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30. Franz Wagenseil tritt auf

Karl Siebrecht ging rasch durch die Invalidenstraße und bog in die Brunnenstraße ein. Er ging denselben Weg, den er damals in seiner ersten Berliner Nacht bei Regen und Kälte mit Rieke Busch gemacht hatte. Damals hatte er einen Karren gezogen, alles war ungewiß und fremd gewesen. Nur, daß er damals schon dunkel empfunden hatte, dies kleine Mädchen, das da hinten am Karren schob, sei etwas Freundlich-Vertrautes, ein Inselchen Sicherheit in einem Ozean von Ungewißheit, ein friedlicher Lichtschein in der Nacht.

Heute ging er den gleichen Weg an einem strahlend hellen Vorfrühlingstag, er stand vor großen Ereignissen. Von morgen an würde er ein Stück Transportunternehmer sein – und bei der Unterhaltung eben mit dem widerlichen Tischendorf hatte er klar erkannt, was er nun zuerst tun mußte: er mußte Rieke Busch alles erzählen, Pläne und Streit, sie hatte ein Recht, davon zu erfahren, und wenn er es auch durchführen würde, falls sie dagegen war, es war besser und anständiger, gegen ihren Rat zu handeln als ohne ihr Wissen. Darin hatte Kalli Flau recht. Er ging immer schneller. Eine Last war von seinem Herzen gewichen, er begriff sich selbst nicht, daß er so lange hatte schweigen können. Da hatte er wahrhaftig mit allen Leuten schon über seinen Plan geschwatzt, nur mit der Rieke nicht! Wieso eigentlich nicht? Aber er würde es nun sofort tun – und wie leicht würde ihm dann sein! Jawohl, einen Menschen mußte der Mensch haben, der an allem teilnahm, sonst war er kein Mensch. Sonst wurde alles böse, hart, bitter in einem – er hatte ein Stück davon zu fühlen bekommen in der letzten Zeit. Aber nun würde das alles gleich in Ordnung sein ... Aber so schnell er auch ging, an diesem sonnigen Nachmittag erreichte er die Freundin nicht mehr, es sollte Abend werden, ehe er sie wiedersah. Die gute Stunde glitt vorüber, die Wohnungstür war zu, und als er mit seinem Schlüssel aufgeschlossen hatte, war alles leer. Rieke war auf Besorgungen fort oder bei der Schneiderin Zappow. Und er mußte zu dem Wagenseil, er hatte keine Zeit mehr, sie zu erwarten oder zu suchen. Grenzenlos enttäuscht sah er sich in der kleinen Küche um.

Wenigstens wollte er diese Gelegenheit benutzen, um sich für Wagenseil besser anzuziehen, so etwas war immer gut. Vielleicht kam Rieke in der Zwischenzeit zurück, trotzdem es schon jetzt nicht mehr so leicht sein würde, mit ihr zu reden. Die Stimmung war weg. Er suchte sich aus dem überfüllten Küchenschrank frische Wäsche, aus der Kammer seinen Sonntagsanzug, wusch sich gründlich und zog sich langsam an. Er nahm sogar den hellblauen Seidenschlips, den er bei jenem Abschied von Ria und seitdem nicht mehr getragen hatte. Aber er dachte nur ganz flüchtig an Ria. Er dachte auch nicht mehr an Rieke, nicht an Kalli, nicht an Kiesow, nicht an Tischendorf. Er dachte nur noch an die ihm bevorstehende Unterredung mit dem Fuhrherrn Wagenseil.

Karl Siebrecht stieg die enge, riechende Treppe in der Wiesenstraße hinunter, als ihm von unten her ein Schritt entgegenkam. Es war dunkel auf der Treppe, und Karl war nicht verpflichtet, diesen Schritt zu kennen, er ging eilig weiter. »Du, Karl –« sagte Kalli Flau mit bittender Stimme. »Einen Moment mal –«

»Ich habe gar keine Zeit«, antwortete Karl Siebrecht und stieg weiter ab.

»Nur einen Augenblick«, bat Kalli wieder. »Ich will dir nur erklären –«

»Du hast deine rote Mütze vergessen!« sagte Karl Siebrecht schneidend und war schon einen Treppenabsatz tiefer.

»Armleuchter!« brüllte ihm Kalli Flau wütend nach. Er sagte aber nicht »Armleuchter« ...

