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Woche um Woche war vergangen. Der Herbst kündigte sich an, die Rosenbäumchen auf dem kleinen Rasenfleck hatten ihre letzten Blüten hergegeben, über den See schlichen Abends die langen weißen Nebel, und eine Woche lang verschwand das Ufer drüben sammt dem fernen Gebirg völlig hinter einem schläfrig grauen Regen, der einen dichtgewebten Vorhang vor Land und See breitete. Als dieser endlich wieder weggezogen wurde, war es noch dieselbe Landschaft, aber in anderen Farben, viel Gelb an die hohen Buchenwälder verstreut, die Seewelle, sonst von durchsichtigem Grün, in ein bleiches Grau verwandelt und auf den Gipfeln der Zugspitz und des Karwendelgebirgs das melancholische Weiß des ersten Schnee's.
Auch Rossel, der sich sonst gegen die landschaftliche Umgebung gleichgültig verhielt und die symbolischen Beziehungen der Natur zu unsern Stimmungen für ein sentimentales Vorurtheil erklärte, äußerte sich gegen Kohle sehr mißvergnügt über die naßkalte Luft und den schmutzigen zähen Nebel, der, wie er behauptete, mit ausgesuchter Bosheit gerade in diesem Jahr so früh komme, da sie des kranken Freundes wegen hier noch aushalten müßten. Freilich versagten auch die Oefen, die seit Jahren nicht mehr in Gebrauch gewesen waren, ihren Dienst, und man mußte es bald aufgeben, das Speisesälchen zu erwärmen. Indessen ließ sich Kohle, dem sein inneres Feuer treu blieb, nicht abhalten, an dem Venusmärchen weiter zu arbeiten, obwohl der Dicke alle Lust dazu verloren hatte, ja nur mit offenbarem Spott darüber, daß man die nackte Schönheit unter einem solchen Nebelhimmel einbürgern wolle, die fortschreitende Arbeit begleitete.
Als dann die Herbstsonne sich noch einmal ihrer Macht besann und wenigstens am hohen Mittag stundenlang allen Zauber des herrlichsten Nachsommers erweckte, blieb Rossel gleichwohl übler Laune, die er nur Felix gegenüber sorgfältig zu verbergen suchte. Schnetz hatte es bald heraus, was die wahre Ursache seiner Verstimmung war: die fast geringschätzige Kälte, mit der die Zenz ihm begegnete. Seine wunderliche Leidenschaft, die zunächst aus einer künstlerischen Grille entsprungen war, wurde dadurch nur immer heftiger entflammt. Als er nun vollends das Geheimniß ihrer Herkunft erfahren hatte, ward er ganz tiefsinnig, verlor sogar den Appetit, schloß sich außer den Stunden, die er bei Felix zubrachte, sorgfältig gegen Jedermann ab und ließ sich auch bei den Mahlzeiten nicht sehen. Schnetz vermuthete, daß er dem rothhaarigen Hexchen einen förmlichen Heirathsantrag gemacht habe und mit einem unverblümten Korbe abgewiesen worden sei.
Das sonderbare Kind betrug sich bei all diesen heimlichen Versuchungen und Anfechtungen ganz gelassen. Sie lachte freilich nicht mehr so viel, wie im Sommer. Doch kam sie auch niemals mit gerötheten Augen oder anderen Zeichen heimlichen Kummers zum Vorschein, und selbst wenn sie Felix zu bedienen hatte, war ihr Gesicht heiter und unbefangen.
Am ersten Tage aber, als der Genesende an Schnetz' Arm in den Garten hinunter durste, kam sie unerwartet ihnen nach, den Strohhut auf dem Kopf, die kleine Reisetasche in der Hand, in welcher sie sich ihre paar Habseligkeiten aus dem Wirthshaus drüben hatte nachschicken lassen. Sie erklärte ruhig, sie wolle jetzt nach der Stadt zurück, da sie hier außen nicht mehr nöthig sei. Der Herr Baron sei ja so gut wie geheilt, und die alte Kathi habe sich in diesen Wochen den Enzian so weit wieder abgewohnt, daß sie ganz gut den Haushalt allein besorgen könne. Als Schnetz sie fragte, ob sie zum Großvater gehen wolle, erwiederte sie mit einem flüchtigen Erröthen, sie wisse es selbst noch nicht, sie sei ja auch bisher ohne ihn fertig geworden, und er ohne sie. Verschwören wolle sie's nicht, sie müsse ihn nur erst besser kennen lernen. Ihre Freiheit aber lasse sie sich nicht nehmen.
