blau is, Karl«, sagte Rieke, und wenn diese Worte auch ohne eine Spur von Vorwurf gesagt waren, empfand sie Karl Siebrecht doch als Vorwurf. Wieder schwieg er.

»De Elektrische jeht noch zwei Stunden«, meinte das Mädchen wie zu sich. »Ick könnte sehen, det ick ihn heimlotse.«

»Dann gehe ich mit!« rief Karl Siebrecht entschlossen.

»Zu wat denn?« fragte Rieke. »Schlaf dir lieber jut aus, det de morjen frisch bist for deine neue Stellung.«

»Und du, Rieke, brauchst du keinen Schlaf?«

»Ick bin wenig Schlaf jewöhnt, mir macht det nischt.«

»Horch!« sagte der Junge. Ein aufheulender Windstoß hatte prasselnde Regentropfen gegen die Scheibe gejagt. »Wie das stürmt und regnet!«

»Ja – und wenn er blau is, haut er sich hin, wo er jeht und steht. Dann denkt er, sein Bette is überall. – Ick jeh los. Hau dir in de Falle, Karl, det de frisch bist morjen!«

»Ich gehe mit dir, Rieke!«

»Nee, du schläfst! Ick komme alleene zurecht! Ick bin immer alleene zurechtjekommen! Ick brooche dir nich!«

»Siehst du, Rieke, nun bist du mir doch böse, daß ich deinen Vater um seine Arbeit gebracht habe!«

»Du oller Dussel!« sagte sie und sah ihn mit ihrem alten Mut und Humor an. »Wat du dir allens inbildest! Zu wat soll ick dir böse sind?! Da kannste doch nischt for!«

»Dann laß mich auch mitgehen, Rieke!«

»Nee, du sollst dir nich mit uns behängen! Det is nischt for dir. Jetzt, wo du 'ne feine Stellung hast –!«

»Nimmst du mir etwa die Stellung übel, Rieke?!«

»Du bist keen Arbeeta, Karl, und du wirst ooch keena! Ick habe mir det jestern anders jedacht. Aba wie de mir erzählt hast, det du mit dem Rittmeista gesprochen hast, janz uff du und du, ick könnte det nich!«

»Aber die Stellung hätte ich nicht annehmen sollen auf dem Büro, nicht wahr, Rieke?«

»Doch hättste! Jrade hättste! Bloß – det ick dabei injesehen habe, det ick dir bloß hemme, der hatt ick jestern abend noch nich kapiert. Aber heute hab ick's kapiert, und da sare ick: Schluß, Karl!«

»Rieke!« sagte der Junge. »Jetzt will ich dir etwas sagen: wenn ich jetzt nicht mit dir gehen darf, und wenn ich nicht weiter zu euch kommen darf, dann trete ich die Stellung morgen nicht an!«

»Det tuste nich, Karl!«

»Das tue ich, Rieke!«

Sie sah ihn fest an. Er sah sie wieder an, mit leuchtenden Augen. Alle Müdigkeit war von den beiden abgefallen. Dann drehte sich Rieke kurz um. Sie nahm ein Tuch vom Haken, ein dunkles Umhängetuch mit langen Fransen, wie es die Arbeiterfrauen tragen. Sie legte es über Kopf und Schultern und sagte: »Na, denn komm, Karl! Laß det Kind die Bulette, sagt Mutta.«

»Und Mutta hat immer recht!« lachte Karl Siebrecht, als er schon hinter ihr die Treppe hinunter stieg.

Auf den Höfen gurgelte und spülte und sprühte der Regen. Im dunkeln Torweg stießen sie an zwei, die dort eng nebeneinander standen. »Sieh jefälligst erst hin, ehe de einen umrennst!« schalt eine zornige Stimme.

