Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Langsam und gedankenvoll ging Julie die Treppe hinab. Sobald sie allein war, trat Alles, woran sie eben Theil genommen, zurück gegen den Einen Gedanken, wie es jetzt um ihren Freund stehen möchte, wie er den Tag verbracht und was sich zwischen ihm und der Frau ereignet haben möchte, die sein Schicksal in Händen hielt. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie sich hier hatte festhalten lassen. Zwar pflegte er erst am Abend zu kommen. Aber wenn er sie heute früher aufgesucht, ihr eine Nachricht zu bringen gehabt, ihren Rath oder ihre Zustimmung bedurft hätte? Es überlief sie heiß bei diesem Gedanken.
Wie um das Versäumte einzubringen, eilte sie die Stufen hinunter. Als sie aber den Treppenabsatz des ersten Stocks erreichte, blieb sie unwillkürlich stehen. Eine sehr sonderbare Musik drang aus einer der nächsten Thüren. Hier war der Salon Nelida's; der Kellner, der sie zu Irenen hinaufgeführt, hatte es ihr gesagt. Der Flügel drinnen, den sonst nur kunstgeweihte Hände berühren durften, schien in die Gewalt eines Wahnsinnigen gekommen zu sein, dem mehr daran lag, Lärm als Musik zu machen, oder der die Widerstandskraft des Instrumentes erproben wollte.
Aber mitten durch das stürmische Charivari der Tasten hindurch – was war das? Täuschte sie ihr Ohr, oder hörte sie wirklich eine zarte Kinderstimme, die ihr bis ins Herz drang? In höchster Aufregung that sie ein paar Schritte nach der nächsten Thür; nun hörte sie's deutlicher: das Weinen eines Kindes, das nur auf einen Augenblick verstummte, um gleich wieder anzufangen. War es möglich? Kannte sie diese Stimme? Sie näherte ihr Ohr der Thür und merkte nun, daß das Weinende in einem Nebenzimmer sich befinden mußte, zu welchem vom Corridor aus kein besonderer Eingang führte. Ein paar Secunden noch, dann schwand jeder Zweifel. Ohne sich zu besinnen, ohne anzuklopfen, öffnete sie die Thür und trat in das schmale Vorzimmer zwischen Nelida's Salon und Schlafgemach.
Die Thüren zu beiden Nebenzimmern waren halb angelehnt. Im Salon saß Stephanopulos vor dem Flügel und phantasirte wie ein Besessener mit kunstlosester Dreistigkeit, da er auf dem Klavier sein eigener Lehrer gewesen war. Er bemerkte die Eintretende nicht und fuhr fort, die Tasten zu mißhandeln. Es war nicht klar, ob er das Weinen damit übertönen, oder das betrübte Kind auf andere Gedanken bringen wollte. Denn durch die andere Thür hörte Julie jetzt unverkennbar das Weinen Fränzchen's und eine Frauenstimme, die tröstend und schmeichelnd dazwischensprach. Aber ehe sie noch hineintreten konnte, erschien eine ältere Dame in Hut und Mantel auf der Schwelle.
Sind Sie es, Nanette? rief die alte Sängerin. Ist der Wagen fertig? Sind die Koffer aufgepackt? Es ist hohe Zeit. Das Kind – Herrgott! Was ist das? Sie hier –?
Julie ließ ihr nicht Zeit, die Thür zuzuwerfen und den Riegel vorzuschieben. Sie war rasch vorgestürzt und an der Betroffenen vorbei in das Schlafzimmer getreten.
Ein Ruf des Schreckens empfing sie. Vor einem Tischchen, auf dem allerlei Geschenke, Blumen, Kuchen und Spielwerk wie zu einer Geburtstagsbescherung aufgebaut waren, stand das Kind, eine große Puppe in dem einen Arm, eine Düte mit Naschwerk in dem anderen und gleichwohl so kläglich weinend, als ob es mit diesen Geschenken hätte bestraft werden sollen. Eine noch jugendliche Frau kniete neben ihr auf dem Teppich, hatte ihr sanftes Gesicht zu dem Lockenkopf des Kindes herabgeneigt und schien Alles aufzubieten, um das kleine Wesen zu beruhigen. Jetzt aber fuhr sie in die Höhe und starrte Julien wie einem Schreckgespenst entgegen. Die Gräfin lag im Hintergrunde des Zimmers auf einem Sopha ausgestreckt, eine Zeitung in der Hand, die ihr auf den Schooß niederglitt, als der überraschende Besuch plötzlich mitten im Zimmer stand.
