Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auch Felix hatte nicht nach Irenen umgeblickt. Und doch wußte er genau, wann sie in die Thüre getreten und im Hause verschwunden war.
Sein Geschäft am Ufer war längst abgethan, die beiden Kähne hingen sicher an der Kette, und nur die starke Brandung stieß noch ihre Holzwände eintönig gegen einander. Hier draußen war nicht gut sein; die Tropfen fielen dichter und derber, von den Bäumen neben der Schiffshütte wurden Blätter und Aeste losgerissen und im Wirbel weit herumgeschleudert. Und doch konnte der Einsame draußen sich immer noch nicht entschließen, in das Haus zu flüchten, das so wirthlich und wohlverwahrt mit seinen lustigen hellen Fenstern vor ihm lag und einen Haufen fröhlicher Menschen gegen alle Unbilden des Gewitterhimmels beschirmte.
Eben überlegte er, ob er sich nicht in einen der Kähne zurückziehen sollte, die unter dem Dach der Schiffshütte wenigstens eine trockene Zuflucht boten, als ein starker Blitz die Nacht umher erhellte und gleich darauf, noch ehe der Donner einfiel, ein höhnisches Lachen unweit von ihm erklang. Er sah jetzt erst, daß er hier draußen nicht ganz allein war. An dem Steg der Landungsbrücke für die Dampfschiffe, die auf Pfählen eine ziemliche Strecke weit in den See hinauslief, stand der junge Schiffer, der vor einer Stunde das Unwetter vorhergesagt und die Rückfahrt verweigert hatte.
Er stand, wie wenn ihm in diesem Wirbelsturm erst recht wohl wäre, in Hemdärmeln, die Jacke über die rechte Schulter gehängt, eine kurze Pfeife rauchend am Geländer des Brückenstegs, barhaupt und den Blick mit einem bösen, stechenden Feuer auf Felix gerichtet, den er mit dem jungen Grafen verwechseln mochte, weil er sich an seinem Kahn zu schaffen gemacht. Als der Donner ausgetobt hatte, schlug er von Neuem eine schadenfroh laute Lache auf und rief:
Gelt, der Hiesl ist ein dummer Bauernkerl und versteht nix, nicht einmal von seinem eignen Gewerb'! Das muß er erst von so einem Stadtherrn lernen. Hahaha! Wollt' nur, Ihr wär't gewaschen worden bis auf die Knochen! Hahaha! Nun, macht's nur, daß ös weiterkommt's, 's ist grad' lustig drinnen, und der Himmel wird vielleicht ein andermal so g'scheidt sein –
Die weiteren Worte verschlang der heulende Sturm. Felix hatte schon eine scharfe Abfertigung auf der Zunge, um den Burschen zugleich darüber aufzuklären, daß er sich in der Person geirrt. Jetzt aber brach der Orkan mit einem so gewaltigen Stromregen herein, daß ihm im wahren Sinne des Worts Hören und Sehen verging und er sich sputen mußte, um noch leidlich trockenen Fußes das Haus zu erreichen.
Dicht hinter ihm wurde die eingehakte Hausthür vom Sturm aus ihrer Kette gerissen und mit Krachen ins Schloß geworfen.
Im Hausflur unten saßen einige geringere Leute an kleinen Klapptischen längs der Wand, den gefüllten Krügen und Tellern zusprechend. Eine lächelnde Kellnerin, die eben aus der Küche kam, bedeutete Felix, seine Leut' seien droben beim Tanzen, und fragte, ob er etwas begehre. Er schüttelte stumm den Kopf, und stieg langsam die Treppe hinauf, nicht um sich zu den Uebrigen zu gesellen, sondern nur um zu erforschen, wo sie sich aufhielt und welchen Raum des Hauses er zu vermeiden hätte.
