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104. Die Hochzeit

Unvergeßlich blieb Karl Siebrecht von seinem Hochzeitstag der Augenblick, da er Hertha Eich ihrem Vater zuführte. Es war keine Zeit mehr gewesen, noch in die Passauer Straße zu fahren, sie fuhren direkt in die Eichsche Wohnung. Sie fanden Herrn Eich in seinem Arbeitszimmer, wandernd den Weg des ewigen Wanderers, zwischen Daumen und Zeigefinger die Klappe seines Rockes. Aber es war diesmal nicht die kaffeebraune Hausjacke, an der er sich festhielt, sondern die Klappe seines Fracks, und auf der Brust dieses Fracks hingen vier, fünf Orden. Herr Eich war zur Hochzeit bereit.

Doch hatte er diese Hochzeit nicht mehr erwartet. Ein Blick in das klein gewordene, alte, müde Gesicht sagte das. Aber kaum war die Tochter eingetreten, so veränderte sich das Gesicht, die Augenbrauen hoben sich, die gelblichen Augen bekamen Glanz. Die Gestalt straffte sich, der Rücken wurde wieder gerade. »Liebes Kind«, sagte Herr Eich und warf einen triumphierenden Blick auf Siebrecht, »ich wußte es ja! Ich habe es nie anders von dir erwartet!« Und ruhiger: »Übereile dich nicht, du hast noch reichlich eine halbe Stunde Zeit. Schneiderin und Friseuse erwarten dich. Aber geh zuerst zu deiner Mutter, sie zerfließt in Tränen. Sie ist keine Eich, du bist eine Eich.« Er war ganz Triumph. Er war ohne Erfolg bei der Tochter gewesen, aber nun, da der Schwiegersohn erfolgreich gewesen war, wo er versagt hatte, triumphierte doch der Vater! Es war nicht dieser unerwünschte Schwiegersohn, es war das Eichsche Blut – und vielleicht hatte er sogar recht damit.

»Ich bin seinetwegen gekommen, Vater«, antwortete Hertha. »Nicht, weil ich eine Eich bin.«

Die Tochter war gegangen, einen Augenblick sahen die beiden Männer einander an. Dann nahm Herr Eich stumm seine Wanderung wieder auf. »Wenn Sie jetzt zehn Minuten für mich Zeit haben, Herr Eich?« fing Karl Siebrecht an.

»Nein, ich habe jetzt keine Zeit für Sie«, antwortete Herr Eich, »und auch Sie haben keine Zeit für mich. Wenn Sie sich umziehen wollen, werde ich Ihnen ein Zimmer zeigen lassen. Oder wollen Sie so bleiben?« Er sah gleichgültig den von der langen Fahrt zerdrückten Straßenanzug des anderen an. Er sagte: »Es geht natürlich auch. Es kommt nicht darauf an.«

»Wenn Sie jetzt eine Viertelstunde Zeit für mich haben«, wiederholte Karl Siebrecht unbeirrt, »möchte ich mit Ihnen über die Leerkilometer reden.« Er lächelte böse. »Da wir gewissermaßen noch nicht miteinander verwandt sind.«

Herr Eich blieb mit einem Ruck stehen. »Wir werden nie miteinander verwandt sein, junger Mann!« sagte er heftig. Wieder nahm er seine Wanderung auf, er sprach ruhiger: »Sie haben mich in jeder Richtung enttäuscht. Als ich sah, daß meine Tochter sich für einen Taxichauffeur – interessierte, habe ich ihr jede Gelegenheit gegeben, diesem Interesse auf den Grund zu gehen. Ich nahm an, um so eher müsse es erlahmen. Ich habe Sie dabei gegen meinen Willen fördern müssen, ich hoffte, Sie würden sich Blößen geben. Sie haben sich Blößen genug gegeben, es hat nichts genützt ...«

