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Sechzehntes Kapitel.

Viel zögernder war Julie ihres Weges gegangen, sobald sie auf die Straße hinauskam. Sie stand mehr als Einmal still, als überlege sie, ob sie ihren Weg fortsetzen sollte. Felix' Brief an Jansen, dessen Inhalt Irene doch erfahren mußte, um die Flucht ihres Verlobten zu begreifen – wenn sie ihn nun schickte, statt ihn selbst zu überbringen, war es nicht schonender? Ersparte es nicht der Aermsten die Beschämung, einer Freundin ins Gesicht zu sehen, die um die alten Sünden ihres Geliebten wußte? Und doch – war es nicht wiederum der einzige Trost, ihr zu zeigen, daß selbst die zunächst Betroffenen dem so tief Bereuenden ihr Herz nicht abwendeten und gern Alles gethan hätten, ihm seine überspannten Bußgedanken auszureden und ihn in der Heimat festzuhalten?

Sie fühlte, daß sie das Alles ihr mündlich und gleich sagen mußte, so schwer es ihr wurde.

Als sie das Hôtel erreichte, traten ihr die Scenen des gestrigen Tages so lebhaft vor die Seele, daß sie, ohne erst beim Portier anzufragen, die Treppen hinauf eilte, aus Furcht, Nelida zu begegnen. Ihre Sorge war überflüssig; die Gräfin hatte gestern ihren kranken Fuß zu sehr angestrengt und lag mit starken Schmerzen zu Bett.

Oben aber kam ihr der Baron mit einem so elegischen Gesicht entgegen, daß sie lebhaft erschrak.

Wo ist Irene? rief sie. Krank?

Ich hoffe nicht, versetzte der alte Herr, sichtbar aufathmend, indem er ihre Hand ergriff, als erscheine ihm endlich ein rettender Engel. Wenigstens befand sie sich noch vor zwei Stunden so wohl, daß sie trotz des schlechten Wetters sich plötzlich entschlossen hat, abzureisen, direct über den Brenner, nur von ihrer Kammerjungfer begleitet.

Sie ist fort? So komme ich zu spät!

Mein bestes Fräulein, Sie kommen noch früh genug, um einem alten Manne Trost und Beistand zu bringen. Sie sehen einen Menschen vor sich, der beispielloses Unglück mit seinen Vaterfreuden hat. Die leibliche Tochter schlägt mir die Thür vor der Nase zu, und die andere, die Pflegetochter, die mich wenigstens als ihren Erzieher und natürlichen Beschützer ehren sollte, läuft mir davon. Es kommt ein bischen Viel zusammen, um mir vor der Zeit zu grauen Haaren zu verhelfen.

Aber warum haben Sie sie reisen lassen? Warum erlaubten Sie ihr –

Erlaubt? Als ob sie nach meiner Erlaubniß gefragt hätte! Stellen Sie sich vor, daß sie vielmehr mir die Erlaubniß gegeben hat, hier noch zurückzubleiben, um erst »in aller Ruhe«, wie sie sich ausdrückte, meine Angelegenheiten zu ordnen, ehe ich ihr nachkäme, wozu ich erst wieder ihre ausdrückliche Erlaubniß abzuwarten hätte! O mein theures Fräulein, darum ist man ein Junggesell geblieben und hat allen Verführungen Ihres Geschlechts mannhaft widerstanden, um auf seine alten Tage von zwei großen Töchtern unter Curatel gestellt zu werden!

So sagen Sie mir nur, welchen Grund zu diesem plötzlichen Entschluß Irene Ihnen angegeben hat? fragte Julie nach einer Pause.

Sie sind sehr gütig zu glauben, daß man es der Mühe werth hält, mir Gründe anzugeben! rief der alte Herr. Wohlerzogene Kinder pflegen zu thun, was ihnen gut dünkt, und einem thörichten alten Papa keine lange Rechenschaft abzulegen. Daß der Schlingel, der Felix, dahinter steckt, so viel habe ich durch meine eigene Combinationsgabe herausgebracht. Sie ging gestern Abend noch sehr vergnügt zu Bette, ließ sich sogar herab, mir einen pietätvollen Kuß auf die Backe zu geben, eine Gunst, deren Werth ich wegen ihrer Seltenheit zu schätzen weiß. Heute früh, als ich hier mit dem Frühstück auf sie warte, kommt ein Billet von dem Herrn Bräutigam. Ich schick' es ihr hinein, ohne an etwas Arges zu denken, aber eine halbe Stunde verstreicht, ehe ich erfahre, was denn eigentlich los ist. Auf einmal geht die Thür auf, mein Fräulein Nichte erscheint in vollständigem Reiseanzug. Onkel, sagt sie, – und ein Gesicht, bleich und starr wie eine Wachspuppe, – ich reise mit dem nächsten Zug nach Innsbruck. Ich bitte dich, nicht nach der Veranlassung zu fragen. Du kannst glauben, daß ich es mir reiflich überlegt – (reiflich! ich bitte Sie, bestes Fräulein: eine ganze halbe Stunde lang!) und da ich weiß, daß du dich hier so rasch nicht losmachen kannst – so will ich dir nicht zumuthen, mich zu begleiten. Es genügt, wenn Betty mitgeht. Den ersten Halt mache ich in Riva. Von dort schreibe ich dir, wann du nachkommen sollst. Ich – und dabei wurde ihre Stimme ein wenig unsicher – ich möchte eine Weile allein sein. Meine Abschiedsgrüße hier bei den Bekannten magst du ausrichten, wo du es für passend findest. Einen ganz besonders herzlichen Gruß an Fräulein Julie. Adieu!

