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Es ging stark auf Mitternacht, als Irenens Onkel in seinem offnen Einspänner von der Fahrt an den Ammersee zurückkehrte. Der alte Löwenjäger war in der glorreichsten Laune; er hatte bei dem Preisschießen mehrere »Beste« gewonnen, den Damen den Hof gemacht und bei den Männern selbst für die fabelhaftesten afrikanischen Jagdabenteuer ein geneigtes Ohr gefunden. Sogar seine berühmte Geschichte, wie er eine englische Zwillingsjagdbüchse gegen eine Löwin angelegt und beide Schüsse so rasch nach einander abgefeuert habe, daß die Kugel des rechten Laufs das linke Auge des Thieres, die des linken das rechte herausgeschossen, selbst diese sonst vielfach angezweifelte That war scheinbar gläubig hingenommen worden. Der Champagner hatte das Uebrige gethan, so daß der Gefeierte aus den sanftesten Träumen auffuhr, als sein Wagen vor der Gitterthür der Starnberger Villa hielt.
Er erstaunte, das Balconzimmer noch erleuchtet zu finden. Es sah Irenen nicht ähnlich, daß eine zärtliche Unruhe um den nachtschwärmenden Oheim sie sollte wach gehalten haben, und rings in den Nachbarhäusern war jeder Lichtschein erloschen. Dann fiel ihm ein, daß Schnetz vielleicht sich entschlossen habe, draußen zu übernachten und seine Rückkehr abzuwarten. Er freute sich darauf, von seinen heutigen Triumphen noch einem Sachverständigen Bericht abstatten zu können, und war daher unliebsam überrascht, als ihm droben in dem kleinen Salon, wo die Lampe brannte, seine junge Nichte ganz allein entgegentrat.
Ihr Gesicht war so seltsam verstört, ihr Betragen so aufgeregt, daß ihm sofort die Champagnerlaune verflog und er sich bestürzt erkundigte, was vorgefallen, wo Freund Schnetz geblieben, und warum Irene, die sich offenbar nicht wohl befinde, nicht lieber zu Bett gegangen sei.
Sie erzählte ihm, hastig, mit stockendem Athem, die Ereignisse des Tages. Erst als sie damit zu Ende war, brachte sie den Namen Dessen über die Lippen, der in der blutigen Katastrophe die Hauptrolle gespielt hatte.
Aber die Wirkung ihrer Erzählung war eine ganz andere, als sie erwartet hatte.
Statt zu erschrecken und Theilnahme zu äußern, rannte der muntere Herr mit einem Freudenausruf im Zimmer herum, rieb sich die Hände und geberdete sich so vergnügt, daß Irene ihn erstaunt betrachtete und endlich mit großem Nachdruck fragte: ob er denn auch zugehört habe, oder in Gedanken noch bei seiner lustigen Jagdgesellschaft sei?
Nein, mein theuerstes Kind, rief er, indem er plötzlich vor ihr stehen blieb, du hast mich in einem ganz falschen Verdacht. Ich bin es ja leider gewohnt, von dir verkannt und des Leichtsinns beschuldigt zu werden, der mich selbst in den Augenblicken befalle, wo mein zartfühlendes Fräulein Nichte ihre feierlichsten Töne anschlägt. Aber siehst du, Irenchen, in der ganzen Mordgeschichte, die du mir vorgetragen, finde ich nicht den geringsten Grund, mich zu alteriren. Daß unser Felix etliche Tropfen Blut verloren hat, ist dem Wildfang vielleicht sehr gesund, um ihn ein bischen zahmer zu machen. Zum Schlimmsten wird es ja nicht gleich kommen, dafür lass' ich meinen alten Schnetz sorgen, und die gütige Vorsehung wird auch nicht so thöricht sein, einen solchen Prachtjungen durch einen elenden Messerstich ins Jenseits zu befördern. Wenn wir aber mit dem Schrecken davon kommen, ist die ganze Geschichte so herrlich, wie man sie sich nur hätte bestellen können, um gewisse dumme Streiche wieder zu repariren. Komm, Kind! Sieh' mir ins Gesicht und gestehe, daß du im Stillen ganz meiner Meinung bist.
Sie sah ihm mit einem traurigen Blick fest in die Augen.
Wir verstehen uns einmal wieder nicht, Onkel!