So, der war erledigt, er würde es sich überlegen, ehe er ihn wieder anquatschte! Dem hatte er's großartig gegeben, dachte Karl Siebrecht, aber gar so großartig war ihm nicht zumute.

Er kam in die Frankfurter Allee, ohne etwas davon zu merken. Hier hatte Herr Wagenseil seinen Fuhrhof. Es war kein kleiner Fuhrbetrieb – o nein, im Gegenteil. Wagenseil hatte mindestens zwanzig Gespanne laufen, in der Hauptsache schien er Steine und Mörtel für Bauten zu fahren.

Karl Siebrecht war, ganz von seinem großen Plan erfüllt, eines Tages einfach auf diesen Fuhrhof getapert, übrigens nicht auf den ersten, wo er sein Anliegen vorbrachte. Aber meist war er kaum angehört oder barsch abgefertigt worden. Auch Herr Wagenseil hatte nicht gerade viel überflüssige Zeit. Neben seinem Fuhrbetrieb handelte er noch mit Kohlen und Kartoffeln, mit Stroh, Heu, Hühnerfutter. Nacheinander sechs verschiedenen Beschäftigungen hingegeben, hatte er den Jungen angehört. Er war ein langer, kräftiger Mann, vielleicht in den Vierzigern, nicht unsympathisch im Aussehen, rasch in Bewegungen wie im Reden. Am liebsten schien er zu äppeln, wie es der Berliner nennt. Er sprach nie ganz ernsthaft, machte lieber einen Witz. »Darüber kann man reden, mein Sohn«, hatte er gesagt. »Du kannst ja mal wiederkommen! Zähl mal eine Stunde lang alle Dienstmänner in der Königgrätzer Straße!«

Und gleich die erste Frage, als der Junge wiederkam, als hätte Herr Wagenseil in der ganzen Woche an nichts anderes gedacht: »Na, wieviel Dienstmänner?«

»Siebenundsechzig rauf, einundsechzig runter vom Bahnhof«, hatte Karl Siebrecht geantwortet.

»Sechse, die sich festgesoffen haben!« antwortete Herr Wagenseil prompt. »Hilf der Mutter da den Sack auf die Waage, mein Sohn! Wie heißt du eigentlich? Ja, Mutter, echte rote Dabersche Kartoffeln, die einzigen Roten, die sogar unser Kaiser verdauen kann. – Wie alt bist du?« –

Am Eingang zum Fuhrhof stand ein schwarzgeteerter Schuppen mit der Rieseninschrift »Büro«. In ihm saß ständig ein ältliches weibliches Wesen, das ebenso verstaubt schien wie die Papiere um sie. Sie war aber ein tüchtiger Hofhund. »Herr Wagenseil?« fuhr sie Karl Siebrecht an. »Was wollen Sie denn von Herrn Wagenseil?!« Das »Sie« war entschieden nur seinem grauen Überzieher und dem Filzhut zuzuschreiben.

»Ich möchte ihn mal sprechen.«

»Sprechen? Zu was denn? Geld? Geld haben wir heute nicht da! Müssen Sie morgen noch mal wiederkommen!«

»Ich will kein Geld. Ich möchte ihn bloß geschäftlich sprechen.«

Aber wenn das »geschäftlich« Eindruck auf die Dame machen sollte, so machte es jedenfalls den falschen Eindruck. Prompt ging sie zum »Du« über. »Such ihn dir doch selber! Soll ich wissen, wo der Wagenseil ewig steckt!«

So suchte ihn Karl Siebrecht. Er fand ihn bei einer friedlich stillen Beschäftigung in einer Ecke des Fuhrhofs. Wagenseil fütterte aus einer Futterschwinge die Hühner. »Alles muß man alleine machen!« beklagte er sich, aber ohne Klage. »Eier wollen die Weiber haben, aber das Füttern vergessen sie. Gehen Sie doch ein bißchen an die Seite, Sie scheuchen mir ja die Hühner weg! Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich hatte mit Ihnen wegen der Gepäckbeförderung geredet, Herr Wagenseil.«

»Ach so, ja richtig! Sie sind der Jüngling. Man erkennt dich ja gar nicht wieder! Ist es nun soweit?«

»Einmal muß man anfangen, Herr Wagenseil.«

»Bei mancher Sache fängt man am liebsten gar nicht erst an. Wo hast du denn deinen Freund? Du wolltest doch einen Freund mitbringen, der Kutscher spielen soll.«

»Mit dem habe ich mich verkracht«, antwortete Karl Siebrecht zu seiner eigenen Überraschung, denn davon hatte er Herrn Wagenseil eigentlich nichts erzählen wollen.