Droben in dem spärlich erleuchteten Hausgang war kein Mensch zu sehen, aber alle Thüren standen der Schwüle wegen offen, und Lampenlicht, Qualm und Lärm drang heraus, während der Boden dröhnte von dem tactmäßigen Stampfen der Tanzenden und die Luft von dem verdrossenen Gebrumm einer mächtigen Baßgeige erzitterte. Der Tanzsaal lag ganz am Ende des Corridors. Felix hatte sich, ohne in die anderen Zimmer zu blicken, bis dort an die Thür geschlichen und konnte, hinter den Zuschauern stehend, bequem übersehen, was drinnen vorging. Der Bräutigam schien ein junger Forstwart zu sein, seine Braut eine Bürgerstochter aus der Stadt. So hatte das Ganze einen Anstrich, der von den gewöhnlichen ländlichen Hochzeiten sich vortheilhaft unterschied, und die Paare drehten sich in ganz anständiger Munterkeit, ohne das übliche Juhschreien, Schnalzen und Toben, nach der Musik einiger Streich-Instrumente, einer einzelnen Clarinette und eines nur selten einsetzenden Waldhorns durch den geräumigen Saal. Das erste Paar, das Felix in dem blauen Nebel der Tabakswolken erkannte, war Rosenbusch mit seiner Nanny. Zu seiner Ueberraschung schwang aber dicht hinter diesen auch Elfinger sein Mädchen flink im Kreise herum, und die künftige Himmelsbraut schien ohne großes Widerstreben sich dieser weltlichen Lust zu überlasten. Und jetzt tauchte sogar die junge Comtesse unter dieser gemischten Gesellschaft auf, von dem jungen Baron, ihrem Zukünftigen, weit lebhafter herumgewirbelt, als es auf einem Hofball guter Ton gewesen wäre. Ihr Bruder, der junge Graf, stand drüben in einer sichern Ecke und machte, wie es schien, der Tante Babette angelegentlich den Hof, die sich um keinen Preis mehr zum Tanzen verführen lassen wollte. In dem anstoßenden Zimmer aber, das er noch zur Hälfte überschauen konnte, erblickte Felix Freund Kohle mit der alten Gräfin in eine eifrige Unterhaltung vertieft.
Nirgends eine Spur von Irenen. Ob sie sich vor ihm versteckt hatte? In den andern Zimmern, in denen die ältere Verwandtschaft der Hochzeitleute essend und plaudernd beisammen saß, konnte sie sich schwerlich aufhalten. Und doch mußte er wissen, wohin sie sich zurückgezogen, um ihr ein neues peinliches Zusammentreffen zu ersparen.
Eine Kellnerin trat eben mit leeren Krügen aus einer der offnen Thüren, die beschloß er nach dem Fräulein zu fragen. Als er aber das flinke Mädchen anrief und sie jetzt den Kopf nach ihm umdrehte, entfuhr Beiden zugleich ein Laut halb froher, halb bestürzter Ueberraschung. Wenig fehlte, so hätte das Mädchen die Krüge aus der Hand fallen lassen. Sie stellte zitternd und erröthend ihre Last auf einen Stuhl nieder und fuhr sich dann mit den Händen über das Gesicht.
Treff' ich Sie hier, Zenz? sagte Felix, zutraulich näher tretend und ihr die Hand hinhaltend. Seit wann sind Sie denn hier draußen? Aber Sie kennen mich wohl gar nicht mehr. Oder sind Sie mir noch böse, daß Sie mir nicht einmal eine Hand geben wollen?
Das Mädchen stand, über und über glühend, unbeweglich gegen die Wand gelehnt, die Hände halb abwehrend mit ausgespreizten Fingern an ihren Leib gedrückt, die Augen zu Boden geschlagen. Sie war zierlicher als die Kellnerin unten gekleidet, ihr dickes rothes Haar hing in zwei starken Zöpfen über den Nacken herab, das schneeweiße Hälschen war mit einer kleinen Korallenschnur umwunden und die Arme bis an die Ellenbogen bloß. Ihr reizender Wuchs zeigte sich vortheilhaft in dem kurzen Röckchen und eng anliegenden Mieder, und eine kleine Rose, die sie vorn in den Busen gesteckt hatte, hob die Weiße ihres Tüchleins und der kleinen, koketten Kellnerinnenschürze. Es war kein Wunder, daß sie hier auf dem Lande Anbeter genug hatte und die Spröde gegen den jungen Schiffer spielen konnte.
Nun, Zenz, nahm Felix wieder das Wort, da sie noch immer schwieg, soll es mit unsrer alten Freundschaft ein für allemal vorbei sein? Du bist mir damals so heimtückisch durchgegangen, böses Kind, ich habe alle Winkel nach dir durchsucht. Aber darum keine Feindschaft. Höre, könntest du mir wohl sagen, wo das junge Fräulein hingekommen ist, die Schlanke mit dem Regenmäntelchen? Sie ist nicht drin bei den Andern.