Vielmehr, du hält'st es für angemessen, meine offne und ehrliche Meinung nicht verstehen zu wollen! Denn da du selbst zehnmal feiner und diplomatischer bist, als ich aller Jäger und Kriegsmann, –
Ich bitte dich, Onkel, –
So mußt du ohne weitere Erklärungen von meiner Seite begreifen, daß es mir einen ungeheuren Spaß macht, den Jungen, den Felix, den ich Gott weiß wo als seufzenden Korbträger herumirrend glaubte, plötzlich in unserer nächsten Nachbarschaft auftauchen zu sehen. Der Zufall soll das so geschickt arrangirt haben? Ah bah! Lehre mich meine Leute kennen. Nachgereis't ist er uns, nachgeschlichen hat er sich seiner immer noch angebeteten Flamme bis in die Starnberger Urwälder und über den wilden Würmsee, und da er auf keine andere Art mit Anstand sich wieder nähern konnte, hat er's auf die allersicherste probirt, die bei euch weichgeschaffenen Seelen nie ihre Wirkung verfehlt, nämlich sich in dein Mitgefühl einzuschleichen durch ein paar Unzen vergossenes Blut, wovon er immer noch einen gehörigen Ueberfluß besitzt. Und jetzt –
Wenn du nicht willst, daß ich das Zimmer verlassen soll, Onkel, so verschone mich mit diesen ganz grundlosen Vermuthungen. Habe ich dir nicht gesagt, daß er von unserm Plan, in München Halt zu machen, keine Ahnung hatte, daß Schnetz erzählt hat, wie er dort in ein Atelier gegangen ist, zu seinem alten Freunde Jansen, und Bildhauer werden will? Aber wenn auch Alles wahr wäre, wie du es dir zurechtlegst – was würde das an meinen Entschlüssen ändern? Hat dieses traurige Zusammentreffen nicht Alles bestätigt, was ich mir sagte, als ich ihm sein Wort zurückgab – meine Ueberzeugung, wir könnten nie zusammen glücklich werden, nicht gerechtfertigt? Und du kannst glauben, ich würde anders von ihm denken, weil er jetzt vielleicht schwer, wenn nicht gar lebensgefährlich darnieder liegt, an Wunden, die er im Kampf um – ein Schenkmädchen, – gewiß von einem Bauernburschen, der sein Nebenbuhler ist –
Die Stimme versagte ihr, sie wandte sich ab, um ihre Thränen zurückzudrängen, aber der leidenschaftlichste Schmerz überwältigte sie, und mit fassungslosem Schluchzen sank sie auf einen Stuhl neben der geöffneten Balconthür.
Vor diesem gewaltsamen Ausbruch des lange zurückgehaltenen Gefühls hielt selbst die muntere Laune des gutherzigen Pflegevaters nicht Stand. Er hatte das Mädchen immer um ihre überlegene Haltung angestaunt und sie im Stillen einer gewissen Herzenskühle geziehen, da sie ihn nie in die Kämpfe und Stürme ihres jungen Lebens blicken ließ. Und nun saß vor ihm ein seinem Kummer dahingegebenes Kind, das für alle tröstenden und liebkosenden Worte taub schien.
Du wirst es noch dahin bringen, rief er in drolliger Desperation, daß ich mein altes Handwerk wieder hervorsuche und auf meine alten Tage noch einmal auf Löwen pirsche, 's ist wahrhaftig eine weniger strapazante Aufgabe, als mit einem brouillirten Liebespaar fertig zu werden, das nicht zusammen und auch nicht auseinander kommen kann. Das Ding ging so lange, als du selbst wenigstens mit dir fertig werden konntest. Am Ende, obwohl ich es immer für eine Thorheit gehalten habe, einem solchen Liebhaber den Laufpaß zu geben, bloß weil er nicht schon vor der Ehe den Pantoffel küssen wollte, – du mußtest wissen, was du thatst, und ich konnte unmöglich Mutterstelle bei dir vertreten und dir auseinandersetzen, wie man uns Männer behandeln muß. Das ging aber Alles trocken ab, und man lebte friedfertig mit einander weiter. Jetzt aber, wo plötzlich das Eis bricht und du selbst aus den Fugen gehst, – sag in aller Welt, was ich jetzt anfangen soll? Ich bin im Umgang mit meinen wilden Bestien selbst ein bischen verwildert. Aber auf der Stelle werde ich das feigste, weh- und weichmüthigste Hausthier, wenn ein Frauenzimmer, und eins, das ich so lieb habe, vor mir zu weinen anfängt.
Sie richtete sich plötzlich auf, schüttelte die Locken zurück und fuhr sich mit den Händen über die Augen.
Du sollst es nicht mehr sehen, Onkel, sagte sie entschlossen. Gewiß nie mehr. Du hast Recht, es ist einfältig, zu weinen – um Etwas, womit man längst fertig war. Nie, nie wirst du es wieder sehen!