»So?« antwortete der nur. Er stülpte die Futterschwinge um, daß die restlichen Gerstenkörner wie ein goldener Regen auf die Hühner fielen, gab sie mit einem »Da!« dem Jungen zum Halten, zog Messer und Kautabak aus der Tasche, schnitt sich ein Stück Priem ab, schob es in den Mund und fragte dabei: »Und was sagen die Dienstmänner und Gepäckträger?«

»Die haben abgelehnt!« antwortete wieder dieser überraschende Karl Siebrecht.

»Rindviecher!« sagte der Wagenseil. Er stelzte, dem Jungen voran, über den Hof auf einen einfahrenden Wagen zu. »Ich habe meinen Bengel hingeschickt, die Karren zu zählen. Zweiundachtzig rauf wie runter hat der gezählt. Keine Besoffenen diesmal.«

»Da ist aber ein Geschäft, Herr Wagenseil!«

»Natürlich ist das ein Geschäft! – Heu?« fragte er den Kutscher. »Wiesenheu oder Kleeheu?«

»Kleeheu nehm ich lieber, Herr Wagenseil. Wie ist denn heute der Preis?«

»Eins neunzig – bloß, ich hab keins. Ein Geschäft ist das schon, bist du aber auch der richtige Mann fürs Geschäft, Junge? – Und Kleeheu ist heute auch nicht da, morgen kommt wieder was rein. Nimm so lange ein paar Ballen Haferstroh mit. Da rüber zum Schuppen! – Sage mal, Junge, bist du noch nicht auf die Idee gekommen, daß ich dies Geschäft ohne dich machen könnte –?«

»Nein, Herr Wagenseil, so was traue ich Ihnen nicht zu.«

»Natürlich traust du mir das zu! Bloß du bist noch nicht auf den Gedanken gekommen! Sehr helle bist du in Geschäften noch nicht, mein Sohn! – Na, komm mal mit in meine Bude!« Er warf das ältliche Fräulein einfach heraus. Dem Tönchen ihres Arbeitgebers war diese bissige Dame nun doch nicht gewachsen. »Mach, daß du rauskommst, olle Zicke!« schalt er, aber ohne zu schelten, nur so, vielleicht um Schwung in sie zu bringen und jeden Widerstand im Keime zu ersticken. »Den ganzen Tag muffelst du herum und nischt ist in Ordnung! Wiege dem Kalkhorst sein Haferstroh ab, aber verwiege dich nicht wieder! Ich weiß genau, wieviel Bund auf einen Zentner gehen. Ich sehe alles!«

»Was Sie wohl sehen!« schimpfte sie noch, um wenigstens das letzte Wort zu haben, war aber schon draußen.

Wagenseil warf sich auf einen Stuhl, daß es krachte. Er streckte seine schwarzledernen Gamaschenbeine weit von sich, sah Karl Siebrecht an und fragte: »Rauchst du? Nee? Dann setz dich. Ich rauche auch nicht, Rauchen ist Quatsch!« Und ohne jeden Übergang: »Ich habe drei Arten, das Geschäft zu machen. Einmal ohne dich –«

»Das tun Sie nicht, Herr Wagenseil!«

»Und warum tu ich es nicht? Nicht aus Anständigkeit. Im Geschäft gibt's keine Anständigkeit, und du hast mir deine Karten offen genug hingelegt? Warum mach ich es also mit dir?«