Felix hatte verwundert zugehört, da er in die Geschichte des alten Schöpf noch nicht eingeweiht war. Er sagte dem guten Kinde die herzlichsten Worte und hielt ihre kleine Hand eine Weile treuherzig in der seinigen. Sie ließ ihm auch die Hand, ohne den Druck der seinigen zu erwiedern, und sah still an ihm vorbei, wie wenn sie sagen wollte: das ist Alles gut und schön, kann mir aber nicht helfen! – Dann ließ sie sich noch von Schnetz das Versprechen abnehmen, ihm ihre Adresse zu schreiben, sobald sie eine Wohnung gefunden, und ging darauf mit einem letzten »Adieu und gute Besserung!« so raschen und sicheren Schrittes zur Gitterthür hinaus, daß Niemand auf den Gedanken gekommen wäre, es handle sich hier um eine Trennung, bei welcher der Scheidenden das Herz blutete.
Rossel, von dem sie keinen Abschied genommen, versank, als er von ihrem Fortgehen hörte, in noch schwärzere Melancholie, und der arglose Kohle, der von Allem, was dicht um ihn herum sich zutrug, immer am Wenigsten wußte, goß noch Oel ins Feuer, indem er sich in lebhaften Lobreden auf das wunderliche Mädchen erging, das nun an allen Ecken und Enden fehlte. Er mußte sich damit begnügen, aus der Erinnerung ihr Stumpfnäschen und die goldene Mähne, wie er sie nannte, in der Klosterscene zu verewigen, was ihm freilich nach dem Urtheil des Dicken noch sehr mangelhaft gelang.
So war trotz der heiteren Herbsttage die Luft in der Villa nicht die hellste. Denn auch der genesende Felix, je mehr er seine Kräfte wachsen fühlte, je weniger schien er des wiedergeschenkten Lebens froh werden zu können. Jener Gruß seiner alten Liebe, der ihn im Fiebertraum beseligt hatte, war mit dem Erwachen des klaren Bewußtseins aus seiner Erinnerung verschwunden. Er wußte nur, daß der Onkel täglich Nachrichten über sein Befinden einzog, und daß sie Starnberg nicht verlassen würden, ehe er aus aller Gefahr sei. Aber so viel Theilnahme durfte auch ein Fremderer erfahren, mit dem man eben nur in höflichem Verkehr gestanden. Im Uebrigen – was hatte sein Abenteuer an der Lage geändert? vollends zu seinen Gunsten? Ein Kampf auf Leben und Tod mit einem Schifferknecht um ein Schenkmädchen, – eine bedenkliche Probe, in der Thal, auf die Trefflichkeit seiner Grundsätze über Freiheit und Ungebundenheit der Sitten, ein neuer Beweis, wie richtig sie gehandelt, als sie ihr Leben mit scharfem Schnitt von dem seinigen trennte. Und unter welchem Vorwande sollte er jetzt eine Aufklärung über den wahren Hergang des ganzen Handels ihr zukommen lassen? Welch ein Interesse konnte sie noch an dem Thun und Lasten Desjenigen nehmen, den sie einmal völlig freigegeben hatte? Ob er etwas mehr oder weniger ihrer unwerth sein wildes Wesen forttrieb, was konnte ihr daran gelegen sein?
Aber heimlich wurmte es ihn, daß fein Stolz sich gegen jede Annäherung auflehnte. Er hatte mehr als einmal, sobald die Wunde an der Hand ihm nur ein paar Buchstaben zu kritzeln erlaubte, angesetzt, um dem Oheim zu schreiben. Da konnte er ein Wort über die ganz unverfängliche Veranlassung zu dem blutigen Abenteuer einfließen lassen. Mitten im Schreiben schien es ihm wieder, als mache er mit jeder Entschuldigung nach dem alten Sprüchwort das Uebel ärger. Und konnte er denn die schwerste Sünde in ihren Augen, den Tanz mit dem Mädchen, aus der Welt schaffen?
Er zerriß alle Briefanfänge wieder und ergab sich, die Zähne zusammenbeißend, in das Schicksal, unverdient zu leiden und besser zu sein als der Schein.
Aber mit einem freudigen Herzklopfen sah er eines Tages, da er gerade ohne seine Wächter, die ihm jedes Gespräch fern hielten, auf einer Bank im Garten saß, den Oheim heransprengen und schon über das Parkgatter ihm vergnügt zuwinken. Er stand auf und ging mit leichtem Erröthen, halb aus Schwäche, halb aus Beklommenheit, dem wohlbekannten Gesicht einige Schritte entgegen.
Der muntere Herr lief ungestüm auf ihn zu und umarmte ihn so herzlich, daß Felix ihn lächelnd um Schonung für seine kaum vernarbte Wunde bitten mußte. Nun entschuldigte sich der Onkel in großer Bestürzung, führte den Kranken, ihn sorgsam unterstützend, nach der Bank zurück und fragte ihn dann mit der naivsten Neugier nach allen Einzelheiten des verhängnißvollen Ereignisses aus. Er schien das größte Vergnügen daran zu haben.