Im nächsten Augenblick ließ das Kind, was es in den Armen hatte, auf den Teppich fallen und stürzte mit einem hellen Freudenschrei auf Julien zu
Kommst du endlich, liebe schöne Mama? Warum kommst du so spät? Ich habe mich so geängstigt, hier ganz allein! Gehen wir jetzt auch wirklich zu Tante Angelica? Oder bringst du mich zum Papa?
Sie klammerte sich fest an ihre Beschützerin an, die Mühe hatte, sie zu beruhigen. Ihr Gesichtchen war naß von Thränen, sie zitterte an allen Gliedern.
Die Gräfin stützte sich auf ihrem Lager auf.
Was verschafft mir die Ehre, mein Fräulein? fragte sie mit bebender Stimme.
Julie machte sich aus den Armen des Kindes los und sah der Fragenden ruhig ins Gesicht.
Ich sollte mich entschuldigen, Frau Gräfin, sagte sie, daß ich unangemeldet hier eingetreten bin. Die Art, wie ich empfangen werde, überhebt mich wohl dieser Höflichkeitsform. Ich habe draußen im Vorbeigehen ein Kind weinen hören und zu meinem Erstaunen und Schrecken Fränzchen's Stimme erkannt. Seine Pflegemutter und der Vater, die offenbar nicht wissen, wo es sich jetzt befindet, werden in Sorge sein. Sie verzeihen, wenn ich so formlos, wie ich gekommen bin, mich wieder verabschiede. Komm, Fränzchen, wir wollen gehen. Wo hast du deinen Hut und dein Mäntelchen?
Sie hatte Mühe gehabt, die ersten Worte hervorzubringen, so durchzitterte sie die Empörung. Der Klang ihrer eigenen Stimme gab ihr die Fassung wieder. Sie fühlte sich auf einmal vollkommen sicher und allem Feindseligen überlegen.
Das Klavierspiel hatte plötzlich aufgehört, im Zimmer selbst war eine Todtenstille, nur das Fränzchen rührte sich, indem es nach dem Sessel lief, wo seine Sachen lagen.
Die junge Frau trat jetzt einen Schritt auf Julien zu. Ihr Gesicht, nur leicht geröthet, schien ganz gelassen, aus ihren Augen sprach weder Haß noch Furcht.
Ich muß mich Ihnen selbst vorstellen, mein Fräulein, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. Ich bin Frau Lucie Jansen, die Mutter dieses lieben Kindes. Danach werden Sie begreifen –
Ist das wahr, Mama Julie? unterbrach sie das Kind. Ist die Frau wirklich Papa's Frau, wie sie sagt? Aber Papa hat ja keine Frau – er hat einmal eine gehabt, die ist aber lange todt – und ich habe keine andere Mutter, als meine gute Pflegemutter und meine schöne Mama Julie – ich will keine andere Mutter – ich will auch nichts geschenkt von ihr – ich will bloß fort! Du mußt mich fortbringen – ich – ich –
Sie fing wieder an zu weinen, ließ den kleinen Mantel fallen und lief zu Julien zurück, der sie laut schluchzend um den Hals fiel.
Sei still, Fränzchen, flüsterte diese ihr zu. Wir wollen ja auch fort, zu deinem Vater. Den kannst du fragen, der wird dir Alles sagen, was ich dir hier nicht sagen kann. Komm, sei ein gutes Kind, sei mein braves, verständiges Fränzchen –
Ich muß gestehen, das ist das Unerhörteste, was mir jemals vorgekommen, sagte die Gräfin mit lauter, aber ganz gleichgültiger Stimme. Eine solche Sprache aus solchem Munde – une femme entretenue qui ne rougit pas de vouloir enlever un enfant à la mère légitime –
Frau Gräfin, unterbrach sie Julie, indem sie gleichfalls ihre Stimme erhob, Sie haben das auf Französisch gesagt, das überhebt mich der unangenehmen Nothwendigkeit, Ihnen eine deutsche Antwort zu geben, wie sie sich gebührte auf eine so armselige Beleidigung – an die Sie selbst nicht glauben. Auch habe ich es nicht mit Ihnen zu thun, obwohl Sie Ihre Gemächer zum Schauplatz dieser Intrigue hergegeben haben. Nur der Mutter habe ich zu erwiedern, daß ich ein Recht auf dieses Kind habe, ein Recht, von seinem Vater mir frei übertragen, und daß ich allerdings bedaure, von diesem Recht Gebrauch machen zu müssen, Derjenigen gegenüber, die sich auf ein heiliges Naturrecht berufen könnte, – wenn sie sich dessen nicht selbst begeben hätte. Sie haben das Kind dem Vater entwenden wollen, und ich, die Verlobte Ihres ehemaligen Gatten, ich erfülle nur meine Mutterpflicht, wenn ich mich diesem Raube widersetze. Mache dich fertig, Fränzchen; wir haben hier nichts mehr zu thun.