»Vielleicht, weil ich der richtige Mann dafür bin.«

»Du der richtige Mann? Du, der sich schon mit allen verkracht hat! Merke dir eins, mein Sohn, in diesem Betrieb gibt's nur einen richtigen Mann für alles, und das bin ich! – Nee, mein Sohn, sondern weil du einen schlauen Gedanken gehabt hast in deinem Köppchen, und wo ein schlauer Gedanke ist, da sitzen vielleicht noch mehr! Bloß darum! Denkst du, daß ich meinen Jungen in die Königgrätzer geschickt habe? Nicht die Bohne! Das war glatt gelogen – ich lüge überhaupt viel, das muß man beim Geschäft. Aber Lügen macht mir auch so Spaß! Nee, ich habe selber vier Stunden lang die Gepäckkarren gezählt und habe mir gesagt: da muß also ein dußliger Bengel kommen, um zu sehen, was so vor Augen liegt. Also ist der Bengel gar nicht dußlig, sondern wir sind's!« Herr Wagenseil war längst wieder aufgestanden. Sitzfleisch hatte er nicht. Er war auf und ab gelaufen, hatte an der Kopierpresse gedreht, einer Schrankfüllung einen dröhnenden Schlag versetzt, hatte ins Telefon geblasen, er war nicht eine Minute unbeschäftigt gewesen.

Karl Siebrecht sagte dankbar: »Nicht wahr, es ist ein glänzendes Geschäft?«

Wagenseil riß das Fenster auf und brüllte über den Hof: »Du olle Zicke, schlaf nicht ein! Siehst du nicht, daß die Frau da nach Kartoffeln steht?! Gib ihr von der neuen Industrie! Poussier lieber nicht soviel mit dem Kalkhorst!«

»Ich poussiere nie, Herr Wagenseil!« schrie das Fräulein empört zurück.

»So siehst du auch aus!« lachte Wagenseil. »Genau so!« Er schmiß das Fenster zu. »Du kannst die Sache als eigener Unternehmer starten, und ich stelle bloß Pferde und Wagen gegen tägliche Bezahlung, wie wir es besprochen haben. Dann hast du alles Risiko. Oder ich übernehme den ganzen Krempel von Anfang an, und du wirst mein Angestellter. Ich gebe dir zu Anfang fünfzig Mark die Woche, später, wenn's erst klappt, hundert. Geht's sehr gut, noch mehr. Und dazu zwei Prozent vom Umsatz. Na, überleg dir den Rummel!«

Der Herr des Fuhrhofs ging an den Telefonapparat, verlangte eine Verbindung und fing an, in den Apparat hineinzureden, wobei sich seine Stimme ständig steigerte, bis sie schrie. Aber sanft fing sie an: »Ja, hier ist Franz. – Emil, bist du das? Selbst? Was hast du dir eigentlich gedacht, als du mir den Rappen auf den Hof gebracht hast? – Ein gutes Pferd ist das? Wo das wohl gut ist? Das ist genausogut wie du, du oller Roßtäuscher du! Das hat ja Rotz, Mauke, Krupp und Hahnentritt in einem, und ein Krippensetzer ist es auch! In einer halben Stunde ist der Gaul von meinem Hof, oder es war das letzte Geschäft, das du mit Franz Wagenseil gemacht hast!«

Unterdes überlegte Karl Siebrecht sehr aufgeregt den Vorschlag. Fünfzig Mark die Woche, das war glänzend. Und bald hundert und vielleicht noch mehr. Und zwei Prozent vom Umsatz, das mußte auch einen Haufen Geld bringen! Das hieß Sicherheit und Vorwärtskommen – und er konnte sofort Rieke wie Kalli ihr Geld zurückgeben ...

Der Wagenseil lärmte immer toller am Telefon. Nun stampfte er schon mit den Füßen und schlug mit der Faust an die Wand. »Ich verstehe mehr von Pferden als alle Pferdehändler von Berlin zusammen! Was ihr im Koppe habt, das habe ich schon längst aus dem Arsch geschissen! Du bist ja doof, Emil! Ich habe was Neues vor, ich brauche mindestens zehn neue Pferde, gängige Ostpreußen, am besten mit ein bißchen Hannoveraner Blut drin. Aber frisches Material, das ich auf dem Pflaster traben lassen kann, ohne daß es gleich lahm wird ...«

Mit halbem Ohr hatte Karl Siebrecht zugehört. Ob er die neuen Pferde fürs Gepäck will? dachte er. Er muß das Geschäft für noch viel besser halten als ich! Zweihundert Mark im Monat, das ist ja mehr als die Wucherzinsen, die mir Tischendorf abnehmen wollte! Aber wenn das Geschäft so glänzend ist, dann will ich es auch alleine machen! Und überhaupt: ich will keines Menschen Angestellter sein, durch mich selbst will ich vorwärtskommen!

