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Neuntes Kapitel.

Die Verse, deren leiser, fast schüchterner Vortrag zu dem Schwung ihrer Rhythmen in seltsamem Widerspruch stand, machten einen tiefen Eindruck auf den fröhlichen Kreis, der noch eine Weile schweigend fortdauerte. Gerade in dieser Pause hörte man von einer Thurmuhr Mitternacht schlagen, und erst als der zwölfte Schlag verhallt war, schienen die feierlich gebannten Geister aus ihrer Bezauberung wieder aufzuwachen. Rossel erhob sich, ging auf Kohle zu und umarmte ihn, wobei er ihn zum ersten Male »Du« nannte. Er versicherte, Vater Hölderlin blicke aus seligen Höhen auf seinen lieben Sohn herab, an dem er Wohlgefallen habe. Auch die Anderen regten sich und äußerten jeder auf seine Art ihren Dank gegen den höchst verlegenen Poeten, auf dessen Gesundheit der Einzige, der ihn hätte beneiden können, der dichtende Rosenbusch, unter lebhafter Zustimmung das letzte Glas der Bowle zu trinken vorschlug.

Schnetz warf die Frage auf, ob ein zureichender Grund dafür vorhanden sei, daß dieses Glas das letzte sein und bleiben müsse. Aber Angelica, obwohl sie betheuerte, sie wolle Niemand Zwang anthun, bestand für ihre Person auf dem Aufbruch, und da auch die Männer fühlten, daß die Stimmung des Abends auf ihre Höhe gelangt sei, wurde beschlossen, dem treuen Fridolin das Löschen der Lichter zu übertragen und gemeinsam den Heimweg anzutreten.

Jansen führte seine Geliebte, Rosenbusch hatte Angelica den Arm geboten; hinter ihnen ging Elfinger mit Kohle, den er um eine Abschrift seines Gedichtes bat, wofür er ihm einige Winke über die Kunst des Vortrags zu geben versprach. Den alten Schöpf, der auf der überfrorenen Straße unsicher von der Stelle kam, hatten Schnetz und Rossel unter die Arme gefaßt, um ihn vor dem Fallen zu behüten.

Der Letzte war Felix. Man hatte seine Stimme schon eine ganze Weile nicht mehr gehört; so bemerkte es Niemand, als er ohne Gute Nacht zu sagen eine Seitenstraße einschlug und seine eigenen Wege ging.

Er stürmte, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, so hastig durch die rauhe Nacht, als würde er noch irgendwo mit Ungeduld erwartet. Seine kaum geheilten Wunden an Schulter und Hand schmerzten ihn, das feurige Getränk hatte nach der langen Krankendiät sein Blut entzündet, und hinter seiner Stirn pochten fried- und freudlose Gedanken. Eh' er sich's versah, war er auf den Platz vor dem Hôtel gelangt, wo Irene wohnte. Schnetz hatte scheinbar absichtslos ein Wort darüber fallen lassen, daß sie wegen der musikalischen Abende andere Zimmer bezogen habe. Wo hatte er nun ihre Fenster zu suchen? In Gasthöfen werden keine Weihnachtsbäume angezündet; auch war ja Mitternacht vorüber, und nur in wenigen Zimmern brannte noch Licht.

Seine Augen hefteten sich unwillkürlich auf ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock. Der dunkle Schatten einer weiblichen Gestalt wurde dort einen Augenblick sichtbar, er konnte aber nicht unterscheiden, ob sie es war, die durch die leichtüberfrorenen Scheiben in die Christnacht hinausspähte. Dann zog sich die Gestalt wieder zurück; er aber blieb.

Er stand an einen Laternenpfahl gelehnt, jetzt unempfindlich gegen die schaurige Nebelluft und den Schmerz seiner Wunden. Ihm war zu Muth, als stände er schon drüben am Ufer der neuen Welt, und zwischen ihm und jenem hellen Fenster breite sich das Weltmeer. Niemals hatte er klarer gefühlt, daß er ohne dieses Mädchen nicht glücklich werden könne, und doch war er nie entfernter gewesen von jeder Hoffnung. Er sagte sich aber zugleich, daß er, so lange er noch in der Stadt verweile, an diese Stelle nicht zurückkehren dürfe, wenn sein mühsam gefesteter Muth nicht wieder zerbröckeln, sein Entschluß von Neuem erschüttert werden solle. Er wollte ein für alle Mal vergessen, daß es hier ein helles Fenster gab; das gelobte er sich, mit voller Erkenntniß, wie schwer dies Gelübde zu halten sein würde.