Ich weiß wohl, wen Sie meinen, antwortete jetzt das Mädchen, plötzlich wieder ganz unbefangen, da er selbst sich so harmlos betrug und gewisse vergangene Dinge vergessen zu haben schien. Sie meinen die Schöne, die so was Vornehmes hat, mehr als alle die Andern. Die hat drüben in den heißen Stuben nicht lang ausgehalten, sondern sich oben ein Zimmer aufschließen lassen, um ganz für sich zu bleiben, sie hätte so arg Kopfweh, sagte sie. Kennen Sie Die? Aber natürlich, Sie sind ja mit den Herrschaften gekommen. Am End' ist's gar Ihr –
Sie stockte und sah ihm jetzt mit einem listigen Blick ins Gesicht. Etwas von ihrem alten Leichtsinn flackerte darin auf, dann aber rümpfte sie trotzig die Lippen.
Meinthalben! sagte sie achselzuckend. Was geht's mich an, wer Ihr Schatz ist? Steigen Sie nur da die Treppe hinauf und klopfen an Numero siebzehn an. Da werden Sie schon finden, was Sie suchen.
Zenz, versetzte er mit einem trübsinnigen Blick, du irrst dich sehr, wenn du glaubst – Aber sage mir vor allen Dingen, wie es dir gegangen ist, ob dir das Leben hier besser gefällt, als in der Stadt, – und ob ich dir gar nichts zu Liebe thun kann?
Er fühlte das Bedürfniß, dem guten Geschöpf, dessen Hingebung er so kalt zurückgewiesen, sich in irgend einer Weise freundlich zu zeigen, um ihr die peinliche Erinnerung daran zu verwischen.
Sie schien das auch zu empfinden und dankbar dafür zu sein. Eine leichte Röthe, nicht mehr der Verlegenheit, sondern der Freude, stieg ihr in die Wangen.
Wie mir's hier gefällt? sagte sie lachend. Nun, so weit nicht schlecht. Die Wirthsleut' sind ganz ordentlich zu mir, und sonst – wenn ich meine Schuldigkeit thu' – wem brauch' ich weiter nachzufragen? Nur – halt ein bissel still und einsam ist's schon hier draußen.
Ich denk', es fehlt nicht an Leuten, Zenz, die dir gern die Zeit vertreiben möchten, wenn du nur wolltest.
Sie antwortete nicht gleich, sondern lauschte nach der Treppe Hin, wo eben Jemand heraufgeschlichen kam, der aber auf der Mitte stehen blieb, wie um zu horchen. Die Tanzmusik hatte eine Pause gemacht, und man mußte auf der dunklen Stiege jedes Wort verstehen können, das oben im Hausgang gesprochen wurde.
Das Gesicht des Mädchens nahm einen leichtfertig wegwerfenden Ausdruck an. Sie schien zu wissen, wer da unten auf der Lauer stand, und erhob absichtlich die Stimme, um den Horcher abzufertigen.
Haben Sie auch die Schwatzerei gehört? sagte sie. Nun, wenn Ihnen noch einmal Jemand sagt, die Zenz habe sich hier einen Schatz angeschafft, so bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir und er sei ein miserabler Lügenbold. Ich weiß wohl, die Kellnerin in Leoni möcht' mich gern verschwatzen, weil der Fischer-Hiesl, der erst ihr nachgegangen ist, jetzt mit mir hat anbändeln wollen. Aber wenn ich auch nur ein armes Mädel bin, für so einen wüsten Gesellen, der auf allen Kirchtagen raufen muß und alles Geld, was er verdient, vertrinkt oder verkegelt, für so einen bin ich noch hundertmal zu gut. Denken Sie nur, das kleine spanische Messer, das ich damals aus Versehen von Ihrem Tisch mit weggenommen hab' – oder nicht aus Versehen; ich glaub' gar, Gott verzeih' mir die Sünd', ich hält' mich am liebsten damals umgebracht, so unglücklich und wild war mir in jener Nacht zu Muth, – das hab' ich all die Zeit her mit mir herumgetragen; ich halt's vorn im Mieder stecken, anstatt des Löffels, den ich als Kellnerin hätt' tragen sollen; und noch nicht acht Tag' sind's her, da hab' ich dem Hiesl zum letzten Mal die Meinung gesagt, und da ist er so teufelswild geworden, daß er mir das Messer weggerissen hat und geschrieen: ich sollt' an ihn denken, wenn's ein Unglück gäb', so oder so. Aber ich hab' gelacht und gesagt, wenn er mir's nicht wiedergäb', würd's freilich sein Unglück sein, verklagen würd' ich ihn. Der mein Schatz? Da müsst' ich erst dumm werden! Ich will überhaupt gar keinen Schatz, man wird doch immer nur betrogen, und wen man kriegen könnt', den mag man nicht, wen man aber möcht', den kriegt man nicht. Und nun lassen Sie mich gehen, Herr Baron, die Herrschaften drinnen warten, und Sie müssen den jungen Fräuleins die Cour schneiden. Was verderben Sie heraußen die Zeit mit einer Kellnerin?