»Geld?« schrie Franz Wagenseil jetzt. »Du hast doch immer noch dein Geld von mir gekriegt, Emil! – Bloß mit dem Gerichtsvollzieher? Emil, Mensch, die Gerichtsvollzieher wollen doch auch leben! Ich habe immer alles, bloß kein Geld nicht – ich mache noch mal Pleite? Einmal, sagst du? Zehnmal mach ich noch Pleite! Was schadet denn das? Hauptsache, du kriegst dein Geld! Kannst dir ja das Eigentumsrecht an den Gäulen vorbehalten.« Plötzlich ganz milde: »Also in einer halben Stunde holst du den Rappen, den Mistbock! Wegen den Ostpreußen reden wir noch!« Er hängte ab und war sofort wieder in der anderen Sache. »Wie wird es?« fragte er. »Unternehmer oder Angestellter?«

»Unternehmer!« sagte Karl Siebrecht ohne Schwanken.

Wagenseil pfiff durch die Zähne. »Wieviel Betriebskapital hast du?« fragte er.

»Hundert Mark,« sagte Karl Siebrecht.

»Schafskopf!« lachte Wagenseil. »Tausend hättest du sagen müssen! – Alles dein Geld?«

»Nein ...« Dies kam nun doch zögernd.

»Wieviel ist dein eigenes?«

»Fünfunddreißig Mark!«

»Vergiß das nicht«, sagte Wagenseil plötzlich fast aufgeregt. »Vergiß das bloß nicht! In zwanzig Jahren wirst du daran denken, daß du den großen Zirkus mit fünfunddreißig Mark Eigenem aufgezogen hast – und dumm bist du auch nicht, wenn du auch bloß aus Dummheit so ehrlich bist. Hättest du tausend Mark gesagt, hätte ich den Laden vielleicht doch ohne dich gemacht. Dann wärst du mir zu stark gewesen. Mit tausend Mark kannst du jeden Fuhrwerksbesitzer in Berlin mieten. Jetzt brauchst du mich!«

»Ich will es auch nur mit Ihnen machen.«

»Weil du bloß hundert Mark hast! – Paß auf, mein Sohn, wie ich mir den Kram denke. Jetzt fangen wir bloß mit einem Wagen an, und du spielst Kutscher, bis wir die Dienstmänner kirre haben. Du hast gehört, was ich wegen der neuen Pferde telefoniert habe?«

»Ein bißchen. Die sollen dafür sein?«

»Natürlich! Ein Wagen ist nichts. Wir müssen zehn Wagen haben, zwanzig, wir halten an allen Bahnhöfen, zu jedem Zug! Dann schmeißen wir die Dienstmänner raus, die brauchen wir dann nicht mehr. Wir machen es mit den Gepäckträgern. Und nachher fliegen die auch. Wir holen uns unser Gepäck vom Publikum selbst. All die Prozente sparen wir.«

»Dann machen wir aber die Dienstmänner brotlos!«

»Na, und wenn schon? Viele von denen jedenfalls! Wir können natürlich viel billiger als die fahren, und zum Schluß kommt das Größte: wir machen uns an die Bahn ran und schließen mit der einen Vertrag, daß wir allein in Berlin Gepäck befördern dürfen. Der Bahn werden wir dafür bezahlen müssen, und nicht zu knapp, aber laß man, das Geschäft wird doch gut werden.«

Karl Siebrecht sah den langen Mann mit glänzenden Augen an. Was er sich geträumt hatte, dieser Mann hatte es eben mit klaren, geschäftsmäßigen Worten gesagt! Einen flüchtigen Augenblick dachte er an die brotlos werdenden Dienstmänner, an den alten Vater Küraß, aber der Gedanke verging sofort wieder. Wir müssen doch vorwärts, dachte er. Wenn man alles Alte schonen will, gibt es überhaupt kein Vorwärts! Ich will dann schon für den Opa sorgen. Und dann sah er »seinen« Betrieb, »seine« Wagen an allen Bahnhöfen, »seine« Pferde auf allen Straßen traben! »Wir müssen auch das Gepäck in die Wohnungen schaffen und von den Wohnungen holen«, sagte er. »Für die kleinen Leute sind die Gepäckdroschken viel zu teuer.«

