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89. Nächtliche Aussprache im Tiergarten

Eigentlich war die Predigt des Herrn von Senden doch klar und verständlich gewesen: Karl Siebrecht sollte sich eine kleine Freundin suchen, die ihm bei der Vertreibung seiner Gewissensbisse behilflich sein konnte. Und Siebrecht glaubte auch, die Predigt und ihren Sinn völlig erfaßt zu haben. Darum ging er keine hundert Schritte in der Artilleriestraße weiter, sondern trat sofort in eine Gastwirtschaft, trank pro forma einen Schnaps und verlangte das Telefonbuch. Die Nummer war rasch gefunden, der Apparat stand auf der Theke, die braven Bürger tranken dort ihre Mollen, mit Körnern untermischt, er hob ab und verlangte die Nummer. »Jawohl, hallo! Ist dort Eich? Ich möchte Fräulein Hertha Eich sprechen. Wer da ist? Ja, verstehen Sie mich denn nicht? Ich möchte Fräulein Hertha sprechen, ich werde ihr schon sagen, wer da ist! Schön, ich warte!«

Da stand er, Energie im Herzen, die Bürger umher kümmerten ihn nicht, seine Hemmungen waren vergessen. So mutig hatte ihn die Predigt des Herrn von Senden gemacht, und dabei war noch nie eine Predigt falscher verstanden worden als diese klare und eindeutige!

»Hallo? Ja, ich bin noch hier. Fräulein Eich? Fräulein Hertha Eich selbst? Schön – ja, Fräulein Eich, hier spricht der Mann, der Sie eigentlich vor sieben Monaten anrufen sollte und wollte. Erinnern Sie sich des Falles noch? – Hallo, sind Sie noch da?«

»Ja, ich bin noch da.«

»Sie erinnern sich noch?«

»Doch ja, ich erinnere mich. Sie besinnen sich etwas spät auf Ihr Versprechen, Herr Siebrecht!«

»Es kam einiges dazwischen. Ich erzähle es Ihnen vielleicht – wenn es Sie interessiert. – Hallo! Sind Sie noch da?«

»Ja, ich bin noch da!«

»Ich meinte –«

»Ich habe schon verstanden, was Sie meinten.«

»Ja –« sagte Karl Siebrecht, etwas enttäuscht. Es war vielleicht viel verlangt, aber er hatte eine andere Antwort auf seinen Anruf erwartet.

»Ja –« sagte sie auch.

»Wie?« fragte er.

»Ich hatte ja gesagt«, antwortete sie.

»Sie wollen also –?«

»Ja, ich will mir anhören, was Sie zu erzählen haben.«

»Und wann?«

»Ja, wann?« Sie schien zu überlegen. »Von wo sprechen Sie denn?«

»Ach, weit ab von Ihnen, aus der Artilleriestraße.«

»Fahren Sie denn noch Ihr Autotaxi?«

»Nein, das fahre ich nicht mehr. Aber ich könnte trotzdem in einem Taxi zu Ihnen kommen, wenn Sie das meinen.«

»Nein, nicht hierher. Warten Sie. Es ist schon ein bißchen spät ...«

»Es ist eben erst neun Uhr.«

»Also sagen wir um halb zehn an der Normaluhr am Zoo! Schaffen Sie das?«

»Doch, das schaffe ich.«

»Also schön. Ich hoffe, ich muß nicht sieben Monate unter der Normaluhr warten!« Zum erstenmal hörte er sie lachen.

»Nicht sieben Minuten!« schwor er.

Diesmal hielt er Wort.

»Neun Uhr zweiundvierzig«, stellte er fest, als sie rasch und doch ein wenig scheu auf ihn zukam. »Ich habe im ganzen siebzehn Minuten auf Sie gewartet.«

»Sie werden noch viele siebzehn Minuten auf mich warten müssen«, sagte sie und gab ihm nur rasch die Hand, »bis wir gleichstehen. Vergessen Sie nicht, ich bin Ihnen sieben Monate voraus!«

»Sieben Monate weniger siebzehn Minuten! – Wohin gehen wir? In ein Café?«

»Nein, in kein Café. In einem Café ist es mir heute zu heiß. Gehen wir hier am Zoo entlang in den Tiergarten.«

Sie machte keinen Versuch, ihm ihren Arm zu geben, und er wagte es nicht, ihr den seinen anzubieten. Ihr Gesicht mit den dunklen Augen hatte blasser denn je ausgesehen, mit jenem leidenschaftlichen Zug, der ihn schon damals bei einem so jungen Mädchen verwundert hatte. In allem war sie der Gegensatz von Rieke, sie war dunkel, verhalten, leidenschaftlich, still.