Da erlosch oben das Licht. Es durchzuckte ihn unheimlich, wie wenn er damit die Bestätigung erhalten hätte, daß nun Alles für immer zu Ende sei. Dann raffte er sich auf und schlug langsam den Weg nach seiner Wohnung ein.

Trotz der späten Nachtstunde waren die Straßen noch belebt. Die Christmette, die von zwölf bis ein Uhr dauert, hielt noch viele fromme oder neugierige Menschen auf den Beinen. Felix war nicht lange gegangen, als er zwei Pärchen einholte, die noch weniger Eile zu haben schienen als er. Voran ging ein großes, kräftiges Frauenzimmer, am Arm eines jungen Mannes, der ihr sehr ergötzliche Geschichten zu erzählen schien, denn sie lachte beständig mit einer rauhen, tiefen Stimme und drehte alle Augenblick den Kopf, dessen dickes, schwarzes Haar nur lose mit einem rothen Tuch umwunden war, zu dem zweiten Paar herum, gleichsam sich wundernd, daß die Andern nicht mitlachten. Diese gingen nicht Arm in Arm; der Mann aber hielt sich dicht neben dem Mädchen und sprach unaufhörlich mit halber Stimme in sie hinein, die mit gesenktem Kopf neben ihm hinschritt, als ob sie nicht zu ihm gehöre und auf seine Worte nicht Acht gebe.

Der Schein einer Laterne fiel jetzt auf die Gruppe und beleuchtete grell ein Hütchen mit schwarzer Feder, das auf einem rothblonden Chignon saß.

Zenz! rief Felix überrascht aus.

Das Mädchen stand plötzlich still und sah sich um.

Sind Sie es wirklich? rief er und trat hastig heran. Wo haben Sie denn so lange gesteckt? Aber ich sehe, Sie sind in Gesellschaft. Ich will Sie nicht aufhalten.

Sie stand noch immer, ohne sich zu rühren oder ein Wort zu erwiedern. Aber ihr Begleiter, ein keck und verlebt aussehender junger Mensch, der etwa ein Handlungsdiener sein mochte, nahm statt ihrer das Wort und erklärte, er verbitte sich's, daß ein Anderer mit seinem Mädchen hier auf der Straße anbinde in seiner Gegenwart und ohne sich ihm vorzustellen.

Damit bot er der Zenz seinen Arm, sie den Anderen nachzuführen, die jetzt erst aufmerksam geworden waren und nach den Zurückgebliebenen sich umsahen.

Sie haben sich hier nichts zu verbitten, guter Freund, versetzte Felix mit aller Ruhe. Wenn Fräulein Zenz nichts dagegen hat, hier bei mir stehen zu bleiben, da ich ihr allerlei zu sagen habe, so werden Sie warten, bis wir fertig sind, wenn Sie nicht vorziehen, überhaupt Ihrer Wege zu gehen. Wie ist es, Zenz? Haben Sie fünf Minuten für einen alten Freund übrig?

Das Mädchen schlug jetzt die Augen rasch zu ihm auf und sagte mit einem zaghaften Ton, der ganz fremd aus ihrem Munde klang:

Ist es denn wahr, daß Sie mich noch nicht vergessen haben? – Dann, eh er antworten konnte, wandte sie sich zu dem Andern:

Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen; ich find' nun schon meinen Weg. Gute Nacht!

Holla! rief der junge Mensch, das wär' das Wahre, einen so auf der Straße stehn lassen, weil ein Anderer kommt. Himmelkreuz –!

Er wollte sich eben mit lebhaften Drohungen gegen Felix wenden und rief seinen Gesellen und dessen Begleiterin herbei, ihm zu bezeugen, daß er sich eine solche Behandlung nicht gefallen zu lassen brauche, als das große schwarzhaarige Frauenzimmer Felix erkannte und rasch dem Aufgebrachten ein paar Worte zuflüsterte, die Eindruck auf ihn zu machen schienen. Er stieß noch einige wüthende Reden hervor, dann schlug er plötzlich eine heisere Lache auf, und mit höhnischer Verbeugung gegen die Zenz, der er ein schnödes Schimpfwort zurief, drehte er sich auf dem Absatz um und folgte den beiden Andern, die ihren Weg, als wenn nichts geschehen wäre, fortsetzten.