»Richtig!« sagte der Wagenseil. »Ich habe es doch gleich gesagt: Wo ein kluger Gedanke im Köppchen steckt, wachsen noch mehr. Dann brauchen wir vierzig, fünfzig Wagen. Ich habe keinen Pfennig Geld, bloß Schulden. Aber für dies Geschäft verkloppe ich den ganzen Fuhrhof, in dies Geschäft steige ich bis zum Hals rein! Aber, verstehst du, Junge, daß es schlauer ist, du läßt mich machen und wirst mein Angestellter? Bei dir geht es zu langsam! Hundert Mark – zwei, drei Monate wirst du nur mit einem Wagen fahren; ich habe eine Heidenangst, wenn es andere erst sehen, kommen die uns zuvor!«

»Ich will es alleine machen! Ich werde schon schnell vorankommen«, sagte der Junge hartnäckig. »Ich will keines Menschen Angestellter sein, auch Ihrer nicht!«

»Ach, du denkst«, lachte Wagenseil, »ich werde dich wie die Zicke behandeln? Na ja, vielleicht behandle ich dich auch so. Übrigens macht das keinen Schiedunter, ob du auch der Unternehmer bist! Anschnauzen tu ich dich doch, ich schnauze immer alle an!« Ganz rasch: »Junge, laß uns Kompagnons werden. Du schießt dein Köpfchen ein und ich die Gespanne! Ist das ein Wort?«

»Ich will es alleine machen!« sagte Karl Siebrecht hartnäckig.

»Schön! Aber das sage ich dir, Söhnchen, geht die Karre schief in diesen zehn Tagen. dann mache ich den Kram alleine! Dann kannst du betteln, soviel du willst, nicht als Kutscher stelle ich dich ein, nicht mal als Handlanger! Das ist ausgemacht!«

»Gut!« antwortete Karl Siebrecht entschlossen.

»Und warum tue ich's nicht? Nicht aus Rache, auch nicht als Strafe! Sondern weil du dich verrechnet hast! Dann suche ich mir eben einen besseren Rechner. Schlecht rechnen kann ich alleine. Ich habe schon einen Haufen Berufe gehabt in meinem Leben: Bauer bin ich gewesen, eine Kiesgrube habe ich gehabt, eine Zementwarenfabrik, Vieh habe ich gehandelt – immer bin ich pleite gegangen! Und warum? Fleißig bin ich genug, aber ich kann nicht rechnen! Ich gehe immer gleich zu groß ran, und dann reicht das Geld nicht. Das hat mir bei dir imponiert, daß du klein anfangen willst, daß du Geduld hast. Aber vielleicht ist es bloß Dummheit bei dir?«

»Ich schaffe es schon!«

»Warten wir's ab. Genug gequatscht!« Er riß wieder das Fenster auf. »Frollein, kommen Sie mal rein, Sie müssen hier was schreiben! – Ach, lassen Sie doch die olle Tunte stehen, das ganze Kartoffelgeschäft lohnt sich nicht mehr!« Er warf das Fenster wieder zu. »Jetzt werden wir einen Vertrag machen, nur so unter uns, ganz ohne Rechtsverdreher und Stempel. Wie alt bist du eigentlich?«

»Sechzehn.« Dies kam nun doch sehr zögernd.

»Na also! Schönes Alter, ich wollte, ich wäre auch noch so jung. Übrigens –« Er sang: »Schatzi, sag du zu mir! Kannste ruhig! Deswegen schnauze ich dich auch nicht mehr an.«

»Warum müssen wir denn einen Vertrag machen?« fragte Karl Siebrecht zögernd.

»Aber natürlich! Hast du etwa Angst vor mir, du denkst wohl, ich bin kein anständiger Mensch? Bei dir doch, bei dir doch immer! Was habe ich dir nicht von mir und meinen Pleiten erzählt? Das weiß kein Mensch hier in Berlin, nicht mal meine eigene Frau – hör, und«, fiel es ihm plötzlich ein, »der Rappe, wegen dem ich eben telefoniert habe –«

»Stimmt was nicht mit dem Rappen?«

»Natürlich nicht!« strahlte Wagenseil. »Bei mir mußt du aufpassen, ich lüge schlimmer als gedruckt! Der Rappe ist ein feines Pferdchen! Aber ich habe ihm gestern abend Rizinus und Aloe gegeben. Die ganze Nacht hat sich das Aas im Mist gewälzt und geschwitzt – der Emil läßt mir auf der Stelle hundert Mark ab, wenn er den Kraken sieht!« Er sah Karl Siebrecht lachend an – beglückt von der eigenen Geschäftstüchtigkeit.