Ich war, wie Sie denken können, von diesem Tagesbefehl im Bulletin-Stil einiger Maßen verblüfft. Erst als sie sich umwandte und ich sah, es sollte wirklich Ernst damit werden, fand ich so viel Athem, um fragen zu können: Aber Felix! Weiß denn Der –? Und was soll ich ihm sagen, wenn er kommt und keine Braut mehr vorfindet?

Er wird nicht kommen, sagte sie. Er – er ist verhindert – du erfährst das Alles später. Jetzt habe ich Eile, wenn ich den Zug nicht versäumen will! – Und damit auf und davon!

O mein bestes Fräulein, ich kann auch ausrufen, wie der alte Tischlermeister in einem schauerlichen Cabale- und Liebe-Stück, das sie hier auf dem Theater geben: ich verstehe diese Welt nicht mehr! Sagen Sie selbst, ist nur für einen Kreuzer gesunder Menschenverstand in dieser ganzen Komödie? Von dem launenhaften Freifräulein ganz zu schweigen, aber der Bräutigam, der noch gestern alle Sterne vom Himmel herunterschwor, er sei der glücklichste arme Sünder, der jemals, schon mit dem Strick um den Hals, begnadigt worden sei – über Nacht besinnt er sich eines Andern und »ist verhindert«! Sie gehen doch mit diesen Herren Künstlern um, Fräulein Julie. Sagen Sie mir, lernt man dergleichen Teufelssprünge in dem sogenannten Paradiese, und kommt das etwa von der berühmten Genialität her? Dann sind ja meine Kabylen und Araber die philiströsesten Spießbürger gegen diese Herren!

Julie hatte die lange Herzensergießung voller Theilnahme angehört. Nun mußte sie doch lächeln.

Lieber Herr Baron, sagte sie, nehmen Sie die Sache nicht so schwer. Ich glaube Ihnen die Versicherung geben zu dürfen, daß Alles sich aufklären und an ein gutes Ende gelangen wird. Was ich selbst dazu beitragen kann, werde ich natürlich von Herzen gerne thun, da meine eigene Ruhe und Glückseligkeit daran hängt, auch das junge Paar glücklich zu wissen. Mit Ihrer Nichte hoffe ich bald mündlich mich aussprechen zu können. Wenn Sie Aufträge an sie haben – ich reise gleichfalls morgen nach dem Süden und werde nun jedenfalls den Weg über Riva nehmen.

Sie auch! fiel ihr der Baron ins Wort, indem er wie vom Blitz getroffen aufschnellte. Nun geht die Welt unter! Das hatte noch gerade gefehlt. Nein, sagen Sie, daß Sie nur spaßen. Was treibt denn Sie plötzlich, wie wenn Sie auch von der Tarantel gestochen wären – und Sie hatten mir doch versprochen, wegen meines Kindes – oder reis't Die am Ende mit, wenn das ganze Paradies jetzt auf einen Karren geladen wird und die Bohème durch den dicksten Schnee davonzieht in das Land voll Sonnenschein?

Sie machen mich lachen, lieber Baron, obwohl mir sonst wahrlich nicht danach zu Muth ist. Ich wiederhole Ihnen: haben Sie nur eine kleine Weile Geduld – heute darf ich noch nicht reden. Wegen Ihrer Tochter hoffe ich Sie noch vor meiner Abreise beruhigen zu können; Sie erhalten morgen ein paar Zeilen von mir, und zugleich einen Brief an Irene's Verlobten – dessen Adresse ich nicht weiß; denn allerdings ist er wegen einer Sache, bei der seine Ehre auf dem Spiel steht, abgereis't. Versprechen Sie mir zum Dank für das, was ich als Ihre Vermittlerin bei Herrn Schöpf thun will, den Brief um jeden Preis sicher an Baron Felix zu befördern. Es kann nicht fehlen, daß er auf seinen Gütern zu erfragen ist, schlimmsten Falls müßte man in den öffentlichen Blättern sich nach ihm erkundigen.

Nun hab' ich es! rief der Baron lebhaft: eine Ehrensache – ein Rencontre – und darüber ist das Mädel so außer sich, daß sie selbst meine Nähe nicht mehr ertragen kann? Nun, wenn das ist, so ist mir nicht bange. Der Junge hat eine sichere Hand und wird jetzt, da er auf Freiersfüßen geht, nicht so dumm sein, sich todtschießen zu lassen. Aber sagen Sie nur – contre qui? – So über Nacht – da er doch mit lauter guten Kameraden, die noch dazu friedfertige Kunstjünger –

Julie hielt es für das Klügste, mit einem bloßen Kopfnicken sich über diese Vermuthung zu äußern, die den alten Herrn offenbar vollkommen beruhigte. Er wurde wieder sehr munter, küßte ihr wiederholt die Hand und bat sie nur noch beim Abschied, ihr Möglichstes zu thun, um ihm bei der Erfüllung seiner Vaterpflichten beizustehen. Sagen Sie dem rothen Trotzkopf, rief er ihr noch auf der Treppe nach, ich wolle ihr meine Zärtlichkeit durchaus nicht in Person aufdrängen. Wir können uns ja auch schriftlich aneinander gewöhnen und mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir uns gefunden haben. Im Uebrigen werd' ich sie nicht sehr geniren. Das Leben in Deutschland ist mir zu abenteuerlich; ich gehe in meine stille Wüste zurück, und Ihnen, meine schöne Freundin, schicke ich das Fell des ersten Löwen, den ich erlege, als Kuppelpelz für Ihre Bemühungen, einem Vater zu einer Tochter zu verhelfen, die nichts von ihm wissen will.


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