Sie machte Miene, ihre Krüge wieder aufzunehmen, ohne sich sehr damit zu beeilen.
In diesem Augenblick fing die Musik wieder an, ein behaglicher, nicht sehr rascher Ländler wurde gespielt, wie es schien, um auch die älteren Hochzeitsgäste zum Mittanzen einzuladen.
Zenz, sagte Felix und sah ihr treuherzig ins Gesicht, die Fräuleins drinnen gehen mich gar nichts an, auch ist mir nicht nach Courmachen zu Muth. Sobald das Wetter vorüber ist, will ich fort, ohne Abschied zu nehmen. Wenn Einer nach mir fragt, kannst du nur sagen, ich hätte noch zum letzten Zug in Starnberg sein wollen. Aber vorher möchte ich gern wissen, ob ich dir nicht irgend einen Gefallen thun könnte, dir in der Stadt was besorgen, oder ob du sonst einen Wunsch hast, den ein guter Freund dir erfüllen könnte. Sag es grad heraus, Zenz. Ich bin selbst so wenig lustig, daß ich wenigstens Anderen gern ein bischen Vergnügen machen möchte.
Sie sah ihm forschend ins Gesicht, ob es auch sein Ernst sei. Warum er nicht froh sein sollte, konnte sie nicht begreifen.
Wissen Sie was? sagte sie endlich. Wenn Sie's nicht bloß zum Spaß sagen – einen Wunsch hätt' ich schon – und gar nicht so was Gefährliches: ich möcht' nur einmal mit Ihnen tanzen.
Tanzen?
Natürlich, ich weiß auch, was sich schickt, und daß die Kellnerin sich nicht unter die Hochzeitsleute mischen darf, wenn's keine Bauernhochzeit ist. Aber immer die schöne Musik zu hören, die einem bis in die Zehen fährt, und sich doch niemals mit Herumschwenken dürfen – drum mein' ich nur, hier draußen auf dem Flur ist's fast wie drinnen im Saal, man hört jeden Ton, und der Fußboden ist sauber und glatt. Gelt?
Er zauderte noch immer. Der Sinn stand ihm wahrlich nicht nach Tanzen. Als sie aber plötzlich mit einer raschen Geberde nach ihren Krügen griff, sein Zaudern dahin deutend, als halte er sich nun doch zu gut, ihren Tänzer zu machen, brachte er es nicht übers Herz, sie von Neuem beschämt und gekränkt von sich zu lassen.
Du hast Recht, Kind, sagte er, wir wollen tanzen. Man braucht ja nicht gerade lustig zu sein, um doch ganz flinke Beine zu haben. Komm! Du mußt mir aber zeigen, wie man's hier zu Lande macht.
Er umfaßte das schlanke und schmiegsame Gestältchen, und sie hing sich mit lebhaftem Vergnügen fest an seinen Arm. Es geht ganz herrlich! flüsterte sie nach den ersten Tacten. Mir ist grad, als flög' ich in den Himmel hinein. Wissen Sie wohl, wie Sie mich damals aufs Pferd gehoben haben? Herrgott, wie lang mir das vorkommt, und sind kaum ein paar Wochen!
