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Zweites Kapitel.

Dagegen war ein Reisegefährte draußen zurückgeblieben. Es hatte sich von selbst verstanden, daß Homo den Besuch bei seinem kranken Freunde und Gönner mitmachte, natürlich nicht wie andere seines Geschlechts in ein niedriges Hundeställchen eingeschlossen, sondern, da ihn Jedermann kannte und seines trefflichen Charakters wegen hochschätzte, in Einem Coupé mit seinem Herrn und den Damen. Auf der letzten Station war es ihm in der Enge zu schwül geworden. Er hatte sich ins Freie geflüchtet und den Rest des Weges in großen Sätzen neben dem Bahnzug zurückgelegt. Da er aber der jugendlichen Sprünge nicht mehr gewohnt und der Tag heiß war, schlich er von Starnberg aus mit hängendem Kopf und lechzender Zunge hinterdrein, als sie den Weg zu Rossel's Villa einschlugen. Droben im Krankenzimmer, nachdem er dem wunden Felix gegenüber ein dumpfes, halb zorniges, halb trauriges Geheul ausgestoßen, hatte er sich am Fußende des Bettes niedergelegt und war, als Jansen wieder Abschied nahm, durch nichts zu bewegen gewesen, seinen Ruheplatz zu verlassen. Er stellte sich schlafend, und die Freunde waren schon zu sehr gewohnt, ihn als ein selbständiges, vernunftbegabtes Wesen zu respectiren, um ihm die Ruhe zu mißgönnen.

Auch betrug er sich, nachdem er wieder zu Kräften gekommen war, höchst tactvoll und bescheiden, forderte von Niemand eine besondere Pflege und Rücksicht, da er wohl sah, daß man für ihn wenig Zeit übrig hatte, und nahm mit Allem vorlieb, was hier oben für ihn abfiel. Er wäre unten in der Küche reichlicher versorgt worden, hielt es aber offenbar für gemüthlos, seinen Platz am Krankenbette um einer besseren Mahlzeit willen zu verlassen, und verbrachte die meisten Stunden des Tages neben dem Patienten, da Felix es liebte, mit der matten Hand ihm halb im Traum über den Rücken zu streichen und, wenn er wach war, allerlei trauliche Reden an ihn zu richten.

Dazwischen blickte er mit seinen vom Fieber umflorten Augen in dem Malstübchen umher, betrachtete Kohle's Carton, der langsam fortrückte, nickte seinem stummen Wärter – wer von den drei Freunden nun gerade den Dienst hatte – dankbar und stillzufrieden zu und sank dann bald in seinen Heilschlummer zurück, manchmal einen Namen auf den Lippen, den keiner seiner Pfleger verstand.

Die Besitzerin dieses Namens war seit jenem ersten Mal nicht wieder in dem Garten erschienen. Dagegen kam täglich der Oheim vorbeigeritten, hielt am Gitter, wenn gerade Jemand zu errufen war, oder stieg ab, um, nachdem er sein Pferd angebunden, sich im Hause nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen. Man fand das nicht auffallend, da er ein alter Bekannter des Oberlieutenants war und seine Nichte die verhängnißvolle Wasserfahrt mitgemacht hatte. Nur die Zenz, obwohl sie sonst nicht viel nachzudenken liebte, machte sich über diese große Aufmerksamkeit, die Oheim und Nichte einem Wildfremden bewiesen, ihre eigenen Gedanken, die ihre früheren Vermuthungen bestätigten.

Die Nachrichten aus dem Krankenzimmer waren nicht gerade die erwünschtesten. Die Heilung der Achselwunde ging zwar ohne Störung, aber bei der Unruhe und Heißblütigkeit des Patienten langsam genug von Statten. Als am nächsten Sonntag Jansen mit Rosenbusch und dem Schauspieler wieder hinauskam, war das Fieber freilich gewichen, aber der Besuch bei dem Kranken durfte noch immer nicht länger als zehn Minuten dauern, da der Arzt jedes Gespräch bis zur völligen Vernarbung des Stichs in der Lunge streng verboten hatte. Rosenbusch wurde mit seinem Anerbieten, Schnetz nun abzulösen, da er seine Arbeit glücklich vollendet hatte, zu seinem großen Leidwesen abgewiesen und nur dadurch einigermaßen beschwichtigt, daß Felix ihn bat, im Garten unten ein wenig Flöte zu spielen. Von Elfinger's Anerbieten, ihm vorzulesen, versprach er späterhin Gebrauch zu machen. Er bezeigte aber eine große Freude über die treue Sorge der Freunde und hielt während des ganzen Besuchs die Hand seines Dädalus fest, mit einer Zärtlichkeit, die er sonst vor Anderen nie an den Tag gelegt hatte.

