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115. Trunkenheit

Als Senden mit der Molina gegangen war, blieb Karl Siebrecht in einem betäubten Schweigen sitzen. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, auf einer Bank, die bis dahin den Platz für das Sendensche Paar abgegeben hatte, saß Ilse Gollmer. Plötzlich hob Siebrecht den Kopf und sah Ilse an. »Also falsch gemacht?« fragte er.

Sie machte eine unbestimmte Bewegung: »Vielleicht ... Ich weiß nicht ...« – Er sah sie noch immer an. – Sie sagte: »Eine gewisse Hoffnung liegt darin, daß sie den Scheck hat.«

»Hoffnung –?«

»Ja. Vielleicht hebt sie das Geld ab und läßt ihn sitzen.«

»Richtig«, sagte er und stand schwerfällig auf. »Ich muß sofort mit Hertha telefonieren.«

Mit Schrecken erkannte sie, daß er völlig betrunken war. »Einen Augenblick, Karl«, bat sie. »Warum willst du mit Hertha telefonieren?«

Er blieb unwillig stehen. »Das ist doch klar, Ilse«, sagte er mühsam, »Hertha muß den Scheck sperren. Dies Frauenzimmer soll das Geld nicht kriegen! Ich muß das verhindern!«

»Setze dich noch einen Augenblick«, bat sie. »Wir wollen darüber in Ruhe sprechen.«

Aber er war hartnäckig. »Du willst nur, daß ich nicht telefoniere. Ich merke es doch! Jetzt gehe ich erst mal!«

Sie lachte. »Stoß wenigstens noch einmal mit mir an, Karl, dann sollst du auch telefonieren. Warte, ich schenke dir ein.« Der Wein hatte ihn an den Tisch zurückgelockt, ihn, der sonst nie mehr als zwei, drei Glas trank, der in dieser Nacht aber unmäßig getrunken hatte. Schweigend sah er zu, wie sie die Flasche nahm. »Leer!« sagte sie und sah ihn an.

»Ich bestelle noch eine«, und er rief nach dem Kellner. »Noch eine«, sagte er und deutete mit dem Finger, als spräche er mit einem Tauben. »Dieselbe!« Er nickte mit dem Kopf.

»Setze dich solange«, bat sie. »Der Wein wird gleich kommen.«

»Ja, ich will mich setzen. Ich bin so müde.« Und er setzte sich. Dann aber, mit der alten Hartnäckigkeit: »Und nachher telefoniere ich!«

»Weißt du überhaupt, wieviel die Uhr ist? Es ist gleich halb drei. Um diese Zeit kannst du Hertha nicht anrufen.«

»Ich kann Hertha immer anrufen. Sie muß den Scheck sperren!«

»In der Nacht kann man keinen Scheck sperren. Um diese Zeit ist niemand auf den Banken. Das hat Zeit bis morgen früh.«

»Meinst du?« fragte er zweifelnd.

»Natürlich«, sagte sie. Nun schwiegen sie wieder, bis der Kellner den Wein brachte. Stumm sah er zu, wie sie einschenkte. Hastig trank er, ohne auf sie zu achten. Dann füllte er sein Glas von neuem, aber er trank nicht. Er starrte schweigend vor sich hin ...

Schon hoffte Ilse Gollmer, er habe seine Idee mit dem Telefonieren vergessen, sie könne ihm vorschlagen, nach Haus zu fahren, da stand er auf: »Jetzt telefoniere ich ...«

»Du vergißt, Karl, man kann einen Scheck nicht mitten in der Nacht sperren. Das hat Zeit bis morgen früh – wir hatten es so besprochen.«

»Ja«, sagte er. »Ich werde es ihr sagen.«

Sie gab es auf. »Also telefoniere, Karl!« Sie stellte es sich vor, wie er da mitten in der Nacht Hertha aufscheuchte und mit seinem wirren Geschwätz erschreckte. Sie versuchte, sich auszumalen, wie Hertha das aufnehmen würde, und einen Augenblick dachte sie, es sei vielleicht gar nicht so schlecht, wenn er jetzt telefonierte. Hertha war eine sehr empfindliche Frau. Sie dachte: Nie hätte ich geglaubt, daß es soweit mit mir kommen würde ...

Er kam zurück, unsicher im Gang, er stieß gegen einen Stuhl und sah den Stuhl zornig an. Dann gab er ihm einen Tritt. Er lachte in sich hinein, als er weiterging. »Nun?« fragte sie.

»Da meldet sich keiner«, antwortete er. »Morgen schmeiß ich die ganze Bande raus. Mal ruf ich an, und gleich meldet sich keiner.« Er versank in mürrisches Schweigen.

»Wollen wir jetzt nicht nach Haus fahren?« schlug sie vor.

»Wie –?« fragte er.

»Ob wir nicht nach Haus fahren wollen?«

»Ja – sobald wir ausgetrunken haben.« Aber er trank nicht, er saß nur da, entweder grübelte er oder war benommen vom Alkohol. Sie entschloß sich und trank hastig die Flasche leer. Die Welt fing an, auch ihr in einem anderen Licht zu erscheinen, sie hätte immerzu lachen mögen, über all diese Albernheiten, dies sinnlose Gezappel ... Aber sie bezwang sich, immer wieder zwang sie sich zum klaren Denken. Ich muß ihn heil von hier fortkriegen, dachte sie. Heute sind schon genug Dummheiten gemacht worden. »Die Flasche ist leer, Karl«, sagte sie. »Wollen wir jetzt nach Haus fahren?«

»Ja.« Er stand sofort auf. »Ich will jetzt nach Haus fahren. Ich muß sofort mit Hertha reden.«

»Warum willst du denn sofort mit Hertha reden?« fragte sie geduldig.