Das Gesicht der jungen Frau hatte sich entfärbt, ihre sanften Augen funkelten, die kleinen weißen Zähne knirschten hörbar auf einander.
Sie erlauben sich, Verhältnisse zu beurtheilen, sagte sie jetzt, die Sie nicht kennen, die Ihnen nur einseitig und verzerrt mitgetheilt worden sind. Niemals habe ich auf das Naturrecht verzichtet, dies Kind mein zu nennen; ich habe nur eine Zeitlang der Gewalt weichen müssen und immer im Stillen gehofft, die Zeit würde mir zu Hülfe kommen, der Vater meines Lieblings würde das schwere Unrecht, das er mir angethan, einsehen und die Trennung würde dazu helfen, ihn milder zu stimmen. Wer weiß auch, ob dies nicht geschehen wäre – ohne Ihr Dazwischentreten. Nun freilich, da es so weit gekommen ist, war nichts mehr von der Güte zu hoffen. Wenn ich wiederhaben wollte, was mein heiliges Eigenthum ist, habe ich es mir wie ein fremdes Gut entwenden müssen, und wie schwer es sein wird, es mir wieder zuzueignen, da man das Herz dieses armen mutterlosen Wesens seiner natürlichsten Heimat entfremdet hat, das hab' ich mit Schmerzen erkannt. Dennoch werde ich nicht ablassen, mein Recht geltend zu machen, meinem Kinde gegenüber und seinem Vater. Warum widersetzen Sie sich einer schwergekränkten Frau, einer beraubten Mutter? Heucheln Sie doch nicht, daß Ihnen selbst daran gelegen sei, auch bei dem Kinde meine Nachfolgerin zu werden, wie Sie es bei dem Vater geworden sind. So täuschend Sie jetzt die Rolle der zärtlichen Mutter spielen, im Herzen werden Sie mir's Dank wissen, wenn ich Sie dieser lästigen Verpflichtung überhebe, und auch er, der wankelmüthigste aller Männer – glauben Sie mir, wenn er nur einen scheinbaren Vorwand vor der Welt hat, er wird sich in Ihrem Besitze darüber trösten, daß ich so gutmüthig gewesen bin, ihm ohne seine ausdrückliche Zustimmung die Erinnerung an eine alte Schuld aus den Augen zu rücken!
Sie machte eine Bewegung, wie wenn sie das Kind in ihre Arme ziehen wollte, das sich aber nur um so fester an Julien anklammerte. Nimm mich fort, bat es leise, laß uns hinausgehen – zum lieben Papa – ich will nicht wieder zu der Frau –
Julie streichelte ihr das Köpfchen und drückte sie an sich. Sie hielt die Ohren des Kindes so dicht mit seinen weichen Haaren bedeckt, daß von allem Häßlichen und Traurigen, was hier zur Sprache kommen mußte, kein Laut mehr an die junge Seele dringen konnte.
Ich danke Ihnen, sagte sie. Sie haben mir mit diesen Eröffnungen einen Stachel aus dem Gewissen gezogen. Vielleicht hat er ihr doch Unrecht gethan! sagte ich mir. Vielleicht ist er zu heftig, zu rasch gewesen, und selbst wenn sie eine schwere Schuld gegen ihn hätte – ist es nicht Strafe genug, daß die Mutter ihr Kind so viele Jahre entbehren mußte? Und kann ich es vor diesem Kinde verantworten, daß ich die Hoffnung auf eine Versöhnung seiner Eltern für immer zerstöre? Das hat mir oft zu denken gegeben; aber ich gestehe Ihnen ehrlich: von heut an wird mein Gewissen darüber ruhig sein. Was Sie auch sagen mögen, um Ihre Handlungsweise zu beschönigen: die einzige gültige Rechtfertigung, eine wahre und echte Liebe zu Ihrem Kinde, können Sie nicht haben; wie könnten Sie sonst den Gedanken fassen, daß ich froh sein möchte, mich seiner zu entledigen? Das kann nur die Frau glauben und aussprechen, die fünf Jahre hat vergehen lassen können, ohne um jeden Preis das Kind, das sie selbst geboren, nur ein einziges Mal wiederzusehen, nur auf der Straße ihm aufzupassen, um es einmal wieder ans Herz zu drücken und sein liebes Gesicht zu küssen. Das kann nur die Frau, die dem eigenen Vater des Kindes zutraut, er werde es um ein neues Lebensglück gern hingeben, gleichgültig zusehen, wie es ohne wahre Mutterliebe verkümmert und verkommt. Und Sie machen es mir zum Vorwurf, daß ich diesem Manne meine Treue gelobt habe, der nie Ihnen gehört hat, weil Sie ihn nie verstanden, nie seinen Werth, seinen Adel, seine Größe erkannt haben? Versuchen Sie nun, was Sie können, sein Glück zu zerstören, seinen Frieden mit kleinen Mitteln zu untergraben; dieser Anschlag ist Ihnen mißglückt, und für die Zukunft werden wir uns und das Kind besser hüten. Sie haben uns gewarnt!