Ein ungemütliches Gefühl überkam den Jungen. Ein ganz gewissenloser Geschäftemacher, sagte er sich. Mit dem dürfte ich nichts anfangen. Und wieder trotzig: Aber wenn es keine anderen gibt? Ich werde schon aufpassen – und wenn er mich reinlegen will, schmeiße ich ihn raus!

»Na, Zicke?« fragte der Fuhrherr. »Hast du die olle Mutter abgewimmelt? Die paar Kartoffeln, die wir noch da haben, verkaufen wir aus, und dann ist Schluß. Ich fange was Neues an, was ganz Großes!«

»Was Sie schon anfangen!« sagte sie verächtlich. »Wohl mit dem Bengel da?«

»Halt's Maul, Zicke! Red ich mit dir von meinen Geschäften!? Schreiben Sie, Frollein, mit Kopiertinte. Vertrag zwischen ... Sag deinen Namen, Junge, auch die Wohnung ... Und dann: Fuhrunternehmer ... na, Sie wissen schon ...«

»Mit so einem Kind können Sie doch keinen Vertrag machen, Herr Wagenseil!«

»Ob du die Schnauze hältst?! Was geht dich das an? Der Junge verdient in einem Jahre mehr als du in zehn Jahren, du olle Jungfer!«

»Was soll ich also schreiben?«

»Schreibe also so irgendeinen Mist hin ...«

»Das wird mir bei Ihnen leicht ...«

»Daß der Bengel sich verpflichtet, für sein Gepäckbeförderungsunternehmen Gespanne nur bei mir anzufordern, und ich verpflichte mich, ihm jederzeit so viel Gespanne mit Kutschern zu stellen, wie er braucht. In den ersten vier Wochen zahlt er mir zehn Mark für Gespann und Tag und fünfundzwanzig Prozent von seiner Roheinnahme, von da an zwanzig Mark pro Gespann und Tag und vierzig Prozent seiner Roheinnahmen ...«

»Sie sind ja verrückt, Herr Wagenseil!« schrie Karl Siebrecht. »Das ist viel zuviel! Davon haben wir nie geredet!«

»So, bin ich verrückt, du dämlicher Hund, du?« schrie Wagenseil sofort los. »Mach auf der Stelle, daß du aus meinem Büro kommst, mit deinen hundert Mark in der Tasche! Denkst du, ich mache wegen deinem schönen Überzieher Geschäfte mit dir? Ich kann mir zehn solcher Überzieher kaufen, zwanzig!«

»Und nicht bezahlen!« schrie Karl Siebrecht dagegen. »Meiner ist bezahlt.« Er hatte wohl gesehen, wie das Fräulein ihm zugezwinkert hatte. Es hatte aufmunternd genickt und »Kßt!« gemacht, als hetze es einen Hund. Zudem hatte ihm Wagenseil selbst eine gute Lehre durch sein Gespräch mit dem Pferdehändler gegeben.

Er reagierte auch sofort. »Sei doch kein Kamel, Karl«, sagte er lachend. »In vier Wochen hast du die Dienstmänner längst ausgebootet und steckst deren fünfzig Prozent ein –«

»Ich will dir fünfunddreißig Prozent geben.«

»Nichts! Fünfundvierzig!«

»Eben hast du vierzig gesagt!«

»Habe ich nicht! Fünfundvierzig habe ich gesagt – nicht wahr, Frollein, Sie haben's gehört?«

»Sie sagen viel, Herr Wagenseil.«

»Siehste, Karl! Wahrscheinlich habe ich sogar fünfzig gesagt! Fünfzig müßten es jedenfalls sein!«

»Dann habe ich zwanzig gesagt«, meinte Karl. Beide mußten lachen. »Na, und dann außerdem noch zehn Mark für den Fuhrtag statt zwanzig!«

»Aber ich muß die Kutscher löhnen! Das erste Gespann ist ohne Kutscher, verstehst du wohl, Karl? Das brauchen wir nicht extra in den Vertrag zu schreiben!«

»Du gibst deinen Kutschern bestimmt keine sechzig Mark die Woche, Franz!«

»Ein bißchen muß ich doch auch verdienen, Karl! Hast du eine Ahnung, wie teuer der Hafer ist!«

»Wie teuer ist denn der Hafer?« fragte Karl Siebrecht grinsend. All seine Erinnerungen an die Markttage in der kleinen Stadt, an manche geschäftliche Unterredung des Vaters waren in ihm wach geworden.