»Sie muß den Scheck doch sperren! Ich weiß nicht, was mit mir ist, ich vergesse das immer wieder!«

Draußen, in der frischen Luft, fing er an zu lachen, es amüsierte ihn, daß er nicht mehr gerade gehen konnte. Er versuchte, die Linie der Pflastersteine entlangzugehen, aber daran war kein Gedanke mehr. Er rief lachend: »Ich kann nicht mehr auf dem Strich gehen, Ilse! Sieh dir das einmal an! Ist das nicht komisch?« Sie hatte gehofft, daß er seinen Wagen vergessen haben würde, daß sie in einem Taxi nach Haus fahren könnten. Aber plötzlich entdeckte er sein Auto, er begrüßte es in überströmender Freude wie einen lang entbehrten Freund. »Jetzt fahren wir beide nach Haus!« verkündete er frohlockend. »Ich koche uns einen schönen Kaffee, und dann gehen wir zu Hertha hinauf und erzählen ihr alles.« Sie hütete sich wohl, ihn zu fragen, was er in diesem Zustand unter »alles« verstand, aber sie sah ein, daß sie ihn jetzt nicht allein lassen konnte. Es gelang ihm, den Wagen in Gang zu bringen, aber sofort fuhr er mit den gleichen Schwankungen, in denen er vorher gegangen war.

»Halte an!« bat sie. »Du kannst nicht mehr fahren. Es ist besser, wir fahren in einem Taxi nach Haus.«

»Ich kann nicht mehr fahren«, bestätigte er ganz verblüfft. »Bitte, faß du ins Steuerrad und bring den Wagen an die Bordschwelle. Bremsen kann ich noch.« Ein letzter Rest von seinem alten Fahrergewissen war erwacht, er stieg gehorsam aus. »Schade!« sagte er und sah den Wagen bedauernd an.

Sie nahm seinen Arm. »Komm, wir gehen das Stückchen bis zur Jägerstraße, da finden wir noch Taxis.« – Willig ging er neben ihr. Er schwankte kaum noch, er lachte nicht mehr, er schien über etwas zu grübeln. »Woran denkst du?« fragte sie.

»Ach, an nichts. Komm, laß uns an der Weißen Maus vorbeigehen. Ich möchte sehen, ob die noch Licht haben.«

»Ach, kein Gedanke!« sagte sie, etwas ungeduldig über diese neue Marotte des Trunkenen. »Es ist längst Polizeistunde. Der Ober eben hat uns doch auch erst aufschließen müssen.«

»Ich möchte es sehen«, antwortete er hartnäckig. »Wenn man klopft, kommt man meist noch hinein. Ich weiß das von früher, als ich noch Taxi fuhr.«

»Was willst du denn in der Weißen Maus?« rief sie. »Wir sind doch wahrhaftig lange genug unterwegs gewesen. Wir müssen nach Haus!«

»Ich will nur mal reinsehen!« sagte er hartnäckig.

Sie standen vor dem Lokal, die Leuchtreklame war erloschen, die Türen verschlossen. »Du siehst«, sagte sie, jetzt wirklich ungeduldig, »es ist zu. Laß uns jetzt nach Haus fahren.«

»Horch!« Er hob den Finger. »Wenn du genau hinhörst, kannst du die Musik drin spielen hören.«

Sie horchte, und auch ihr war es beinah so, als hörte sie den Strich von Geigen, fein und fern. »Und wenn sie auch spielen!« rief sie ungeduldig. »Ich möchte jetzt nach Haus!«

»Erinnerst du dich, Ilse?« fragte er und faßte ihre Hand. »Daß du mich heute viele Male nach etwas gefragt hast?«

»Wir wollen gehen! Bitte, laß uns jetzt nach Haus gehen.«

»Ilse –« flüsterte er. »Aus diesem Lokal habe ich Hertha nach Haus gefahren. Ich war Taxichauffeur und sah sie zum erstenmal ...«

»Erzähle jetzt nichts!« bat sie und versuchte, ihre Hand zu befreien. »Morgen wirst du jedes Wort bereuen, das du jetzt sagst.«

»Sie war völlig betrunken«, fuhr er fort, als habe er nichts gehört. »Sie fiel in meinen Wagen, sie wußte von nichts. Ich brachte sie in ihre Wohnung und –«

»Ich will nichts mehr hören!« rief sie und riß an seiner Hand.

»Nein«, fuhr er hartnäckig fort, »in jener Nacht geschah nichts, aber so haben Hertha und ich uns kennengelernt. Und nun möchte ich, daß wir jetzt noch einmal hineingehen, wir beide, verstehst du, und ich möchte, daß du mich so nach Haus fährst, wie ich Hertha nach Haus gefahren habe, und dann hoffe ich –«

Aber nun war es ihr gelungen, die Hand zu befreien. Bleich starrte sie ihn an. »Nie!« sagte sie. »Nie ...« Und sie ging von ihm fort, erst langsam. Aber je weiter sie sich von ihm entfernte, um so schneller lief sie. Es sah lächerlich aus, so schnell lief sie schließlich von ihm fort. Er starrte ihr nach, bis sie um die Ecke in der Friedrichstraße verschwunden war. Dann stieg er mit einem Achselzucken die Stufen zu der Tür der Weißen Maus empor und fing an, zu klopfen. Es wurde ihm noch geöffnet.


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