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Josef Victor Widmann
geb. 20. Februar 1842 in Nennowitz
gest. 6. Oktober 1911 in Bern

Der Sieg des Lebens

Auf dunkeln Wassern unterm Nachtgezelt
Schwamm Noahs Schiff; gestorben war die Welt,
Am Steuer saß der Patriarch allein
Und starrte traurig in die Flut hinein.
Es schäumten um den Kiel die trüben Wogen,
Die alles Lebende hinabgezogen.

In Noahs Brust entbrannte heil'ge Glut.
Er sann: »Wozu ist dieses Leben gut?
Die Brüder all verschlang das nasse Grab,
Warum zu ihnen nicht steig' ich hinab?
Es ekelt mich, allein zu überleben
Und über Leichen wie ein Gott zu schweben.

Ich bin ein Mensch. Ging unter mein Geschlecht,
So hab' auch ich ans Totenreich ein Recht;
Was brauchen neue Sterbliche zu blühn,
In neuen Köpfen endlos sich zu mühn?
Die Qual zukünft'ger Zeiten kann ich wenden,
Bevor sie noch begann, im Keim sie enden!«

Und zornigen Entschlusses faßt die Hand
Das Beil und will zertrümmern schon die Wand,
Den Bretterbau, der einer Menschheit Rest
Behütet und der Flut nicht Zutritt läßt.
Vom ersten Schlag erdröhnen dumpf die Planken,
Es kracht der Kiel, das Schiff beginnt zu schwanken.

Da legt um Noahs Nacken sich ein Arm,
Weich, glänzend weiß und voll und lebenswarm,
Die Tochter ist ihm unbemerkt genaht;
Sie hemmt – und ahnt doch nichts – des Vaters Tat.
Er schaut sein Kind, den Wunderbau der Glieder,
Des Auges Strahl, – da sinkt die Waffe nieder.

Und fest an sich zieht er das Mädchen jetzt,
Streicht sanft ihr Haar, das feuchter Nachttau netzt,
Horcht auf den Atem, der den Busen schwellt,
Und murmelt leis: »Du rettest eine Welt.«
Das Kind blickt auf. Die großen Augen fragen.
Der Vater schweigt; im Osten sieht er's tagen.

Jugend

Was Jugend sei, will euch ein Alter sagen,
Wie jüngst zu Winters Anfang er's erfuhr.
Noch denk' ich dran mit innigem Behagen,
Ein kürzestes Begebnis war es nur.

Ich ging an jenem Morgen früh wie immer
Aus meinem Hause nach der nahen Stadt.
Auf Bäumen lag und Dächern Frostes Schimmer,
Und unter mir der Weg war hart und glatt.

Rauhbauzig strich der Wind mir um die Nase;
»Puh!« schnaubt' ich. »Eis bereits? ist's schon an dem?
Für alte Knochen, spröde gleich dem Glase,
Verdammt gefährlich, gar nicht angenehm!«

Wie ich so brumme, hüpft just von der Schwelle
Des nächsten Hauses eine Schülerin.
Und richtig gleitet sie mit Blitzesschnelle –
Ich denke schon: »Aha! da fällt sie hin!«

Doch kann sie balancierend noch sich halten,
Die Tasche nur entschlüpft der kleinen Hand,
Die flüchtig streicht zurecht des Kleidchens Falten;
Dann, wie sie kaum im Gleichgewicht noch stand,

Ruft in den offenen Hausflur für die Ohren
Wohl von Geschwistern mit entzücktem Ton
Das eine Wort sie nur hinein: »Gefroren!«
Und wie ein Vöglein flattert sie davon.

Doch sah ich noch das strahlende Gesichtchen,
Die hellen Augen und den frohen Mund,
Der mit dem einen Wort den andern Wichtchen
Des Winters große Herrlichkeit tat kund.

Da hatt' ich's, konnte meinen Vers drauf machen:
Jungsein heißt, daß die Seele nichts verdrießt,
Daß sie im Sturz behält ihr glücklich Lachen,
Daß sie die Welt von Fall zu Fall genießt.

 


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