Auch jetzt gingen sie eine lange Zeit schweigend nebeneinander. Auf dem Wehr blieb Hertha Eich einen Augenblick stehen und sah in das Wasser, stumm, wieder ohne ein Wort. Dann warf sie den Kopf zurück, ihr kurzgeschnittenes Haar wehte einen Augenblick, nun lag es wieder glatt. Plötzlich blieb sie stehen. Sie stand vor ihm, sie war beinahe so groß wie er, sie sah ihn an. »Was ist mit Ihrer Frau?« fragte sie dann unvermittelt. »Sagen Sie mir nur, was mit Ihrer Frau ist!«

»Ich bin geschieden«, sagte er – heute abend schon zum zweitenmal.

Wieder warf sie den Kopf zurück, das Haar flatterte auf, er versuchte sich zu erinnern, wo er dies schon einmal ähnlich gesehen hatte, er erinnerte sich nicht.

»Ist es meinetwegen?« fragte sie, wieder so plötzlich. »Sagen Sie die Wahrheit!«

»Nein, es ist nicht Ihretwegen«, antwortete er. »Ich glaube, ich habe Ihnen schon damals gesagt, daß bereits alles entzwei war.«

»Kommen Sie«, sagte sie und fing plötzlich wieder an zu gehen. »Und Sie? Haben Sie in dieser Zeit an mich gedacht? – Verstehen Sie, ich will wissen, ob ich eine Schuld habe an alldem oder nicht. Ich bin nicht neugierig!«

»Doch, ich habe manchmal an Sie gedacht. In letzter Zeit hätte ich Sie manchmal gern angerufen.«

»Warum erst in letzter Zeit? Warum nicht früher –?«

»Ich hatte einen Unfall, nicht hier, im Westfälischen. Ich bin erst seit ein paar Wochen wieder in Berlin.«

»Und warum haben Sie mich dann in den letzten Wochen nicht angerufen? Wollten Sie erst Ihre Scheidung abwarten?«

»Nein. Ich bin schon seit drei Wochen geschieden, ich hätte schon drei Wochen früher anrufen können.«

»Und warum taten Sie es nicht?« – Er schwieg. Diese Unterhaltung lief einen sehr anderen Weg, als er erwartet hatte. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er das Gefühl, mit einem Menschen zu sprechen, der nur die Wahrheit wollte, nichts als die nackte, unverhohlene Wahrheit. Er wußte, sie würde ihn bei der ersten Lüge ohne ein weiteres Wort stehenlassen und gehen. – »Nun, warum wollten Sie mich nicht anrufen?«

»Ich wollte mir nicht gerne von Ihnen helfen lassen. Ich dachte –«

»Halt! In was kann ich Ihnen denn helfen?«

»Sie haben mir damals gesagt –« o Gott, war das schwer, die ganze Wahrheit zu sagen! – »Ihr Vater sei bei der Eisenbahndirektion. Ich brauche irgend jemand, der bei der Direktion ein gutes Wort für mich einlegt.«

»Gut«, sagte sie. »Gut.« Er hörte sie tief aufatmen. »Und Sie haben gedacht, ich habe mich in Sie verliebt, und darum wollten Sie nicht?«

»Ja«, sagte er. »Darum wollte ich nicht ...« Er zitterte davor, daß sie nun fragen würde, warum er nun gerade heute doch angerufen habe. Er konnte ihr doch nichts von diesem leichtsinnigen Ratschlag des Rittmeisters sagen! Aber an diese Frage dachte sie jetzt nicht.

