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Hugo Salus
geb. 3. August 1866 in Leipa
gest. 4. Februar 1929 in Prag

Stille Gedichte

Es gibt eine Art von stillen Gedichten,
Die nichts erfinden und nichts berichten,
Die wie mit schlanken, blassen, weichen
Fingern über die Stirn dir streichen,
Die wie ein Hauch mit zagem Wehn
Träumend öffnen der Seele Türen
Und schwebend durch deine Seele gehn,
Worte hauchend im Verwehn,
Die dich jählings zu Tränen rühren ...

Altes Ghettoliedchen

Estherl, mein Schwesterl, was ist mir geschehn!
Ein Judenkind soll unter Christen nicht gehn,
Die Mutter hat recht! aber jetzt ist's zu spät,
Sie hab'n mich erkannt und gehöhnt und geschmäht
Und gezerrt am Haar und das Kleid zerrissen
Und Unflat und Steine nach mir geschmissen,
Estherl!

Estherl, mein Schwesterl, da ist es geschehn,
Da hab' ich den Ritter kommen gesehn
Mit dem Schwert an der Seite, mit dem Kreuz auf der Brust,
Und ich hab' ihn nur immer anschaun gemußt,
Und sein Blick hat die Christen von dannen getrieben,
Und er ist bis ans Tor bei mir geblieben,
Estherl!

Estherl, mein Schwesterl, was ist mir geschehn!
Ich werd' wieder, ich weiß, in die Christenstadt gehn,
Und wenn sie mich stoßen, was liegt mir daran,
Wenn ich ihn nur noch einmal anschaun kann,
Nur einmal! Dann sollen sie mich erschlagen!
Nur der Mutter, hörst du, darfst du nichts sagen,
Estherl!

Alte Uhr

Ist eine alte Uhr in Prag,
Verrostet das Werk und der Stundenschlag,
Verstummt ihre Stimme im Munde;
Zeigt immer die gleiche Stunde.

Doch täglich einmal, so tot sie sei,
Schleicht zögernd die Zeit an der Uhr vorbei,
Dann zeigt sie die richtige Stunde,
Wie die Uhren all' in der Runde.

Es ist kein Werk so abgetan,
Kommt doch einmal seine Zeit heran,
Daß es sein Wirken bekunde,
Kommt doch seine richtige Stunde ...

Ahnenlied

Meinen Großvater hab' ich noch gekannt,
Er trug sein Bündel durch das Land
Und konnte nicht schreiben und konnte nicht lesen
Und ist ein armer Hausierer gewesen.

Doch wenn ich meinen Vater frag':
»Wer war deines Vaters Vater? sag'!« –
Er lächelt traurig: »Wie soll ich das sagen?
Er hat sein Bündel durchs Land getragen!«

Und vor ihm, all die tausend Jahr',
Wer unser Ahn und Urahn war?
Was könnte uns an sie gemahnen?
Arme haben keine Ahnen!

Elend, Verfolgung, Jammer und Not,
Dunkel ihr Leben, dunkel ihr Tod!
Und ich schäme mich fast, durch den Abend zu gehen
Und seinen Zauber und Glanz zu verstehen!

Denn vor mir und neben mir keucht es schwer,
Da zieht meiner Ahnen dunkles Heer
Mit wunden Rücken und Füßen, die brennen,
Und mit ernsten Augen, die mich nicht kennen ...

Glockenklang

In dieses Städtchen kam ich, als die Uhr
Just Mittag schlug. Und nun, was hab' ich nur,
Dies Städtchen ist doch so wie hundert andre,
Daß mich's hier hält und ich nicht weiter wandre?

Ein rechtes Nest! Um ihren Turm geschart,
Die Herde Häuser gar nicht sondrer Art!
Die Augen sind es nicht, die hier so staunen,
Hier fühlt mein Ohr ein wundersames Raunen.

Seit diesem dunklen Mittagsglockenschlag
Ist mir zumut, daß ich nicht weiter mag,
Und muß nur immer in die Lüfte lauschen,
Die mir vertrauten Klang entgegenrauschen.

Mir ist, die Glocke, die da oben klingt
Und die mein Wanderherz zu rasten zwingt,
Hat eine Schwester; mit verwandten Zungen
Hat sie in meinen Kindheitstraum gesungen.

Ich will heut nacht, in innerstem Verstehn,
Durch dieses mondbeglänzte Städtchen gehn
Und will mir hier in diesen fremden Gassen
Das Märchen meiner Heimat künden lassen.

Stilles Glück

Wir sitzen am Tisch beim Lampenschein
Und schaun in das gleiche Buch hinein;
Und Wange an Wange und Hand in Hand,
Eine stille Zärtlichkeit uns umspannt.
Ich fühle ruhig dein Herzchen pochen:
Eine Stunde schon hat keins gesprochen
Und keins dem andern ins Auge geblickt;
Wir haben die Wünsche schlafen geschickt.

Das Lied des Blutes

Du Bruder im Dunkel, was drängt mich zu dir
Und drängt auch dich, ich fühl' es, zu mir?
Du kennst mich nicht, und ich kenn' dich nicht,
Doch etwas in unseren Herzen spricht:
Der ist dein Bruder! Ihn liebe!

Und das kann nichts von gestern und heute sein,
Ich würd' nicht so Sieger und Beute sein!
Ist anders als Freundschaft und Liebe und Treu,
Wie von Uranfang her und doch wieder neu:
Dein Blut und mein Blut sind Brüder!

Vor fünftausend Jahren – besinne dich doch! –
Trug mein Ahn und deiner ein Sklavenjoch!
Und vor dreitausend Jahren in Qual und Not,
Denkst du's nicht mehr? dein Ahne bot
Meinem den Labtrunk der Liebe!

Bruder, wie dunkel mein Herzblut rauscht!
Ich fühl's, wie dein Ohr seinem Raunen lauscht,
Und wir hören beide das gleiche Lied
Wie damals, da Ahn bei Ahn gekniet:
Ein Gott drohte beiden vom Himmel!

Und der Sturm verweht, es lischt die Glut,
Und Leid wird Lust: doch Blut bleibt Blut!
Und ein Tropfen in mir und ein Tropfen in dir
Wissen: Brüder, Brüder sind wir,
Brüder aus einem Dunkel!

 


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