Er antwortete nichts darauf, sondern tanzte eifrig und ernsthaft auf eine künstliche, selbsterfundene Manier, da es galt, durch den langen, schmalen Hausgang sich geschickt hinauf und hinab zu bewegen. Dabei fühlte er wohl, daß seine Tänzerin sich immer dichter und zärtlicher an ihn anklammerte, blieb aber selbst völlig kühl, und nur als es ihm endlich genug schien und er das Mädchen vor dem Stuhl, auf dem ihre Krüge standen, aus seinen Armen frei ließ, streichelte er ihr freundlich das runde Gesicht und sagte: Hab' ich's recht gemacht, Schatz?
Sie zuckte leicht zusammen, ihr Auge glitt ihm über die Schulter nach der Seite, wo die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufführte, und plötzlich stieß sie ihn von sich weg, flüsterte nur: Ich dank' Ihnen! und flog mit den rasch ergriffenen Krügen an ihm vorbei die Treppe hinunter.
Er sah ihr betroffen nach. Was hatte dies wunderliche Mädchen auf einmal angewandelt? Eine jähe Ahnung stieg in ihm auf. Er stürzte nach der Treppe hin und spähte die dunklen Stufen hinauf. Zu sehen war nichts mehr. Aber einen leichten Fußtritt hörte er oben über den Flur huschen und gleich darauf eine Thür ins Schloß fallen und vernehmlich genug den Schlüssel darin umdrehen.
Bis in die Fußspitzen durchfuhr ihn der Schreck: sie war es gewesen! Sie hatte sich zu der Gesellschaft unten zurückbegeben wollen und war auf halbem Wege wieder umgekehrt, um ihn nicht in seinem Tanzvergnügen mit einer Kellnerin zu stören! – –
Die Entdeckung war so niederschmetternd, daß er eine Weile regungslos mitten im Corridor stehen blieb und nichts hörte und sah von dem, was um ihn her vorging. Erst ein vorübertaumelnder Hochzeitsgast, der ihn unsanft anstieß, weckte ihn aus seiner Betäubung. Langsam tastete er sich die Treppe hinunter, durchschritt den Hausflur und trat in einer wahrhaft mitleidswürdigen Verfassung ins Freie.
Es hatte völlig ausgestürmt, die Luft zitterte nur noch von der Erschütterung, und ab und zu fiel ein Tropfen vom Dach, oder der ferne Widerschein des entwichenen Ungewitters zuckte über den reinen Himmel. Nun trat auch am Horizont das Gebirge wie ein leichter, festumrissener Nebel hervor, und die Sterne spiegelten sich schwankend auf der Welle, die am längsten den Aufruhr des Gewitters nachzuempfinden schien und unheimlich fortgährte.
Felix war an das Ufer hinabgegangen, bis an den äußersten Rand der Landungsbrücke. In dem Aufruhr seiner Gedanken wollte noch immer kein fester Punkt auftauchen. Sollte er sofort eine Unterredung mit ihr suchen, sie darüber aufklären, wie Alles gekommen war, das Undenkbare, Unerhörte, Unverzeihliche: daß nach einem so schmerzlichen Wiedersehen er es nicht verschmäht hatte, einem Schenkmädchen schönzuthun, daß er an nichts weniger dabei gedacht, als etwa den Trotzigen oder Gleichgültigen zu spielen, daß nur der unglückseligste Zufall – Aber wie konnte er ihr auseinandersetzen, was ihn getrieben, sich gegen das arme Geschöpf freundlich zu beweisen? Und würde sie ihn überhaupt anhören? Immer noch besser schien es, zu schreiben. Auch das aber half nur aus der letzten, lächerlich tragischen Verwirrung heraus. Was schützte ihn vor der Wiederholung ähnlicher Begegnungen, wenn er überhaupt in ihrer Nähe blieb?
Er stand lange über das Geländer des Brückenstegs gelehnt und starrte in die unruhig brandenden Wellen hinab, in seine verzweifelten Gedanken versunken, während aus den offenen Fenstern die Clarinette dudelte und der Baß dazu brummte, als gäbe es nur vergnügte Menschen aus dieser Welt.
Zuletzt riß er sich mit einem gewaltsamen Ruck in die Höhe. Er wollte um jeden Preis der Begegnung mit einem Menschengesicht hier entgehen und zu Fuß den Weg nach Starnberg antreten.