»Entschuldje man, Ernst!« sagte Rieke, die Augen wie eine Katze haben mußte. »Det nächstemal weeß ick det, in welche Ecke du knutschst!« Es gab ein verlegenes Geräusch, ein Räuspern, und sie waren auf der Straße. Der Wind sprang sie mit aller Gewalt an, er jagte eisige Tropfen gegen ihre Gesichter, die sofort kalt wurden. Schulter an Schulter, vornübergebeugt, kämpften sie sich gegen den Sturm vorwärts. »Det war der Bäcker!« rief Rieke. »Und det Mädchen is aus die Bügelei in der Jartenstraße!«

»Ich kann den Bäcker nicht ausstehen!« rief Karl zurück.

»For wat denn nich? Det is doch een juter Junge! Wenn de noch een Mächen wärst – for junge Mächen is er nich so jut ... Die loofen ja alle bloß seine mehlichte Visage nach!«

An der Haltestelle der Straßenbahn standen sie allein. Aber gerade als sie einstiegen, kam noch ein dritter gelaufen, und hinter ihnen schob sich der Bäckergeselle Ernst Bremer in den fast leeren Wagen. – »Nanu, Ernst!« rief Rieke. »Wat is denn mir dir los? Jehste denn jetzt ooch noch woanders uff de Tour?«

»Ick kann jehen, wo andere ooch jehen!« sagte der Bäcker mürrisch und warf einen feindseligen Blick auf Karl Siebrecht.

»Und fahren kannste ooch!« lachte Rieke. »Jott, haste denn die Lotte so einfach wegjeschickt?«

»Welche Lotte? Ick kenn doch keene Lotte!«

»Ach, det warst du wohl nich, ebend im Durchjang?«

»Den du umjerannt hast, det war ick! Vasteht sich!«

»Und keene Lotte nich? Da standste wohl janz alleene, Ernst?«

»Stand ick ooch! Oder –?«

»Oder wat, Ernst?«

»Oder stand ick nich alleene?«

»Doch! Du standst alleene, und die Lotte stand ooch alleene! Ihr habt euch bloß ein bißchen aneinanderjehalten, det ihr nich umjefallen seid, Ernst!«

»So 'n Stuß!«

»Und wohin fährste, Ernst?«

»Det wird sich zeijen. Immer de Neese nach, sagte Muffi, da kriegte er eenen druff.«

»Paß mal uff, Ernst!« sagte Rieke jetzt energisch. »Wenn de mit mir fahren willst, det is nich. Ick hole Vata'n. Vata is blau. Da kann ick dir nich brauchen.«

»Aber den kannste brauchen?«

»Du machst dir ja lachhaft, Ernst! Wat denkste dir denn? Denkste, jetzt kannste mit mir anfangen? Bei dir piept er ja! Du bist een juter Junge, habe ick immer jesagt, aber wenn de so kommst, is't sofort alle!«

»Aber den kannste brauchen?« fragte der Bäcker wieder beharrlich.

»Det kann ick ooch! Und warum, Ernst? Weil der nich an Mädchen denkt! Det ist mein Freund, Ernst –!«

»So plötzlich? Det is ja mächtig plötzlich!«

»Det jeht dir doch nischt an, Ernst, wat? Ha ick dir jefragt, wieso du deine Brautens so plötzlich wechselst?«

»Siehste, jetzt redst de schon von Brautens! Erst heeßt det Freund, und denn is det Bräutijam!«

»Du bist doof uff beede Backen, Ernst, det biste! Det kannste dir jar nicht denken, det man ooch wat anderet im Koppe hat als deine olle dußlige Knutscherei! Wat ick mir dafor koofe! Und denn, ick jeh noch uff Schule, Ernst, besinn dir!«

»Det hat mit Schule jar nischt zu tun! Ick habe jesehn, wie er uff dir jesehen hat, jestern abend – ick bin Kenner, een Blick jenügt mir!«

»Du spinnst ja, Ernst! Der is nich wie du.«

»Ick will dir was sagen, Ernst«, mischte sich jetzt Karl Siebrecht in diese sich ständig steigernde Zwiesprache. »Da irrt sich die Rieke, ich bin auch wie du.«

»Da siehste es, Rieke! Aba ...«

»Aber was du von der Rieke sagst, das ist Quatsch. Ich habe ein Mädchen zu Hause, da, wo ich her bin, und an die denk ich ...«