Ein gesegnetes Land, dies Bayern! rief er aus, indem er sich die Hände rieb. Wahrhaftig, man braucht nicht über die Herculessäulen oder zu den Rothhäuten zu gehen, man kann die Mordgeschichten näher haben, in seinem eigenen deutschen Vaterlande. Aber nun rück' auch mit der Wahrheit heraus über das Mädel, das die ganze tolle Wirthschaft angestiftet hat! Ich fragte gleich, wie ich von deiner Verwundung hörte: oû est la femme? Wie ich nun gar erfuhr, sie sei mit im Kahn herübergefahren und habe dich gepflegt, – nein, leugne es nur nicht, du Teufelsjunge! Die kleine eingeborene Hexe – sie soll ja obenein rothe Haare haben, und rothe Haare – haha! – die waren dir von je her gefährlich. Denkst du noch an die verrückte geheimnißvolle aventure – die mit der rothhaarigen Engländerin im Seebade – haha! und jetzt wieder – Aber was hast du denn, theurer Sohn? Du wirst ja roch und blaß in Einem Athem – am Ende hast du doch ein bischen zu lange –
Felix erhob sich mit sichtbarer Anstrengung. Seine Stirn war düster geworden, feine Augen blitzten den jovialen alten Freund seltsam an.
Onkel, sagte er, du bist sehr falsch berichtet. Aber das ist gleichgültig. Das Mädchen, das mich so wenig angeht, wie jener wahnsinnige Bursche, hat das Haus wieder verlassen, und damit wird hoffentlich dieser ganze abgeschmackte Handel ab und todt sein. Daß du aber an jene andere Geschichte wieder rührst – von der du weißt, wie peinlich mir die Erinnerung ist –
Ich bitte tausendmal um Verzeihung, bester Junge! Es ist mir so entschlüpft – du weißt, trotz meiner Einundfünfzig bin ich noch immer der unverbesserliche alte étourdi – aber bei allen Göttern und Göttinnen sei's geschworen: nie soll wieder auch nur die leiseste Anspielung – Und er ist ganz bleich geworden, der hitzige Mensch! Höre, mein Theurer, du solltest dich noch weit strenger in Acht nehmen, dich weit sorgfältiger vor jeder Aufregung hüten. Ich habe dir schon anbieten wollen, zu uns hinüberzuziehen – am Ende, wir hätten doch das nächste Anrecht darauf, dich zu pflegen – Aber da du wirklich noch schwächer bist, als ich gedacht hatte, und am Ende doch gewisse Emotionen –
Felix sah ihn starr an. Dann brach er in ein gezwungenes Lachen aus.
Du scherzest, Onkel. Oder redest du am Ende doch mit mehr Vorbedacht, als du mich glauben machen willst? Hinüberziehen – ich – zu euch? Du bist sehr gütig – aber in der That: so gut ich weiß, daß Alles aus ist – ganz und gar stehe ich nicht dafür, daß nicht doch gewisse Emotionen –
Er stockte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
Du hast Recht, mein Junge, versetzte der Onkel ernsthaft. Es ist noch ein wenig zu früh. Im Uebrigen – früher oder später muß die ganze verrückte und verschobene Geschichte ja doch wieder zurechtgerückt werden, und meiner Meinung nach je früher je besser. Ueberleg' es dir nur! Auf dem Lande geht dergleichen am besten und bequemsten! Wenn du lieber unter vier Augen zuerst dich aussprechen willst – du brauchst mir nur einen Wink zukommen zu lassen –
Ist das nur so deine Privatansicht, oder – hast du etwa –
Höheren Auftrag? Leider bis jetzt noch nicht. Aber du kennst meine diplomatischen Talente. Wenn du mich nur bevollmächtigen möchtest –
Ich bedaure, Onkel; aber ich bin wirklich noch zu schwach, um länger in diesem scherzhaften Ton Dinge zu besprechen – die doch auch ihre ernste Seite haben. Entschuldige mich für heute, ich muß ins Haus zurück; und im Uebrigen bitte ich, daß du dich nicht im Geringsten in meinem Interesse bemühst. Du siehst, ich befinde mich den Umständen nach ganz wohl, so wohl, wie ich es allen Menschen wünsche, und wenn noch ein paar Wochen ins Land gegangen sind –
Er wollte noch einen Scherz machen, sank aber in demselben Augenblick auf die Bank zurück und konnte nur mit der Hand winken, daß der Onkel ihn verlassen möge, da ein plötzlich aufzuckender Schmerz in der verwundeten Brust ihm den Mund schließe. Der Andere stammelte noch ein paar bestürzte Worte und eilte dann zu seinem Pferde zurück, das er draußen am Parkthor angebunden hatte. Er bestieg es nachdenklich und ritt kopfschüttelnd davon. Es war in den jungen Leuten von heutzutage doch ein Zug, aus dem er nicht klug werden konnte.