Homo hatte wieder mitreisen sollen, war aber auch jetzt noch nicht dazu zu bewegen.

Am Tage nach diesem zweiten Besuch stand Kohle unten in dem Speisesaal, zu einer Zeit, die er der Tagesordnung gemäß zum Schlafen hätte anwenden sollen, um sich für die Nacht zu stärken. Es ließ ihm aber keine Ruhe, er mußte endlich Hand an das Werk legen, das ihm auf der Seele brannte. Obwohl die Wände noch nicht für Fresco-Malerei präparirt waren, sondern noch die alte steingraue Tünche trugen, hatte er sich doch daran gemacht, die architektonische Umrahmung des Bilder-Cyklus mit Kohlenstrichen gleichsam zur Probe hinzuzeichnen, eine rundbogige Arcadenreihe mit derben romanischen Pfeilern, auf einem Sockel, der durch ein einfach gegliedertes Gesims abgeschlossen war. Es eröffneten sich gerade so viel Bogen, als das Venusmärchen einzelne Scenen enthielt, und die Medaillons in den Stichkappen oben über den Pfeilern sollten die Bilder der Freunde enthalten, die unter diesem Dache sich zusammengefunden hatten. Begonnen wurde diese Porträtgalerie mit dem schönen Kopf von Jansen's Braut, der wohl dazu angethan war, der Frau Venus, wie sie wenigstens aus Kohle's Phantasie entsprungen war, den Rang streitig zu machen, während am Ende der Reihe das runde, gutmüthige Gesicht Angelica's mit ihren lustig flatternden Locken unscheinbar hervorsah. Zenz und die alte Kathi sollten unter dem Klostergesinde verewigt werden.

Er hatte die Grundlinien der Decoration mit kräftiger Hand gezogen und sich von seiner Lust sogar verlocken lasten, in das erste Feld schon die ganze Scene hineinzuzeichnen, da ihm daran lag, den ewig zweifelnden und krittelnden Dicken zu überführen, wie trefflich sich Alles hier im Raum ausnehmen würde. Da unterbrach ihn ein unerwarteter Besuch.

Der geneigte Leser wird sich vielleicht kaum von jenem ersten Abend im Paradiese her einer bescheidenen Figur erinnern, die damals unter den bacchantisch aufgeregten jüngeren Köpfen wenig hervorragte und nicht den geringsten Lärm machte. Aber selbst wenn der alte Mann mit dem stillen Gesicht und den schneeweißen Haaren, dem in der paradiesischen Komödie die Rolle des Gottvaters zugetheilt war, noch unvergessen wäre, so würde die Gestalt doch fremd erscheinen, die jetzt unsichern Schrittes, mit verstörten Zügen, den alten Strohhut wie in der Trunkenheit schief auf dem Kopf, in den kleinen Saal hereinwankte.

Um Gotteswillen, Herr Schöpf, was ist Ihnen begegnet! rief der Maler, die Reißfeder wegwerfend. Sie sehen ja entsetzlich aus! Sagen Sie doch nur –

Der Alte hatte sich auf den nächsten Divan geworfen und keuchte, wie wenn er den Athem aus einem tiefen Brunnen heraufholen müßte.

Sie sind's, Herr Kohle? brachte er endlich mühsam hervor. Ich bitte sehr um Vergebung, daß ich so unangemeldet – aber lassen Sie sich nicht stören – Sie sind bei der Arbeit – ich bitte nochmals um Entschuldigung – aber es giebt Schicksale, wo alle gute Lebensart – Nein, nein, ich trinke nichts! unterbrach er sich, da er sah, daß Kohle nach einer Flasche Xeres griff, die noch vom Frühstück her auf dem Tische stand – nicht einen Tropfen, Herr Kohle – o mein Gott! wer hätte das gedacht!

Und er sank nach einer vergeblichen Anstrengung, sich aufzurichten, wieder auf das Polster zurück und redete nach der Weise alter Leute unverständliche Worte in sich hinein.