»Gut«, sagte sie wieder. »Da ist eine Bank. Setzen wir uns, und erzählen Sie mir, für was Sie meines Vaters Hilfe brauchen.« Als er aber anfing, ihr von der jetzigen Lage auf den Bahnhöfen zu erzählen, schüttelte sie ungeduldig den Kopf. »Nein!« sagte sie. »So interessiert mich das nicht. Erzählen Sie mir alles von Anfang an. Ich will wissen, wie Sie darauf verfallen sind, was Sie vorher getan haben. Ich will alles wissen, sonst verstehe ich nichts.«

»Das würde ein langer Bericht, Fräulein Eich«, sagte er zögernd. »Ich fürchte, Sie werden nicht soviel von Ihrer Nachtruhe opfern wollen.«

»Um meine Nachtruhe machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde schon halt sagen, wenn es mir langweilig wird.« Aber sie sagte nicht halt. Im Gegenteil, sie fragte manchmal nach Einzelheiten, sie hatte eine untrügliche Witterung dafür, wenn er etwas ausgelassen oder flüchtig erzählt hatte. »Nein«, sagte sie dann. »So kann es nicht gewesen sein. Sie haben da etwas vergessen – erinnern Sie sich!«

Und gehorsam erinnerte er sich. Zu keinem Menschen hatte er je so offen gesprochen wie zu diesem blutjungen Mädchen. Er versuchte, sich ihrer zu erinnern, wie sie damals bewußtlos auf dem Flur lag, so häßlich betrunken! Dann an die Szene, da Rieke sie beschimpft hatte. Aber das alles verging, es war nie recht deutlich gewesen, nun war es schon vorbei – Traum in Nacht versunken. Wirklich waren nur diese dunklen Augen, die sich immer wieder in brennender Anteilnahme auf ihn richteten, wirklich war dieser Mensch, der an seiner Seite saß, der sich nichts ersparen wollte, der aber auch nicht wollte, daß sich andere etwas ersparten, ein schwerer, glühender Mensch. Stunde um Stunde verging, zu Anfang waren noch Liebespaare an ihnen vorbeigekommen, manche hatten sich auf die freie Bankhälfte gesetzt. Dann hatte er ganz nahe an ihrem Gesicht gesprochen, nur geflüstert.

Plötzlich stand sie auf. »Genug!« sagte sie. »Bringen Sie mich zurück zum Zoo. Sie sollen Ihren letzten Stadtbahnzug noch bekommen.«

Diesmal ging sie nicht eilig, sie blieb sogar wieder auf dem Wehr stehen, und wieder warf sie entschlossen den Kopf zurück. »Wahrheit um Wahrheit«, sagte sie und lächelte. »Nein, ich bin nicht verliebt in Sie, Herr Siebrecht. Sondern ich weiß, ich liebe Sie. Aber ob je etwas daraus werden wird –?«

Sie sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. »Was meinen Sie –?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. Plötzlich ging sie schon wieder, und als er etwas sagen wollte, rief sie ungeduldig: »Nein, Sie sollen nicht reden! Für heute nacht ist genug geredet.« Am Bahnhof gab sie ihm flüchtig die Hand. »Sagen Sie mir rasch Ihre Adresse. Ihr Zug kommt gleich!« – Er sagte sie, und sie wiederholte die Adresse. – »Ich werde mit meinem Vater reden. Ich schreibe Ihnen dann einen Rohrpostbrief. Verstehen Sie mich recht: ich verspreche Ihnen nichts. Ich verspreche Ihnen nicht einmal, daß wir uns wiedersehen.« Und plötzlich: »Gute Nacht!«

Sie stieg, ohne sich noch einmal umzusehen, in ein Taxi, sie fuhr fort. Er sah ihr so lange nach, daß unterdes sein Zug fortgefahren war. Es war ihm nur recht, er ging gerne durch den Tiergarten nach Hause. Und während dieses Weges dachte er nur daran, daß er ihr die volle Wahrheit sagen mußte. Er hatte ihr noch nichts von Gerti erzählt, er hatte ihr auch noch nicht gesagt, warum er sie heute angerufen hatte. Er war es ihr schuldig. Dies mußte von allem Anfang an klar und wahr sein, sonst wurde nie etwas daraus. Aber nicht einen Augenblick zweifelte er daran, daß er sie wiedersehen würde.


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