Wie er sich aber umwandte, sah er hinter sich auf der Mitte des schmalen Stegs eine dunkle Gestalt hingepflanzt, in der er sofort den Fischer-Hiesl erkannte. Aus seiner Miene, die er trotz der Dämmerung deutlich unterschied, konnte er die feindseligste Absicht heraus lesen. Auch hatte der Bursch die Beine gespreizt und die Arme in die Seiten gestemmt, wie um den Weg zu verlegen, und grins'te ihm jetzt mit unverschämtem Lachen ins Gesicht.
Schönes Wetter, Herr Graf! rief er heiser und mit schwerer Zunge. Wieder recht schön hier außen, zum Spazierengehn, allein oder zu Zweit. Werden wohl nicht lang allein bleiben, haha! Wird wohl bald abkommen können von der Hochzeit, um mit dem Herrn Grafen noch ein bissel zu tanzen, so ganz solo unter sich – haha!
Aus dem Wege, Bursch! rief Felix, indem er dicht auf ihn zutrat. Wenn du Händel suchst, sollst du sehen, daß du an den Unrechten gekommen bist.
Unrecht? lallte der Tückische, der ruhig stehen blieb und nur die Arme über der Brust kreuzte. Wär' nicht übel, wenn ich auf zwei Schritt nimmer sehen könnt', wer der Rechte ist. Ihr seid ein Herr Graf, und ich bin ein dummer Bauernkerl – ist's nicht recht so? – und mit Euch tanzt die Zenz, und mit mir tanzt sie nicht, und Euch hängt sie sich an den Hals, und mir kehrt sie den Rücken. Also seht Ihr, ich weiß ganz prächtig Bescheid; nüchtern bin ich auch noch, und mein Gewerb versteh' ich trotz Einem; wenn der Herr Graf vielleicht mit dem Mädel auf den See 'nausfahren möcht', der Hiesl würd' sich eine Ehr' draus machen, ein Schiff herzugeben zu dem hochgräflichen Pläsir, und wenn der dumme Bauernkerl dem Herrn Grafen das Licht halten soll –
Scher' dich deiner Wege, du Narr! rief Felix, nun seinerseits ergrimmt über den wahnwitzigen Ueberfall des eifersüchtigen Gesellen. Wenn du mich nur mit einem Finger anrührst, zerbrech' ich dir alle Knochen im Leib. Was du da schwatzest, davon weiß ich kein Wort. Die Kellnerin ist nicht meine Liebste, und ob sie sich hier herausschleichen wird zu mir, das kannst du ja abwarten, wenn du Lust hast. Wenn du deine fünf Sinne bei einander hättest und deine gesunden Augen nicht im Maßkrug gelassen, würdest du auch sehen, daß ich nicht dein Herr Graf bin. Also mach, daß du mir hier aus dem Wege kommst. Ich bin nicht aufgelegt, noch lange Spaß zu verstehen.
Der Bursch antwortete nichts, lachte auch nicht mehr, sondern sah ihm nur steif ins Gesicht und stand wie ein Pfahl. Als aber Felix jetzt mit festem Schritt an ihm vorbei wollte, wurde er plötzlich um die Mitte gepackt und heftig zurückgedrängt. Das Blut schoß ihm jäh zu Kopf. Elender Tropf, rief er, wenn du es denn haben willst, so hab' es! –
Er stieß seinen Gegner mit solcher Gewalt vor die Brust, daß dem derben Burschen einen Augenblick die Arme locker wurden. Gleich darauf aber fühlte er sich wieder von ihm gefaßt und bis an den Rand des Brückensteges zurückgedrängt, wo die Pfähle mannshoch aus dem Wasser ragten und der Grund tief genug war, um dem Kiel des Dampfers freie Bahn zu lassen.
Du oder ich! keuchte es aus der Brust des Wüthenden. Du oder ich! Wenn sie mich nicht will, du sollst sie auch nicht haben, Stadtfratz, verdammter! – Er rang mit wachsendem Ungestüm, um seinen Feind von dem Stege hinabzustoßen. Felix aber war auf der Hut. Mit einem raschen Ruck hatte er die Landseite wiedergewonnen und den Angreifer dicht an die letzte Planke vorgeschoben. Einen Augenblick stand der Kampf. Im nächsten Moment aber fühlte Felix einen heftigen Stoß: ein scharfgeschliffenes Messer war ihm zwischen Brust und Schulter in die Achsel gefahren, daß sein linker Arm gelähmt zurücksank.