Der Maler war aufs Höchste bestürzt. Er hatte den alten Herrn immer als ein wahres Musterbild heiteren Gleichmuths und geistiger Klarheit verehrt und sich in manchen künstlerischen und menschlichen Wirrnissen versucht gefühlt, ihn um Rath zu fragen, den er auch immer mit großer Weisheit und Milde zu spenden pflegte. Nun sah er ihn vor sich sitzen, hülflos und fassungslos, wie einen in den hellen Tag verirrten Nachtvogel, der die Augen zudrückt und sich in sich selbst zu verkriechen sucht.

Endlich aber schien der Alte sich mit einem gewaltsamen Entschluß zu ermannen; er machte die Augen weit aus, versuchte das welke, erloschene Gesicht, das von weißen Bartstruppen umstarrt war, in die alten menschenfreundlichen Falten zu legen und brachte doch nur ein Grinsen zwischen Lachen und Weinen zu Stande.

Lieber Herr Kohle, sagte er, ich werde Ihnen wie ein Verrückter vorkommen, aber wenn Sie Alles wüßten, was mir geschehen ist, würden Sie begreifen, daß ein altes Gehirn dadurch ein bischen aus den Fugen kommen muß. Sie werden es auch noch einmal erfahren, indessen – nehmen Sie mir's nicht übel – Sie sind so viel jünger – es würde mir sauer werden, Ihnen Alles zu erzählen. Thun Sie mir den Gefallen und rufen Sie den Herrn Oberlieutenant, der hat schon mehr erlebt – oder nein, Sie sind hier bei der Arbeit – sagen Sie mir, wo ich Herrn von Schnetz finde. Ich möchte Sie nicht –

In diesem Augenblick trat Der, von dem er sprach, in den Saal, gleichfalls nicht wenig betroffen, als er den Gemüthszustand des alten Freundes wahrnahm. Kohle ließ die Beiden allein. Er hätte es trotz seines Arbeitsfiebers nicht übers Herz gebracht, den erschöpften Mann erst noch in ein anderes Gemach zu führen.

Der Alte schien seine Entfernung gar nicht zu bemerken. Er hatte die Hand, die Schnetz ihm geboten, noch nicht losgelassen, wie wenn er in seiner Verstörung einen Halt nöthig hätte. Sonst war er, bei allem Wohlwollen gegen Jüngere, von ziemlich gemessenen Formen und mit Zeichen des Vertrauens oder der Vertraulichkeit nicht eben freigebig.

Werthester Freund, sagte er, haben Sie Nachsicht mit mir, – und hören Sie mich geduldig an, ohne mich zu unterbrechen. Denn um mir helfen zu können, müssen Sie meine ganze traurige Geschichte wissen, und ich kann sie Ihnen nur erzählen, wenn ich wieder beinah vergesse, daß mir Jemand zuhört. Setzen Sie sich da neben mich. Und nun lassen Sie sich sagen, was seit zwanzig Jahren nicht über meine Lippen gekommen ist: ich bin einmal ein ganz anderer Mensch gewesen, als ich jetzt bin, nicht bloß, weil ich jünger und selbstzufriedener war und noch nicht erfahren hatte, was eigentlich Unglück im Leben ist, sondern ich führte auch einen andern Namen, der Ihnen sogar vielleicht schon einmal zu Ohren gekommen ist. Denn obwohl ich nicht gerade diesem Namen zu absonderlichem Ruhm verhalfen habe: als ein geborner Münchener werden Sie ihn wohl haben nennen hören unter Denen, die in der ersten Zeit des alten Ludwig an seinen vielen Kunstschöpfungen mitgeholfen haben, wenn auch als ein sehr bescheidener junger Handlanger. Nun, der Name thut nichts zur Sache. Auch war ich selbst damals nicht vom Teufel des Ehrgeizes besessen, und auf den Bildern, die ich malte, und den Fresken, die ich ausführen half, finden Sie nicht einmal ein Monogramm von mir. Ich hatte von je her vor dem wahren Genie viel zu großen Respect, um mein bischen Kunstvermögen zu überschätzen. Ich kam mir neben meinem Meister Cornelius wie der Sperling vor, der unterm Flügel des Adlers bis nah an die Sonne geflogen ist und sich's dort königlich wohl sein lasten mag, wenn er nur nicht vergißt, daß er doch nur immer ein unscheinbarer Spatz bleiben wird. Aufs Wohlseinlassen aber war ich stets erpicht, und meinte, wenn ich auch in der bildenden Kunst nur ein mäßiges Talent hätte, in der Lebenskunst könne ich's mit den größten Meistern aufnehmen. Ich hatte eine sanfte, hübsche und gescheidte Frau, ein paar Kinder, die ganz erfreulich heranwuchsen, Geld so viel ich brauchte und Ehre mehr, als ich verdiente. Denn damals waren wir Alle hier in München wie Mitglieder Einer Familie oder wie Soldaten in einem Elite-Corps. Was die Anführer sich an Ruhm erwarben, kam auch uns Gemeinen zu Gute.

