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Josef Kainz
geb. 2. Januar 1858 in Wieselburg i. U.
gest. 20. Sept. 1910 in Wien

Der Jüngling

Dämmerstunde senkt sich nieder,
Sonnensehnsucht zieht herauf.
Unruhvoll gestreckt die Glieder,
Folg' ich meiner Kön'gin Lauf.

Über Berge, über Täler
Nachstreb' ich dem gold'nen Schein.
Unrast stellt als böser Quäler
Mit der Dämmerung sich ein.

Denn wie stimmt zu meinem Lenze
Herbstlich nickende Natur?
Schwinden doch die bunten Kränze
In der Dämm'rung auf der Flur.

Auf den weiten Wiesenmatten
Dichten sich im Abendduft
Dumpfe Schwaden, die sich gatten
Mit dem Sehnen meiner Brust.

Und sie zeugen graue Lügen,
Unfruchtbare Phantasien,
Die in wirren Dämmerzügen
Schreckhaft mir vorüberflieh'n.

Und ob Myriaden Sterne
Blinken auf am Firmament;
Eitle Mär' aus Himmelsfernen!
Alle leuchten, keiner brennt.

Sternensehnsucht taugt dem Alter,
Doch der Jugend Sonnengier.
Laß die Nacht dem Totenfalter
Mit der fahlen Schädelzier.

Wenn die Pfauenaugen tanzen,
Jeder Tropfen farbig glüht,
Als ein Teil vom Weltenganzen
Schön das Ganze niedersprüht,

Wenn der Sonne Schöpferstrahlen
Goldne Saat zur Reife treibt
Und der Dürre Folterqualen
Dem nur schafft, was unbeweibt,

Wenn in blauen Lichtraums Fluten
Alles wonneflüsternd bebt,
Und in kargen Zeitminuten,
Keimfroh, Ewigkeiten lebt,

Dann wie eine Wünschelrute
Schlägt der Sonne Strahlenbund
Schöpferkraft aus meinem Blute,
Sangesgold aus meinem Mund.

Und ihr Licht jagt im Gemüte
Alle Dumpfheit in die Flucht.
Dämmerungsnessel wird zur Blüte,
Dämmerungstaubheit sel'ge Frucht.

Schwellend sprengt die Frucht die Hülle
Wie ein engendes Gewand,
Und in ungeheurer Fülle
Fliegt die Botschaft durch das Land:

»Sonnenkinder, Wahrheitsfinder!
Blitzend scharfe Geistespflüge
Reißen wir als Überwinder
Durch die Dämm'rung, durch die Lüge!«

 


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