»Acht Mark kostet der Zentner jetzt!« stöhnte Wagenseil.

»Abgemacht!« rief Karl Siebrecht und streckte ihm die Hand hin.

»Für acht Mark den Zentner liefere ich dir morgen tausend Zentner, Franz!« – Sogar das bissige Fräulein mußte lächeln. Es sah aus, als habe sie eine Maus verschluckt.

»Handeln wir denn hier um Hafer?!« rief Wagenseil. »Wir wollen doch einen Vertrag machen! Also schreiben Sie hin, Frollein ... Dann will ich auch nicht so sein, ich gebe schon nach! Also schreiben Sie: zwanzig Mark das Gespann und vierzig Prozent der Roheinnahmen.«

Einen Augenblick stand Siebrecht verblüfft. »Das hast du doch schon vor fünf Minuten gesagt!« rief er dann.

»Habe ich das?« grinste Wagenseil. »I wo! Ich habe immer von fünfzig Prozent geredet!« Er sah den Jungen vergnügt an. »Na, sag selbst, was du geben willst. Bist doch ein anständiger Kerl! Frollein, schreiben Sie auf, was er sagt.«

Dieser Appell machte Karl Siebrecht weich. »Fünfzehn Mark das Gespann und dreißig Prozent«, sagte er.

Wagenseil stieß ein Gebrüll aus. »Wenn Sie das schreiben, Frollein, fliegen Sie achtkantig durch die Scheiben!« Er wandte sich an Karl Siebrecht. »Ich habe gedacht, du bist ein anständiger Kerl!« schrie er. »Aber nun ist Schluß! Du bist genauso ein Betrüger –«

»Wie du!« lachte der Junge.

Nach fünf weiteren Minuten einigten sie sich auf siebzehn Mark und 33? Prozent. So wurde es aufgeschrieben und von beiden unterzeichnet.

»Und nun kopieren Sie das gleich, Frollein«, sagte Herr Wagenseil. »Das Original kriegt mein Partner, und die Kopie trennen Sie mir vorsichtig aus dem Kopierbuch –«

»Sie wissen gut, ich darf nichts aus dem Kopierbuch trennen«, widersprach das Fräulein. »Sie kriegen wieder Stänkerei mit dem Revisor, Herr Wagenseil!«

»Halt's Maul und trenn raus!« sagte der Fuhrherr kurz. »Ich will es mir rahmen lassen; wenn ich die ersten Hunderttausend zusammen habe, laß ich es mir rahmen! Gott, Junge, habe ich dich angeschissen! Ich hätte es natürlich auch für zehn und fünfundzwanzig gemacht!«

»Das nächstemal werde ich dich schon anschmieren, Franz!« sagte Karl Siebrecht.

»Das erlebst du nicht!« lachte Wagenseil. »Du nicht! – Na, und nun komm, Karl, ich habe noch einen Umzug für kleine Leute zu machen, die warten schon drei Stunden auf mich. Verdient wird nichts dabei, aber immer kann man ja auch nicht nee sagen. – Ich will doch mal sehen, ob du überhaupt mit Pferden fahren kannst!«

»Ich habe bei uns zu Haus sogar Heufuder von der Wiese gefahren!«

»Allerhand! Aber in der Stadt ist doch ein anderes Fahren. Laß deine feinen Klamotten hier, zieh meinen Lederanzug an! Feines Wetter für einen Lederanzug heute, du wirst schwitzen! – Willst du wohl wegkucken, olle Zicke! So was möchtste, einen jungen Mann in Unterhosen sehen!«

»Sie haben ja oft nicht mal Unterhosen an, wenn Sie sich umziehen, Herr Wagenseil!« antwortete das Fräulein spitz.

»Kieke da, das hat sie also doch gemerkt!« wunderte sich Wagenseil. »Was so ein jungfräuliches Gemüt alles sieht und sich merkt. Ich muß mich doch sehr wundern, Frollein ...«

»Ich wundere mich bei Ihnen überhaupt nicht mehr«, antwortete die Dame und drehte die Kopierpresse fest.


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