»Ist det wahr, Karl?«

»Das ist ganz gewiß wahr, Ernst!«

Ernst Bremer überlegte. »Det haste dir eben ausjedacht.«

»Das habe ich mir bestimmt nicht ausgedacht. Sie heißt übrigens Erika, ich nenne sie aber Ria. Da siehst du es!«

Der Bäcker war noch immer mißtrauisch. »Haste denn een Bild von ihr?« fragte er. »Zeig mir mal det Bild!«

»Ich habe kein Bild von ihr.« Und etwas unlogisch. »Sie ist doch die Tochter vom Pastor!«

Aber gerade dies schien den Bäcker zu überzeugen. »Wenn et so is!« sagte er. Und noch einmal nachgrollend: »Man kann ooch mehr Mächen haben!«

»Nu biste aber stille, Ernst!« sagte Rieke Busch energisch. »Du kannst det, du kannst zehne haben, und wenn de de elfte siehst, rennste schon wieda wie Franz Piependeckel! Aber Karl is nich so – wat, Karl, du bist nich so?«

»Nein, bestimmt nicht!«

»Na, Jott sei Dank! Det wäre ja ooch noch schöner, wenn du und hättest ooch mit Oojenverdrehen anjefangen! Wenn du wüßtest, wie du aussiehst, Ernst! Na, nu mach man, Lotte wartet – se wartet doch?«

»Ach die! Na ja, wenn't so is, Karl. Denn nischt für unjut, Rieke. Natürlich biste noch een Schulmädchen, bloß, det een anderer det manchmal vajißt ...« Er quasselte sich aus der Elektrischen.

»So ein Schmachtfetzen!« sagte Rieke hinter ihm drein. »Wat der sich inbildet, det möchte ich bloß am Sonntagmittag sind. – Aber det ist doch wahr, Karl, mit deine Erika?«

»Doch, Rieke, das ist wirklich wahr.«

»Und haste wirklich keen Bild von ihr?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Is se dunkel oder hell, Karl?«

»Ich weiß nicht mal, Rieke. Doch, ich glaube, sie ist hell.«

»So seid ihr alle, ihr Männer, det wißt ihr nie! Is se denn sehr fromm, weil se vom Pastor is?«

»Ich weiß eigentlich nicht, Rieke. Wir haben nie darüber geredet. Fromm ist sie wohl.«

»Küßt se dir denn?«

»Doch, ja, sie hat mir schon einen Kuß gegeben.«

»Na, denn is't jut, Karl. Ick dachte schon, dafür wäre se zu fromm, det wäre ooch nich det richtige! Aber so is't jut, Karl, wenn se dir küßt.«

»Nächste Haltestelle müssen wir raus, Rieke«, sagte Karl, dem etwas ungemütlich bei diesem Verhör geworden war. Rieke war imstande, noch herauszubringen, daß es sich nur um einen einzigen Kuß gehandelt hatte. Sie war so verdammt kaltschnäuzig und sachlich!

»Ja, det müssen wa!« sagte Rieke mit Seufzen und stand auf. »Schade, det war janz jemütlich hier! Der Ernst war zu drollig, wat? Und dann deine Erika – Erika ist ein feiner Name, wat? Von die mußte mir noch alles erzählen, Karl, wat?«

»Du weißt doch schon alles, Rieke!«

»Ja nischt weeß ick! Det bißcken Küssen – aber bis et so weit war, da liegt et! Weeßte, Karl, det is komisch bei mir, det erkläre mir bloß: von Liebe will ick jar nischt wissen. Aber wenn ick so 'n Schmöker zu fassen kriege, von irgend so 'ne Liebe, und die Ollen wollen partuh nich, und ihr bricht det Herze – da heule ick mir weg wie ein Wasserhahn. Wie kommt det, Karl?«

»Wir müssen raus, Rieke!«

»Recht haste, Karl. Also rin in det Unwetta! Hoffentlich sitzt Vata noch im Grünen Baum!«


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