Also war das ein Leben, dem nichts zum Glück zu fehlen schien, und ich fing an, das viele Gute, was mir so vom Himmel in den Schooß gefallen war, mir zum Verdienst anzurechnen. Ich bildete mir ein, wenn ich auch kein enormer Mensch oder Künstler sei, so sei ich dafür etwas nicht minder Seltenes, nämlich ein völlig normaler Weltbürger, ein wahres Muster-Exemplar von Bravheit und Trefflichkeit, vom Schicksal recht zur Freude und Nachachtung für die geringeren Sterblichen so ausgesucht begünstigt. Auch meine gute Frau, die Anfangs nicht in den hohen Ton mit einstimmte, brachte ich nach und nach zu dieser Selbstverherrlichung, so daß sie an Mann und Kindern, an ihrer Wirtschaft, ihren Freunden, bis auf ihre Hausthiere herab nichts auszusetzen fand.

Ich will Ihnen nicht etwa die lächerlichen Einzelheiten unseres Glücksstolzes und unserer Selbstgenügsamkeit erzählen. Genug, dies verwegene Gebäude menschlicher Eitelkeit und Ueberhebung bekam eines Tages einen Stoß, der es rettungslos über den Haufen warf. Meine Frau kam, da ich noch Abends spät in der Residenz auf meinem Gerüste saß und malte, wie ein Bild der blassen Verzweiflung zu mir heraufgewankt – sie hatte nicht einmal überlegt, ob wohl Andere in der Nähe und Zeugen unseres Gesprächs sein möchten; der Schrecken über die entsetzliche Entdeckung hatte ihrem hellen Verstande so übel mitgespielt, daß sie nicht abwarten konnte, bis ich nach Hause kam, sondern mir in das öffentliche Gebäude nachlief, um mir mitzutheilen: unsere Tochter – die einzige, die wir hatten, außer einem recht wackeren Sohn – ein Mädchen, an das ich all meinen Vaterstolz verschwendet hatte – daß dieses unser so sehr geliebtes und behütetes Kleinod – Aber dazu muß ich weiter ausholen.

Wir hatten in den letzten Jahren, als meiner Frau eine nicht unbeträchtliche Erbschaft zufiel, angefangen, gegen die Münchener Sitte eine Art Haus zu machen. Als Mustermenschen, wie wir uns dünkten, glaubten wir sogar eine Art Verpflichtung zu haben, unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Es war auch soweit ganz vergnüglich, und noch jetzt kann ich es nicht verdammen, daß wir uns gegen das engherzige ungastliche Herkommen auflehnten und allerlei gute Gesellen unser häusliches Behagen mitgenießen ließen. Aber die Eitelkeit auf unsere Tochter spielte auch hier eine Rolle. Das Mädchen war weder schön, noch auch nur was man so gewöhnlich hübsch nennt; sie hatte meine stumpfen Züge geerbt, die kleinen Augen und den großen Mund. Aber es blitzte etwas aus diesen Augen, was Jedermann auffiel, und wenn der große rothe Mund mit all seinen blanken Zähnen so recht von Herzen lachte, mußte man mit vergnügt werden. Sie besaß ein großes Talent, einen Kreis junger Leute in Bewegung zu bringen, oft bis zur tollsten Ausgelassenheit, die aber bei ihr nie über eine gewisse Grenze ging, so daß ich meiner guten Frau, wenn die manchmal den Kopf schüttelte, in meiner blinden Vergötterung des Kindes zu sagen pflegte: Laß sie machen! Ihre Natur erzieht sie bester, als all unsere Kunst.