Sie wartete eine Antwort auf diese in wachsender Erregung herausgeschleuderten Worte nicht ab. Ehe die Frauen sich besinnen und dazwischentreten konnten, hatte sie Fränzchen's Hut und Mantel ergriffen, das Kind darin eingehüllt und es in ihren Armen hinausgetragen.
Sobald sie hinaus war, trat Stephanopulos mit einem nervösen Lachen ins Zimmer.
Quelle femme! sagte er. Elle nous a joliment mis dedans.
Angelos, befahl die Gräfin, gehen Sie ihr nach. Sie ist im Stande, sich in den Wagen zu setzen, der vor dem Hôtel wartet, und darin nach Hause zu fahren. Wir brauchen den Wagen. Es ist keine Zeit zu verlieren.
Aber meine Gnädigste – ich begreife nicht – wozu jetzt noch – Und Sie, Madame –
Er näherte sich Lucien, die in sprachloser Betäubung auf einen Sessel gesunken war.
Seien Sie kein Kind, Angelos! sagte die Gräfin. Was ist daran nicht zu begreifen? Die Partie ist verloren; freilich, wenn man etwas besser gespielt hätte –
Was verlangen Sie? fuhr die junge Frau mit gereiztem Ton auf. Haben wir nicht Alles gethan, was Sie uns gerathen? Ohne diesen abscheulichen Zwischenfall wäre Alles geglückt, ich hätte das Kind entführt und damit vor der Welt bewiesen, daß ich mich nicht schuldig weiß, mir nicht Alles gefallen lassen muß, was man mir zumuthet, daß ich den Muth habe, mich gegen maßlose Kränkungen –
Beruhigen Sie sich, Beste! sagte Nelida scharf. Warum wollen wir uns hier eine Komödie vorspielen, die Niemand in Illusion bringt? Genug, le coup a manqué, wir müssen jetzt sorgen, daß der Rückschlag Sie nicht trifft. Die Reise, die Sie mit dem Kinde machen wollten, müssen Sie jetzt allein machen. Oder glauben Sie nicht, daß Ihr Mann Alles aufbieten wird, um Sie schon den bloßen Versuch büßen zu lassen, wenn er hört –
Er wird rasen wie ein Tiger! rief Stephanopulos. Ich habe ein einziges Mal eine kleine Probe von seiner Wildheit gesehen, als ein Knecht einen Karrengaul peitschte, bis das Thier zusammenbrach. Er fuhr über den bestialischen Menschen her und hätte ihn in Stücke gerissen, wenn wir nicht hinzugesprungen wären. Die Gräfin hat Recht – Sie müssen fliehen – es versteht sich, daß ich Sie begleite – bis Sie in Sicherheit sind.
Die alte Sängerin, die sich während der ganzen Scene im Hintergrunde gehalten hatte, trat jetzt hervor und trieb auch ihrerseits eifrig zur Abfahrt. Lucie ließ sie gewähren, ohne eine Hand zu rühren.
In zehn Minuten war das Letzte gethan, der Wagen rollte vom Hause weg, Nelida hatte sich an das Fenster geschleppt und sah den Scheidenden nach. Der junge Grieche beugte sich hinaus und winkte ein letztes Lebewohl hinauf.
Bon voyage! sagte die einsame Frau, den Gruß nachlässig erwiedernd. Auch diese Episode nun ausgespielt! Armes Geschöpf – ohne élan im Guten wie im Bösen! Und doch dauert sie mich. Die Frau dieses Mannes gewesen zu sein und nun dahin gekommen, daß sie noch froh sein muß, wenn ein unbedeutender junger Fant –
Und ich? – und was ist das Ende von Allem? – Pfui! Alt und häßlich werden – immer älter und häßlicher, – der letzte Funke verglimmt – und endlich das Herz verschüttet unter der Asche seiner eigenen Leidenschaften. Eine Hölle auf Erden! – Ich gäbe den Rest meines Lebens darum, nur noch ein einziges Jahr so schön zu sein, wie diese Julie – und so geliebt – und von diesem Manne!