Daß er schwer verwundet war, merkte er sogleich, und eine helle Wuth loderte in ihm auf. Mörder, schrie er, heimtückischer Schurke, den Streich bezahlst du mir! – Mit dem Aufgebot seiner ganzen Stärke riß er den Burschen nieder, drückte ihm mit der rechten Faust die Kehle zusammen, daß er nur noch zu stöhnen vermochte, und hätte ihn erwürgt, wenn der plötzlich Ernüchterte nicht die List gebraucht hätte, hart am Rande des Steges niedergestreckt, mit aller Macht die biegsame spanische Klinge gegen die drosselnde Faust zu führen. Als die blutüberströmte Hand seine Kehle freiließ, glitt er über den Steg hinab in den See und verschwand spurlos in der Tiefe.
Das dumpfaufklatschende Geräusch des Falles brachte den Sieger plötzlich zur Besinnung. Es war ihm aber durchaus gleichgültig, ob der Hinabgestürzte wieder herauftauchen und das Ufer gewinnen würde. Kein anderes Gefühl lebte in ihm, als der Ekel über diesen wüsten Kampf um eine so abgeschmackte Ursache. Wie wenn er einen tollen Hund abgeschüttelt und in den See geschleudert hätte, so überlief ihn ein kalter Schauder, als er jetzt auf dem hohen Stege sich allein sah. Er spie aus ins Wasser hinab und versuchte dann zu lachen, erschauderte aber von Neuem vor seiner eignen Stimme, die ihm auf einmal fremd klang. Dazu immer die quiekende, wahnsinnig lustige Clarinette und die behaglich grunzende Baßgeige – welch eine Welt, in der dies Alles sich so dicht neben einander vertrug! – Nun reckte er sich, auf das Geländer gestützt, über welches das Blut von seiner Hand rieselte, in die Höhe und empfand jetzt erst einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Aber die Füße trugen ihn noch. Fort, nur fort! war Alles, was er denken konnte. Sein Entschluß von vornhin, ehe der Mordgeselle ihn antrat, stand wieder klar vor seiner Seele: nach Starnberg zu eilen, von da nach der Stadt zurück, von der Stadt bis ans Ende der Welt – nur fort, ohne umzublicken – gleichviel, was hinter ihm zurückblieb.
Er that einige rasche Schritte von dem Brückensteg weg der Straße zu. Aber noch war er nicht aus dem Bereich der Häuser gekommen, als ihn plötzlich die Besinnung verließ, die Kniee unter ihm einsanken und er bewußtlos der Länge lang auf den feuchten Kiesgrund hinstürzte. –
Kurze Zeit darauf öffnete sich die Hausthür, und Schnetz trat ins Freie, hinter ihm Kohle mit einem großen Regenschirm. Die alte Gräfin hatte sie gebeten, nachzusehen, ob die Heimfahrt ohne Gefahr unternommen werden könne. Auch lag ihnen selbst daran, aus dem erstickend schwülen Hochzeitstumult so bald wie möglich zu entkommen, während die Anderen, die vom Tanzfieber angesteckt waren, nicht zu merken schienen, wie die Stunden vergingen.
Schnetz warf nur einen einzigen Blick gegen das Firmament und sagte dann mit der Sicherheit eines alten Soldaten, der eine feindliche Gegend recognoscirt: Alles in Ordnung. Es kann zum Aufbruch geblasen werden. Wir müssen nur erst nach den Kähnen sehen. Wo aber der Baron ein Ende genommen hat? Haben Sie bemerkt, Kohle, er hatte während der ganzen Fahrt einen Humor, wie eine Katze beim Donnerwetter, so ruhig er sich anstellte. Nom d'un nom! ich wollte –
Das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Denn eben erblickte er Den, von dem er sprach, leblos ausgestreckt auf der nassen Erde. Erschrocken bückte er sich zu ihm hinab und rief ihn bei Namen. Als kein Laut antwortete, nur die Blutlache um ihn her verrieth, was vorgegangen, faßte er sich schnell und erwog kaltblütig die Lage.
