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2. Die Zukunft in der Küche

In der Stube redeten sie immer lauter; sie wurden wohl über seine Zukunft nicht einig. Der Junge starrte aus dem Küchenfenster in die vom Wind durchpfiffene nasse Novembernacht. Hinter seinem Rücken wirtschaftete die alte Minna mit ihren Töpfen am Herde. Jetzt schraubte sie den Docht der Petroleumlampe niedriger, daß die Küche fast im Dämmer lag. Sie sagte: »Es ist bald Abendessenszeit, soll ich dir Stullen machen, Karl?«

»Ich kann nicht essen – wenigstens so lange nicht, bis über meine Zukunft entschieden ist!«

»Da wird nicht viel zu entscheiden sein! Du wirst Verkäufer werden müssen bei deinem Onkel Ernst!«

»Nie, Minna! Das nie! Hast du wirklich gedacht, ich würde bei Onkel Ernst unterkriechen und in seinem Kramladen grüne Seife verkaufen? Nie – nie – nie!«

»Aber was dann, Karl? Du weißt, es ist kein Pfennig da. Wenn alles verkauft ist, reicht es vielleicht gerade für die Schulden. Was willst du denn anfangen?«

»Ich gehe fort, Minna. Minna, verrat mich nicht, ich gehe nach Berlin!«

»Das werden die nie erlauben!«

»Ich gehe, ohne sie zu fragen!«

»Aber was willst du denn in Berlin anfangen? Du hast nichts gelernt, du bist nur ein Schüler gewesen, du bist körperliche Arbeit nicht gewohnt!«

»Ich bin stark, ich bin stärker als alle, Minna. Ich will raus hier aus der Enge! – Ich hasse hier jeden Stein, jedes Haus, jedes Gesicht – nur dein gutes, altes Gesicht nicht, Minna! Ich will fort von dem allen, es hat den Vater kaputtgemacht, ich will nicht, daß es mir ebenso geht!«

»Du weißt nicht, Karl, wie schwer ein Leben ist, in dem man ganz auf sich allein gestellt ist!«

Karl Siebrecht rief mit heller Stimme: »Es soll ja schwer sein, Minna! Ich will gar kein leichtes Leben haben. Ich will viel werden, ich fühle dazu die Kraft in mir!«

Unbeirrt fuhr das alte Mädchen fort: »Und dann das Leben in der großen Stadt! Du, der nie ruhig sitzen kann, der jede freie Stunde draußen war – du willst immer in solchen hohen Steinhäusern hocken, ohne Licht und Sonne – du wirst todunglücklich dabei, Karl!«

»Und wenn ich dort unglücklich werde, Minna, so weiß ich, es hat sich gelohnt. Hier wäre ich auch jeden Tag unglücklich, und wofür, Minna, wofür? Was kann ich denn hier werden –?!«

»Man kann überall etwas Rechtes werden, Karl!«

»Das ist so ein Spruch, wie ihn der Pastor Wedekind sagt. Ich kann mit solchen Sprüchen nichts anfangen. Ich hab's hier in der Brust, Minna, ich muß fort von hier, wo mich jedes Gesicht, jeder Baum an den Vater erinnert, wo sie alle in meinem Rücken flüstern: Das ist der Junge vom Maurermeister Siebrecht, der Bankrott gemacht hat!«

Sie hatte die Hände auf seine Schulter gelegt, sie sagte: »Also geh, mein Junge, geh! Ich halte dich gewiß nicht, wenn du mußt!«

»Ja, ich muß, Minna, weil ich etwas werden will – ein wirklicher Mann! Die hier werden schon nachgeben, der Onkel Studier, mein Vormund, und der dicke Fritz Adam, Vaters Freund. Ich werde ihnen nie lästig fallen, ich werde sie nie um etwas bitten! Ich komme nicht eher zurück, bis ich etwas geworden bin, etwas Richtiges! Und dann besuche ich dich, Minna, dann hole ich dich zu mir nach Berlin, vielleicht in einem Automobil ...!«

Minna sah in seine leuchtenden Augen. Plötzlich – sie wußte selbst nicht, wie das gekommen war –, plötzlich hatte sie ihn umfaßt, sie hatte ihn gegen ihre Brust gedrückt, sie preßte ihn fest an sich. »Ach, du Kind, du«, flüsterte sie und war froh, daß er die ungewohnten Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. »Ach, du großer, kleiner Junge, du! Willst du mir jetzt aus dem Nest fliegen?! Paß nur auf, es gibt so viele große, böse Vögel, und es kommen Stürme, für die deine Flügel zu schwach sind ...! Aber fliege nur fort, du hast ja recht; besser fliegen als kriechen!«


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