Ich wußte, daß Andere anders dachten; ja, ich mußte mich von dem und jenem meiner Freunde feiner oder unverblümter warnen lassen: den Zügel straffer anzuziehen; so ein junges Füllen gehe doch noch einmal durch. Auf solche Winke hatte ich immer dasselbe hochmüthige Lachen und sagte meiner Frau nur davon, um mich über die Philisterhaftigkeit meiner Collegen lustig zu machen.

Die Tochter eines solchen Normalmenschen – die konnte man getrost sich selbst überlassen, wo für alle geringeren Naturen Gefahr gewesen wäre.

Und nun die Entdeckung unserer Schande! Nun der tiefe Fall von der Höhe, zu der wir uns hinaufgeträumt hatten!

Ein Anderer wäre in sich gegangen, hätte sich selbst vor Allen ins Gebet genommen und das, was Trauriges und Verhängnißvolles sich ereignet, als eine verdiente Züchtigung seines albernen Dünkels angesehen. Aber jener Mustermensch war über einer solchen Schwäche erhaben. O mein werther Freund, es ist nicht wahr, was die Philosophie lehrt: das eigentliche Wesen des Menschen könne sich nicht umwandeln, nur sein Betragen gewinne nach und nach eine gewisse Macht der Gewohnheit über den eigensten Charakter des Individuums. Ich hab' es erlebt: von jenem Narren, der damals sein armes Kind in ihrer Schande und Erbarmenswürdigkeit aus dem Hause stieß und ihr verbot, ihm je wieder vors Gesicht zu kommen, – von jenem kindischen und ruchlosen Vater ist keine Faser in mir geblieben, so wenig, daß ich in mir herumwühlen mag, so viel ich will: es ist mir sogar aus all meinen anderen Fehlern und Menschlichkeiten rein unerklärlich und unfaßbar, wie ich mein armes Fleisch und Blut damals habe von mir losreißen und in die weite Welt hinausschleudern können.

Das Kind benahm sich dabei viel hochherziger und tactvoller als seine Eltern. Es erklärte entschieden: da es durch seinen Fehltritt die Liebe von Vater und Mutter, wie es leider erkenne, für immer verscherzt habe, nun auch nichts mehr von ihrer Gnade annehmen zu wollen. Wir hielten das für eine Redensart. Aber bald sollten wir erleben, wie ernsthaft dies Wort gemeint war. Das arme Mädchen verschwand urplötzlich aus unserem Hause und der Stadt, ja wahrscheinlich auch aus dem Lande, da alle Nachforschungen nach ihr erfolglos blieben.

Den Namen ihres Verführers zu nennen hatte sie sich beharrlich geweigert. Wir waren dadurch in die elende Nothwendigkeit oder doch in die Versuchung gebracht, jeden unserer Hausfreunde im Verdacht zu haben, so daß, obwohl der Schein noch eine Weile gewahrt und für das Verschwinden unserer Tochter ein plausibler Vorwand gefunden wurde, die häusliche Geselligkeit doch wie auf Einen Schlag gelähmt war und bald ganz und gar einschlief.

Es fehlte eben Diejenige, die den unscheinbarsten Vergnügungen Leben und Anmuth verliehen hatte.

Aber damit noch nicht genug: unser Sohn sollte uns ebenfalls nicht bleiben. Er studirte Medicin, ein stiller, ordentlicher, dem Anschein nach ganz kaltblütiger Mensch, aber von einem ungeheuer reizbaren Ehrgefühl. Als seine Schwester nicht wiederkam, wurde dies und das darüber geredet. Die leiseste Anspielung, oft eine völlig harmlose Aeußerung, die gar nicht auf unser verstohlenes Unglück zielte, konnte ihn bis zur sinnlosesten Wuth bringen. Ein solcher Anlaß war's, der ein Pistolenduell zwischen ihm und seinem besten Freunde zur Folge hatte. Sie trugen uns unsere letzte Lebensfreude im Blute schwimmend ins Haus.