Ich habe dich da in einer liebenswürdigen Gesellschaft getroffen, sagte Felix, indem er dem zitternden Mädchen näher trat. Ich dachte mir wohl, daß dir nicht wohl dabei sein könnte. Komm, du mußt mir jetzt erzählen, was das für Leute sind, und wie du bisher gelebt hast. Wenn ich recht gesehen, war das große Frauenzimmer die schwarze Therese. Armes Kind, es muß dir schlecht gegangen sein, daß du zu Der wieder deine Zuflucht genommen hast!

Sie hatte sich an seinen Arm gehängt und ließ sich von ihm die Straße hinunterführen. Er sah mit innigem Mitleiden, wie bleich und hager sie geworden, und in wie schlechten Kleidern sie ging. Auch war sie zuerst nicht zum Reden zu bringen, als sei ihr die Brust beklemmt, und dann und wann stand sie einen Augenblick still und holte tief Athem. Aber seine freundlichen Worte schmolzen nach und nach das Eis. Sie erzählte ihm, daß sie ein elendes Leben geführt, vergebens nach Arbeit gesucht und endlich keinen Ausweg gesehen habe, als sich zu ihrer alten Bekanntin zurückzuwenden, die sie auch wieder bei sich aufgenommen habe. Weil sie aber nicht mehr so lustig gewesen sei, wie sonst, habe sie der schwarzen Theres nichts mehr recht machen können und wäre gern wieder von ihr gegangen, hätte sie nur gewußt, wohin. Mit allerlei Herren habe Die sie bekannt machen wollen und sie eine dumme Gans gescholten, als sie nicht darauf eingegangen. Heute Nacht nun sei der Liebhaber der Schwarzen gekommen, die beiden Mädchen in die Christmette abzuholen. In der Kirche aber habe sich ein guter Freund von ihm dazugefunden, und eben jetzt hätten sie in ein Wirthshaus gehen wollen, um noch etwas zu trinken. Es sei ihr gewesen, wie wenn grad der Himmel sich ihr aufthäte, als sie plötzlich Felix' Stimme gehört habe. Nun sei ihr auf einmal ganz leicht ums Herz. Wie er nur so zur rechten Zeit daher gekommen sei, und wie es ihm denn gehe, ob er auch wirklich ganz geheilt sei?

Sie lachte schon wieder bei diesen Fragen mit ihrem glücklichen, leichtherzigen Lachen. Alles Widerwärtige schien auf Einen Schlag vergangen und vergessen.

Zenz, sagte er, du darfst nicht wieder zu diesem schwarzen Teufelsweib zurück. Sie richtet dich doch noch zu Grunde, darüber wirst du nicht mehr im Zweifel sein. Aber was denkst du nun anzufangen? Hast du dir überhaupt Gedanken gemacht, was aus dir werden soll?

Ihr lachendes Gesicht verdunkelte sich wieder.

Freilich! erwiederte sie und nickte vor sich hin. Ich hab' mir überlegt, daß ich's noch bis zum Sommer mit anseh'; wenn es dann nicht anders mit mir wird – ich hab' keine Furcht vorm Wasser. Ich mach' dann noch eine Fahrt auf dem Starnberger See, und wenn ich ganz in der Mitten bin, drück' ich die Augen zu und spring' hinein. Es soll gar nicht weh thun.

Sehen Sie, fuhr sie fort, da er nicht gleich antwortete, glücklich werd' ich doch nicht auf dieser Welt, es werden's ja die Wenigsten, und es ist Alles Bestimmung. Also warum soll ich geduldig zuschauen, wie meine paar jungen Jahre elend hingehen? Ich fehle ja auch keinem Menschen, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin. Und wenn ich mir selbst nichts daraus mach', ob ich lebe oder nicht, wen geht es was an?

Sie hatte bei diesen Worten unwillkürlich seinen Arm losgelassen und stand wieder ein wenig still, um Athem zu schöpfen nach der hastigen Rede.

Er ergriff ihre Hand.

Willst du mir was zu Liebe thun, Zenz? fragte er herzlich. Einen recht großen Gefallen? Willst du mir versprechen, das zu thun, um was ich dich bitte, dahin mitzukommen, wohin ich dich führen will? Du weißt doch, daß ich's gut mit dir meine?