»Um auf die Leerkilometer zurückzukommen«, sagte Karl Siebrecht unbeirrt, »so liegt eine Lücke im Vertrag vor, die von mir übersehen wurde, von Ihnen beabsichtigt war. Sie lassen sich einen Verlust meiner Gesellschaft noch bezahlen.«

»Um auf Sie oder vielmehr meine Tochter zurückzukommen –« Herr Eich wanderte immerfort – »so sehe ich in dieser Hochzeit das letzte Mittel, daß meine Tochter ihrem ›Interesse‹ auf den Grund kommt. Ich halte Sie nicht nur für einen Abenteurer, sondern auch für einen kalten Menschen ohne Gewissen. Es ist wünschenswert, daß wir beide wissen, wo wir stehen.«

»Es wird Sie interessieren, Herr Eich, daß gerade diese kleine – Überlistung mit den Leerkilometern nicht unwesentlich zu dem Entschluß Herthas beitrug, mich doch noch zu heiraten.« – Herr Eich blieb stehen und sah ihn starr an. – »Abweichend von Ihnen«, fuhr Karl Siebrecht fort, »bin ich der Ansicht, daß ohne diese Hochzeit unsere Beziehungen in wenigen Wochen zu Ende gewesen wären. Ich hätte von der Gnade meiner Geliebten leben müssen, und das hätte weder sie noch ich ertragen.«

Herr Eich fragte schnell: »Sie wären nicht zurückgekommen?«

»Nein, ich wäre nicht hierher zurückgekommen. Sie haben falsch gerechnet, Herr Eich.« – Wieder sahen sich die beiden schweigend an. – »Was aber Herrn Bremer angeht«, sagte dann Karl Siebrecht, »meinen präsumtiven Nachfolger –«

Sehr schnell fragte Herr Eich: »Wer ist Herr Bremer? Ich kenne diesen Namen nicht.«

Karl Siebrecht verbeugte sich: »Ich danke Ihnen, genau die Auskunft, die ich erwartete. – Wenn ich jetzt ein Zimmer zum Umziehen haben könnte?«

Herr Eich sah plötzlich wieder sehr alt und müde aus. »Ich weiß nicht, von welchen Leerkilometern Sie reden«, sagte er. »Am besten bringen Sie die Frage durch Ihre Anwälte vor. – Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer.« Und als Herr Eich ihm nun voranging, hatte Karl Siebrecht das Gefühl, daß er diesen Mann geschlagen hatte, nicht nur dies eine Mal, sondern für immer. Er würde ihn nie lieben, aber er würde ihn ertragen, solange ihn die Tochter noch liebte. Wenn das aber nicht mehr der Fall sein würde –

Alle Hochzeitsfeierlichkeiten glitten nur schattenhaft an ihm vorbei, er merkte es kaum. Er sah Hertha in ihrem weißen Brautkleid, er führte sie in die Kirche, er fühlte die vielen neugierigen Blicke auf sich, und einen Augenblick, als sie da beide vor dem Altar saßen, auf zwei vorgerückten Sesseln, hatte er das Gefühl: Hier also bin ich. Soweit bin ich nun doch gekommen – der arme Junge aus der Kleinstadt. Sechzehn Jahre sind es her, daß ich nach Berlin kam – mit nichts. Aber dies Gefühl wollte nicht deutlich werden, die Orgel spielte, und während er halb hinhörte, zerrann das Gefühl schon wieder.

Er wachte erst wieder in der Sakristei auf, als Hertha, er und nach ihnen die Trauzeugen unterschrieben. Einen Augenblick sah er neugierig den Namen an, der dort geschrieben stand: Hertha Siebrecht. Dann schüttelte ihm Herr von Senden die Hand, ungewöhnlich ernst, und auch er sehr müde aussehend: alle auf dieser glänzenden Hochzeit schienen ein wenig blaß und müde zu sein, vor allem die junge Frau.

