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Richard Beer-Hofmann
geb. 11. Juli 1866 in Wien
gest. 26. September 1945 in New York

Schlaflied für Mirjam

(1897)

Schlaf, mein Kind – schlaf, es ist spät!
Sieh, wie die Sonne zur Ruhe dort geht,
Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.
Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,
Wendest die Augen zum Licht und zum Schein;
Schlaf – es sind so viel Sonnen noch dein,
Schlaf, mein Kind – mein Kind, schlaf ein!

Schlaf, mein Kind – der Abendwind weht;
Weiß man, wo her er kommt, wohin er geht?
Dunkel, verborgen die Wege hier sind,
Dir, und auch mir, und uns allen, mein Kind!
Blinde – so gehn wir, und gehen allein,
Keiner kann keinem Gefährte hier sein, – – –
Schlaf, mein Kind – mein Kind, schlaf ein!

Schlaf, mein Kind – und horch nicht auf mich!
Sinn hat's für mich nur, und Schall ist's für dich;
Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,
Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn!
Was ich gewonnen, gräbt mit mir man ein,
Keiner kann keinem ein Erbe hier sein, – – –
Schlaf, mein Kind – mein Kind, schlaf ein!

Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein Kind,
Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt
Blut von Gewesnen, – zu Kommenden rollt's,
Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.
In uns sind alle. Wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben, – ihr Leben ist dein, – – –
Mirjam – mein Leben – mein Kind – schlaf ein!

Altern

(1907)

Graute dir nicht vor dem Baum, der
Ewig nur in Blüte stände,
Ungerührt vom Gang der Zeiten,
Ewig starr in ihrer Wende?

Alle duftend weißen Blätter
Will die Blüte von sich streifen,
Tief im Kelch schläft ihr die Sehnsucht
Nach des Sommers heißem Reifen.

Von den sterngegrüßten Wipfeln
Zu den Wurzeln in der Erde
Kreist und pulst der tiefste Wille,
Daß die Blüte Frucht auch werde.

Blüte – Frucht – und wieder Samen!
Was ist Anfang, was ist Ende?
Nicht um ewiges Blühen hebe,
Flehend, du empor die Hände!

Wolle nicht, daß die da droben
Ewiger Satzung dich entbinden,
Fliehe nicht vor Vorbeschloßnem,
Stehe still – und laß dich finden!

Bebst zurück du vor dem Altern?
Schreckt dich eines Wortes Hall?
Sprich zum Stein nicht: »Du verwitterst!«
Wenn er reifet zum Kristall!

Fühle selig dich verschwistert
Du dem Baum, dem Stern, dem Stein!
Furchtbar wär' es, ausgeschlossen
Vom gemeinen Los zu sein!

Sterne, die ins Weite kreisen,
Kennen »Unten« nicht, noch »Oben«;
Raum, wie Zeit: Gespinst, Gespenster,
Die die Sinne um dich woben!

Blühen, Welken, Tod und Leben –
Kerker, die du dir gemauert!
Brich sie, tritt hinaus ins Freie,
Wo dich klare Luft umschauert!

Dir zu Häupten, dir zu Füßen –
Stern, der steht – und Stern, der irrt!
Alle kreisen! Tritt zu ihnen!
Keiner war – und jeder wird!

 


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