Mein tapfres Mädchen, sagte er, sie umfassend und aus die nasse Wange küssend, was er sich nur selten herausnahm, ich freue mich, daß der alte Onkel noch 'was bei dir gilt. Aber nun geh' zu Bett, es ist ohnedies so spät geworden –
Zu Bett? Mit dieser Todesangst? Wo denkst du hin, Onkel! Wirst du denn schlafen können?
Warum nicht, Närrchen? Sogar den Schlaf des Gerechten, da ich heute meine Schuldigkeit gethan und den Schützenruhm unseres Geschlechts –
Und es läßt dich schlafen, eh' du weißt, wie es um ihn steht? Was der Arzt gesagt hat? Ich hätte schon wieder hingeschickt, aber die Hausleute schlafen alle, und meine Betty ist hier fremd, sie würde das Haus nicht finden können?
Und du meinst also, ich selbst –? Nun, das gesteh' ich, um Ein Uhr in der Nacht – todmüde von all' meinen Lorbeern –
Onkel, wenn du mich nicht vor Angst vergehen lassen willst –
Sie warf sich in seine Arme und schmiegte sich so hülflos bittend an ihn, daß er nicht zu widerstehen vermochte. Seufzend und im Stillen ingrimmig fluchend über die Weiberlaune, einen wackeren Jungen erst von sich zu stoßen, um dann ihr Leben an das seine zu hängen, verließ er nochmals das Haus.
Sie rief ihm noch vom Balcon die Weisung nach, wie er den nächsten Weg zum Hause des Arztes finden könne, und harrte dann unbeweglich draußen in der dunklen Nachtkühle seiner Wiederkehr.
Nach einer Viertelstunde kam er zurück, brachte aber keine beruhigende Botschaft. Der Arzt sei von Rossel's Landhaus noch nicht wieder heimgekehrt und werde aller Wahrscheinlichkeit nach dort übernachten. Daß gleich am frühen Morgen Nachricht gesendet werden sollte, hatte ihm die Frau des Arztes, die er aus dem Schlaf herausgepocht, heilig versprechen müssen.
Es half also nichts, die Nacht mußte in der qualvollen Ungewißheit überstanden werden.
Als aber die Sonne noch nicht lange über den See herüberleuchtete, kam der Arzt in eigener Person, nicht nur durch die hinterlassene nächtliche Botschaft dazu veranlaßt, sondern auch durch ein Briefchen, das ihm Schnetz an seinen Zeltkameraden und Waffenbruder mitgegeben hatte. Er ergänzte darin in seinem schnurrigen Stil das Bulletin des Arztes durch allerlei Nebenumstände. Die Wunde an der Hand, schloß er, habe hoffentlich nichts zu bedeuten, eine Sehne sei zwar gestreift, aber nicht durchschnitten, so daß der Entschluß dieses edlen Jünglings, die Zahl der brodlosen Steinklopfer zu vermehren, schwerlich durch das brutale Eingreifen einer altbayrischen Faust vereitelt werden würde. Dagegen berichtete der Arzt, daß die Wunde an der linken Achsel nicht ganz unbedenklich sei, da der Stich die eine Lungenspitze erreicht habe, der Blutverlust beträchtlich gewesen und es einer langen Pflege und Ruhe bedürfe, um den Arm wieder brauchbar zu machen. Uebrigens sei in der Villa des Herrn Rossel für den Kranken bestens gesorgt, sein Blut und seine Säfte ganz normal und von einer ernstlichen Gefahr daher keine Rede.
Der Doctor, der den Baron und das schöne stumme Freifräulein zum ersten Male sah und ihre lebhafte Theilnahme nicht auffallend fand, da die junge Dame gestern mit von der Partie gewesen war, verabschiedete sich bald und versprach regelmäßigen Bericht abzustatten. Kaum war er gegangen, als Irene erklärte, sie werde nicht von hier fortgehen, bis jede Gefahr beseitigt sei, dann aber keine Stunde länger die Luft diesseits der Alpen ertragen, die ihr schwer genug auf der Brust liege.
Der Onkel hatte ihr sein Ehrenwort darauf geben müssen, auch gegen Schnetz sich nicht merken zu lassen, wie sehr sie Beide dem Verwundeten nahe gestanden, sondern ihren Antheil nur aus allgemeiner Nächstenliebe zu erklären. Auch sei es ja im Grunde nichts Anderes, was sie hier festhalte. Wenn auch jedes innige Band zwischen ihnen für immer zerrissen sei: – fortzureisen, ehe sich's klar entschieden, ob er nicht vielleicht ihrer Hülfe noch bedürfen möchte, würde sie nie vor ihrem Gewissen verantworten können.