Aber nicht Herr Rechtsanwalt Lange, sein und seiner Frau Sachberater, der auch als Trauzeuge unterschrieben hatte. »Ich bin ja so glücklich!« flüsterte er. »Diese Ängste, die wir ausgestanden haben! Ich und mein Kompagnon Messerschmidt, wir haben nächtelang nicht geschlafen vor Sorgen! Ich bin ja so glücklich!«

Später, wenn Karl Siebrecht an diese seine Hochzeit zurückdachte, kam es ihm immer seltsam vor, daß der einzige Mensch, der auf dieser Hochzeit ganz glücklich gewesen war, ein alter vertrockneter Jurist war. Aber ehe sie aus der Sakristei gingen, reichte ihm noch ein alter Freund die Hand, ein Mann, den er lange gesucht und entbehrt hatte: Herr Gollmer. »Ja«, sagte Herr Gollmer matt lächelnd, auch er sah sorgenvoll aus: »Ich wollte mich an diesem Ehrentag doch wenigstens einen Augenblick sehen lassen! Meinen herzlichsten Glückwunsch, Herr Siebrecht. Wollen Sie mich wohl Ihrer jungen Frau vorstellen –?«

Es kam Karl Siebrecht vor, als betrachte Herr Gollmer die junge Frau sehr eindringlich. Aber er war die Liebenswürdigkeit selbst: »Nein, zum Essen kann ich leider nicht bleiben, in zwei Stunden fahre ich weiter nach Paris. Ich hoffe aber, wir werden uns jetzt häufiger sehen. Es scheint, als stünden ein wenig ruhigere Zeiten bevor. Wir könnten sie wahrhaftig brauchen!«

»Und Ihre Tochter? Fräulein Ilse?« fragte Karl Siebrecht endlich. Es war alles Unsinn, warum sollte er nicht nach Ilse Gollmer fragen, wenn seine Frau dabeistand?

»Sie wäre gern mit hierhergekommen, natürlich. Aber irgend etwas kam ihr dazwischen, im letzten Augenblick entschloß sie sich anders. Nein, sie ist jetzt nicht in Berlin, aber bald wollen wir wieder ganz hierher übersiedeln, in unser altes Heim am Grunewald. Sie erinnern sich doch noch?« – Karl Siebrecht nickte. – Plötzlich lachte Herr Gollmer. »Ich rechne bestimmt darauf, daß Sie mir wieder als Gärtner zur Verfügung stehen! Wissen Sie noch: die Blattläuse? Haben Sie Ihrer Frau von den Blattläusen erzählt?«

»Doch ja, ich habe ihr davon erzählt«, antwortete Karl Siebrecht lächelnd.

Dann saß er mit seiner jungen Frau an der Tafel im Speisesaal des Hotels. Er sah die Reihe von Gästen hinunter, die meisten waren ihm nicht einmal vom Sehen bekannt. Ganz am anderen Ende entdeckte er ein paar bekannte Gesichter: Herrn Körnig, die Palude mit ihrem energischen, immer männerhafter werdenden Gesicht, ihr Haar im Herrenschnitt war nun schon ganz grau. Neben Fräulein Palude saß Herr Bremer, sehr lang, sehr rothaarig, mit sehr viel Sommersprossen. Einen Augenblick überlegte Karl Siebrecht, wer Herrn Bremer wohl eingeladen haben könnte, er hatte es bestimmt nicht getan. Sofort vergaß er wieder Herrn Bremer, er wandte sich zu Hertha und sagte leise: »Du, Hertha?«

»Ja –?«

»Wir wollen doch sehen, daß wir möglichst bald von hier fortkommen, nicht wahr?« – Sie nickte nur. – »Es ist natürlich nichts vorbereitet, aber ich denke, wir fahren einfach in die Passauer Straße. Was meinst du?« – Sie sah ihn schweigend an. – »Hilde wird schon alles in Ordnung haben«, fuhr er lächelnd fort. »Hast du übrigens Hilde in der Kirche bemerkt? Ich sah sie zufällig, sie weinte herzzerbrechend.«

»Nein«, sagte Hertha. »Nein, ich möchte nicht in die Passauer Straße, ich will überhaupt –«

Eine Weile mußten sie zuhören, wie ein Redner die Neuvermählten ansprach. Er feierte besonders die Tennisleidenschaft der jungen Frau, die dem jungen Ehemann ebenso unbekannt war wie der Redner selbst.