Und nun war kein Halten mehr. Die Musterwirthschaft hatte gründlich abgewirtschaftet. Es kam heraus, was die Tochter ins Elend und den Sohn in den Tod getrieben hatte. Die Freunde konnten sich gewisser Beileidsmienen nicht enthalten, die meiner Frau das Herz abstießen und mich bewogen, diese Stadt zu verlassen. Ich ging nach Norddeutschland, da begrub ich im nächsten Jahr mein gutes Weib; die Malerei hing ich an den Nagel. Der Kupferstich mit seiner Mühsal schien mir gleichsam eine Buße, all meine Hoffahrt täglich von Neuem unters Joch zu beugen. Meinen Namen, der mir so verunehrt und verleidet war, hatte ich abgelegt, als ich Bayern verließ. Doch versäumte ich nicht, in allen Zeitungen einen Aufruf an das verstoßene Kind zu erlassen, sie möchte sich zu ihrem einsamen Vater zurückbegeben, ihm verzeihen und ihm helfen, das Leben noch zu ertragen.

Niemals, obwohl ich noch jahrelang damit fortfuhr, kam irgend eine Antwort.

Zuletzt war ich vollständig überzeugt, sie sei aus der Welt gegangen, und als das erst in mir feststand, wozu es freilich zehn Jahre und darüber bedurfte, ging eine seltsame Umwandlung mit mir vor. Ich wurde nach all den jämmerlichen Erlebnissen wahrhaftig noch einmal ruhig und still in mir selbst; es kamen Stimmungen, in denen ich Mühe hatte, an die Wirklichkeit meiner eigenen Schicksale zu glauben, den Menschen, dessen Schuld und Thorheit zu so kläglichen Ereignissen mitgewirkt, diesen Menschen in meiner jetzigen Person wiederzufinden. Ich brachte es so weit im Ueberleben meiner selbst, in der Wiedergeburt meines inneren Menschen, daß ich förmlich etwas wie Neugier spürte, die Stadt zu sehen, in der meinem Vorgänger all das Traurige und Beschämende begegnet sein sollte.

Und so kam ich eines Tages richtig wieder nach München, das ich freilich kaum wiedererkannte, da Alles, an dessen Entstehen ich Theil genommen, nun fertig geworden und eine ganz neue Welt daneben aus dem Boden gewachsen war. Mich selbst erkannte die alte Stadt auch nicht wieder. Ich war ein weißköpfiger, stiller, einsamer Mensch geworden, führte einen neuen Namen und lebte als Eremit, der über Tag niemals ausging, höchstens einmal in das Atelier eines der jüngeren Künstler, die seitdem hier angesiedelt waren. Es ist mir begegnet, daß ich in einem Bierhause neben einem guten Bekannten aus meiner Glanzzeit saß, der keine Ahnung hatte, wer der einsilbige alte Mensch war, der an demselben Tische mit ihm aß und trank.

So habe ich es sechs oder sieben Jahre hier ausgehalten, immer mich schon zu den Abgeschiedenen gezählt und bin manchmal vor meinem eigenen Gesicht erschrocken, wenn ich zufällig in einen Spiegel sah. Es ist unglaublich, lieber Freund, wie zäh so ein Lebensfaden gesponnen sein kann. Denn wahrhaftig, bis auf mein Interesse an der Kunst und einigen guten jungen Leuten, die mir Vertrauen und Achtung bezeigten, hatte ich gar nichts mehr, was mich anging. Seitdem nun vollends die Photographie so mächtig in Aufnahme gekommen war, schien mir auch mein Grabstichel ein sehr überflüssiges Ding, höchstens noch brauchbar, um Geschäftsanzeigen, Etiketten auf Weinflaschen und ähnliche Herrlichkeiten zu vervielfältigen.

Ich bin auch immer unthätiger geworden, immer beschaulicher und, wenn Sie wollen, immer weiser. Nur daß ich selbst vor einer Weisheit, die so in einem unnützen Ueberbleibsel von Menschen herumspukt, wenig Respect und manchmal sogar Ekel und Grauen empfand. –

Der Alte hatte die letzten Worte mit so wehmüthiger Stimme gesprochen und den Kopf dabei so tief auf die Brust sinken lassen, daß Schnetz sich des herzlichsten Mitleidens nicht erwehren konnte. Zugleich fragte er sich staunend, wie es nur möglich gewesen war, daß sie Alle mit diesem schwergeprüften Mann jahrelang hatten verkehren können, ohne sich um seine Schicksale zu kümmern.