Sie sah ihn fragend an. Dann legte sie auch noch ihre andere Hand in seine. Eine Röthe stieg in ihren Wangen auf wie von einer plötzlichen frohen Hoffnung, die fast der Bestürzung glich.

Machen Sie mit mir, was Sie wollen! sagte sie kaum hörbar. Ich hab' keinen Menschen auf der Welt, als Sie. Bringen Sie mich um, oder machen Sie mich glücklich, mir ist Alles Eins.

So komm! erwiederte er und nahm wieder ihren Arm. Er wußte wohl, was für ein Gedanke in ihr aufgestiegen war, und daß er ihre Hoffnung täuschen mußte. Er ließ sie aber in diesem Wahn, damit sie ihm nur folgte, wohin er sie führen wollte.

Eine Viertelstunde waren sie gegangen, Beide schweigend, durch dunkle, menschenleere Straßen. Endlich stand er an einem Hause still, in dessen oberem Stockwerk noch helle Fenster schimmerten.

Hier! sagte er.

Sie fuhr zusammen. Sind Sie denn ausgezogen? fragte sie, das Haus mit betroffenen Augen betrachtend.

Hier wohnt der Mann, Zenz, zu dem ich dich bringen will, der für dich sorgen wird, besser, als ich selbst könnte, auch wenn ich dich mit mir nehmen wollte in eine neue Welt. Du weißt, wen ich meine, Kind; du hast nicht an ihn gedacht, als du sagtest, du würdest keinem Menschen fehlen, wenn du nicht mehr auf der Welt wärst. Besinnst du dich jetzt auf ihn?

Nein, fuhr er fort, da sie eine Bewegung machte, als ob sie ihm entfliehen wollte, ich lasse dich nicht los; du weißt, was du mir versprochen hast. Der alte Mann da oben – wenn du wüßtest, wie er sich danach sehnt, Alles an dir wieder gut zu machen, was er an deiner armen Mutter versäumt hat, wenn du ihn kenntest, Zenz, wie wir Alle ihn kennen – und nun sitzt er da oben in seiner einsamen Weihnachtsstube – der Oberlieutnant hat mir erzählt, was er Alles zusammengetragen hat, um sein Enkelkind zu beschenken, wenn sie den guten Einfall hätte, sich selbst ihm zu bescheren am heiligen Abend – Zenz, wenn du's nun wirklich übers Herz brächtest, den guten Einfall nachträglich noch zu haben – würde dir da nicht wohler werden, als jetzt im Wirthshaus mit den wüsten Menschen, wo du schlechtes Zeug zu trinken bekämst und noch schlechtere Reden mit anhören müßtest? Und wenn es nichts wäre und du merktest, daß du das Leben bei ihm nicht ertragen könntest, – wäre da nicht immer noch Zeit zu der Fahrt auf dem See, von der du vorhin gesprochen hast?

Dieser letzte Gedanke schien endlich den Ausschlag zu geben.

Sie lachte plötzlich wieder. Da bin ich schön eingegangen! sagte sie. An so was hab' ich freilich nicht gedacht, als ich Ihnen versprach, ich wollt' Alles thun, was Sie von mir verlangten! Aber es war auch dumm von mir; ich hätt' ja wissen können – – Uebrigens ist's wahr, probiren kann ich's einmal, es wird den Kopf nicht gleich kosten, und wenn's nicht geht – hinter Schloß und Riegel wird er mich ja nicht legen, daß ich nicht wieder weg könnte. Nur, daß ich ihn nicht besonders gern haben kann, das müssen Sie ihm gleich sagen. Verstellen kann ich mich nicht.

Felix hatte die Hausglocke gezogen. Eine verschlafene alte Frau, die Vater Schöpf bediente, öffnete die Hausthür. Gute Nacht, Zenz, sagte Felix und drückte dem Mädchen herzhaft die Hand. Was du dem Großpapa sagen willst, sag ihm selbst. Im Uebrigen – ich danke dir, daß du dein Wort hältst, du wirst's nicht zu bereuen haben. Gute Nacht, und grüße mir den alten Herrn und sag ihm, daß ich ihm diese Weihnachtsfreude herzlich gönne. Morgen, ich seh' einmal nach, wie ihr Beiden euch vertragt!


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