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Raoul Auernheimer
geb. 15. April 1876 in Wien
gest. 6. Januar 1948 in Oakland, Kalifornien

Der Tee

In unsern guten Tagen – weißt du's noch?
Da hat einmal in unserm kleinen Nest
Beim Abendstelldichein der Tee gefehlt.
Wir tranken keinen, küßten um so mehr.
Das nächste Mal jedoch, da wir uns sahen,
Zogst du ein Päckchen aus dem Muff, mit Tee,
Und sprachest lachend: »Dies ist eine Stiftung.
Solang dies Päckchen vorhält, liebst du mich!«
Und ich versprach dir's gern. Jedoch es war
Ein ziemlich Päckchen, und wir tranken selten
Und immer seltner. Plötzlich war es aus.
War ich's? Warst du's? Wer weiß das so genau?
Kurzum: Die Liebe ging, es blieb der Tee ...
Dann kamen andere Frauen, blonde, braune,
Manch' eine trank noch meinen, deinen Tee,
Und ich bedachte nicht, daß es der deine.
Erst heut' fiel es mir ein, da ich allein trank.
Erinnerung saß bei mir; was war, erwachte.
So goldbraun wie der Tee da war dein Haar,
So rasch erkaltet unsre heiße Liebe.
Und das Aroma der Vergangenheit
Stieg zärtlich wallend aus der Schale auf,
Und meine Augen tauten in dem Dunst.
Wie sonderbar, dacht' ich: Die schwarzen Blättchen,
Die von so weit her zu uns reisen müssen,
In Büchsen eingepackt, verschrumpft und traurig:
Das waren Blüten, und sie mußten sterben.
Jedoch ihr Duft lebt weiter. Gieß eine Träne
Darüber, und er lebt. Wie sonderbar!
Ein längst verblühter Frühling haucht dich an.
Da mußt' ich wieder jenes Blühens denken,
Und melancholisch rührt' ich in der Tasse.

 


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