In diesem Nest ist keine ärztliche Hülfe aufzutreiben, sagte er. Wir müssen ihn nach der Villa des Dicken hinüberschaffen und sofort den Starnberger Doctor citiren, der zum Glück ein geschickter Mann sein soll. Was schlottern Sie denn so erbärmlich, Kohle? Es wird ja nicht gleich ans Leben gehn. In Afrika hab' ich ganz andere Späße glimpflich ablaufen sehen. Nehmen Sie sich zusammen, und vor Allem: machen Sie keinen Lärm. Kein Mensch darf davon wissen, bis wir glücklich in unserm Kahn eingeschifft sind. Wir müssen Rossel's Boot nehmen, für uns Drei allein, damit er ausgestreckt liegen kann; wie die Andern nach Hause kommen, ist ihre Sache. Die jungen Herren werden sich schon zu helfen wissen.
Er riß ein Blatt aus seinem Taschenbuch und schrieb eine Zeile darauf. So, das geben Sie an die Kellnerin, die rothe Zenz. Die scheint mir eine resolute Person, die nicht gleich den Kopf verliert. Erst wenn wir eingeschifft sind, soll sie den Zettel an die junge Baronesse geben, die Einzige, gegen die ich hier Verpflichtungen habe. Eilen Sie, Kohle, eilen Sie! Ich mache indeß im Kahn ein Lager zurecht.
Nach fünf Minuten kam Philipp Emanuel eilig zurückgelaufen, die Zenz hinter ihm drein. Sie sprach keine Silbe, da Kohle ihr das tiefste Stillschweigen eingeschärft hatte, aber sie war kreideweiß im Gesicht; wie sie den Verwundeten sah, fiel sie in die Kniee neben ihm und stöhnte laut auf.
Still! herrschte der Oberlieutnant. Zum Winseln ist keine Zeit. Hast du einen Streifen Leinwand, Mädchen? Wir müssen einen Nothverband machen.
Sie riß ihre weiße Schürze ab und das Tuch von ihrem Halse, immer noch auf den Knieen. Erst als Schnetz die Schulter und die aufgeschlitzte Hand in der Eile verbunden hatte und den Regungslosen behutsam mit Kohle's Hülfe nach dem Kahn trug, erst da richtete sie sich vom Boden auf und folgte den Männern an das Ufer.
Ich fahre mit! sagte sie leise, aber sehr bestimmt. Ich muß mitfahren. Den Zettel hab' ich an die andere Kellnerin gegeben, die wird ihn schon richtig besorgen. Lassen Sie mich um des Heilands willen mitfahren! Wer soll ihn denn pflegen?
Narrheiten! brummte Schnetz. Unterwegs braucht er nichts, und drüben ist Hülfe genug. Was fällt dir ein, Mädel? Du kannst doch nicht so mir nichts dir nichts hier aus dem Dienst weglaufen?
Wer soll mich hindern? sagte sie und lachte trotzig mitten in aller Angst und Noth. Mich hält Niemand. Ich sage Ihnen, ich fahre mit, und wär's nur, daß ich seinen Kopf unterwegs in meinem Schooß halten kann, damit er weicher liegt. Wenn Sie mich nicht mitnehmen – da ist noch ein alter Einbaum – ich fahr' Ihnen nach, so wahr ich Zenz heiß'. Ich muß hören, was der Doctor sagt und – ob er leben bleibt! –
Nun so fahr mit in Dreiteufels Namen, Hexe! Nur nicht geschrieen und geflennt; hinein in den Kahn, Kohle, – so! – heben Sie ihn gut – und du setz dich da in die Mitte, Mädel. Es kann allerdings nichts schaden, wenn er etwas Weicheres unterm Kopf hat, als das Bündel Stricke. – –
Noch einige Minuten, und der schlanke Kahn stieß mit kräftigem Ruck vom Lande ab, Schnetz führte die Ruder, Kohle saß wieder am Steuer, aber statt der lustigen Gesellschaft, die vor wenigen Stunden diese Bänke gefüllt und sich an Gesang und Flötenspiel ergötzt hatte, lag jetzt ein stiller, bleicher Fahrgast mit geschlossenen Augen auf dem Boden des Schiffchens, und an seinem Kopfende kauerte das blasse Mädchen und trocknete mit seinen langen rothen Zöpfen stillschweigend von Zeit zu Zeit die schweren Blutstropfen, die unter dem Verbände vorquollen. Sie hatte das Gesicht tief auf die Brust gesenkt. Die Andern sollten nicht sehen, daß ihr beständig die hellen Tropfen über die Backen liefen.