Als das Anstoßen der Gläser vorüber war, wandte sich Karl Siebrecht wieder an Hertha. »Du meintest, du möchtest nicht in die Passauer Straße. Natürlich geht das auch. Es ist ein bißchen schwierig, wir haben nicht einmal Gepäck fürs Hotel. Aber Hilde könnte schnell etwas zusammenpacken.«

»Ich will nie wieder in die Passauer Straße«, flüsterte sie leidenschaftlich. »Ich will nie wieder etwas von den Dingen sehen, die dort sind, auch die Hilde nicht. Schick sie fort, gib alles weg, was dort ist – ich kann nie wieder durch diese Haustür gehen, es wäre mir immer, als sei der Fotoapparat wieder auf mich gerichtet!«

»Aber Hertha«, sagte er verblüfft, »ich glaubte immer, du machtest dir aus all dem Geklatsche und Geschmier nichts!«

»Verstehst du nicht«, sagte sie und hob dabei lächelnd ihr Glas gegen einen Freund, der ihr zutrank, »verstehst du nicht, daß das alles vorbei ist? Daß wir noch einmal anfangen müssen, ganz von vorn? Es kann nie wieder so werden, wie es war, und ich will nie wieder etwas von dem sehen, was gewesen ist! Nie wieder!«

»Ich glaube, diesmal verstehe ich dich nicht ganz, Hertha«, sagte er und bemühte sich, möglichst glücklich auszusehen, denn er fühlte, daß sein Schwiegervater ihn beobachtete. »Aber es soll alles geschehen, wie du wünschst. Ich werde die Wohnung kündigen und die Sachen weggeben. Du möchtest nicht, daß ich sie verkaufe?«

»Nein. Schenke sie weg, irgendwem, wo ich sie nie wiedersehe.«

»Das wird dann gleich eine Entschädigung für die arme Hilde sein, die wirklich ein freundliches Mädchen war«, sagte er lächelnd. »Aber, Hertha, das alles wird eine Weile dauern. Wo möchtest du, daß wir in dieser Zeit bleiben? In einem Hotel?«

»Ich möchte erst einmal zu Vater zurückgehen.« Sie sah, wie er zusammenfuhr. »Sei geduldig, Karl«, bat sie. »Laß mir Zeit. Findest du nicht auch, daß Vater sehr alt geworden ist? Laß mich noch eine Weile bei ihm. Es ist alles zu schnell gekommen, Lieber. Gestern um diese Zeit war ich noch ganz allein.«

»Gut«, sagte er. Auch hierzu sagte er gut ... »Ich will sehen, daß ich alles beschleunige, und ich hoffe, du hilfst mir ein wenig beim Mieten und Einrichten. Ich bin zu unerfahren in diesen Dingen. Aber um eines bitte ich dich, Hertha. Vergiß nie ganz, daß dein Vater nicht mein Freund ist. Laß die Zeit in seinem Haus nicht zu lang werden.«

»Je weniger du mich drängst, um so eher werde ich zu dir kommen. Ich weiß doch, daß ich dich liebe, und auch du weißt es.« Sie gab ihm die Hand. Auch sie hatte gesehen, daß ihr Vater sie beobachtete.

»Schließt ihr da einen Vertrag, Hertha?« fragte Herr Eich höflich.

»Ja, Vater«, sagte sie leise. »Karl ist damit einverstanden, daß ich die ersten Wochen noch bei euch bleibe, während er nach einem neuen Heim für uns sucht.«

Herr Eich zog in höflichem Erstaunen die Augenbrauen hoch. »Herr Siebrecht ist sehr großzügig«, sagte er. »Da werde ich nicht weniger großzügig sein dürfen und muß ihn wohl bei der Suche nach einem neuen Heim unterstützen.«


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