Er sagte das jetzt gerade heraus, indem er in seiner verbissenen Art auf die schnöden Zustände schimpfte, in denen man hier hinlebe. Ein schönes Paradies! brummte er halb für sich. Da meint man Wunder, was man aneinander hat, und die paar Nebenmenschen, die einem noch der Mühe werth sind, kommen einem nicht näher, als die wilden Thiere unseren Ureltern gekommen sein mögen. Aber freilich, in Ihrem Fall tragen wir nicht die größte Schuld. Warum haben Sie selbst nie Verlangen gefühlt, das Eis zu brechen? Es wäre Ihnen längst heilsam gewesen, wenn Sie Einem von uns sich genähert hätten.

Der Alte erhob wieder den Kopf, hatte aber die Augen noch fest zugedrückt und haschte so blindlings nach Schnetzens Hand, die er lebhaft drückte.

Es ist vielleicht noch nicht zu spät, stammelte er mit bebender Stimme. Sie können mir hoffentlich noch jetzt dazu helfen, im Leben wieder einmal warm zu werden. Denken Sie nur, was eben in dieser letzten Zeit sich mit mir zugetragen hat.

Es mag etwa vierzehn Tage her sein, da wird eines Morgens durch einen Dienstmann ein kleines versiegeltes Päckchen gebracht. Es hatte keine Adresse, aber wie ich die Siegel betrachtete, erschrak ich heftig. Das Petschaft hatte ich einmal meinem armen Kinde geschenkt, einen Carneol, in den ein ägyptischer Scarabäus geschnitten war. Wer ihm das gegeben, fragte ich den Boten. Ein Mädchen, sagte er, das ihm meine Wohnung und mein Aussehen ganz genau beschrieben habe; auch den Namen hatte sie gewußt, meinen jetzigen, von dem ich nicht glaubte, daß er meiner verlorenen Tochter überhaupt bekannt geworden sei. Ich war so außer mir vor Schrecken, Freude und tausend unaussprechlichen Gefühlen, daß ich die Siegel nicht gleich aufbrechen konnte; auch war mir in meiner Verwirrung nur das Eine klar: vor Allem mußte ich Diejenige auffinden, die mir diesen Boten geschickt hatte. Ob er wisse, wo sie zu finden sei? fragte ich. Aber sie hatte ihn auf der Straße aufgegriffen, ihn vorausbezahlt und war dann gleich um die nächste Ecke verschwunden. Und wie er sie nun beschrieb! Zug für Zug meine Verlorene, nur doch nicht sie selbst, denn sie mußte ungefähr eben so alt sein, wie mein Kind, als ich es verstieß, also – das Kind meiner Verlorenen – und nun auch das mir so entrückt, wie seine arme Mutter!

Ich riß endlich die Schnüre von dem Packet, da fiel ein Brief heraus und zwei kleine Bilder, Daguerreotype, wie man sie damals noch auf Silberplatten machte, das eine ein Bild ihrer Mutter, das Einzige, was sie von Hause mitgenommen hatte, das andere ein junger Mann, auf den ich Mühe hatte mich zu besinnen.

Der Brief war schon einige Jahre alt. Nur für den Fall ihres Todes sollte er in meine Hände kommen, das schrieb sie gleich in den ersten Zeilen. Sie war immer ein stolzes Kind gewesen, daran hatten Schuld und Noth und die traurige Zeit nichts geändert. Doch war ein liebevoller, weicher Ton in den Worten, eine Abschiedsstimmung, die das bitterste und verhärteteste Gemüth weicher macht, und daß sie sich anklagte, mich so unvergeßlich gekränkt, so mein Leben zerstört und beraubt zu haben, spaltete mir das Herz mitten durch, wie ich es in ihren einfachen Beichtworten las. Sie habe sich nie überwinden können, zu mir zurückzukehren, zuerst aus Furcht, ich möchte sie zum zweiten Mal verstoßen, dann um mir nicht eine neue Last zu werden. Sie wisse, daß ich einen andern Namen angenommen und ganz in der Stille lebe. Wenn sie da plötzlich käme, mit ihrem Kinde, würde es mir vielleicht nicht bequem sein. Aber wenn sie nicht mehr sei – was wohl bald eintreten werde, da ihre Brust täglich schwächer werde – möchte ich ihr Kind nicht entgelten lassen, was seine Mutter an mir verbrochen. Es sei ein gutes Kind, noch unverdorben, aber von wenig Verstand und viel Leichtsinn. Es brauche eine Vaterhand, um es sicher durch die gefährlichen Jahre zu führen. Umsonst habe sie sich an den Vater ihres Kindes gewandt in den ersten Jahren, nachdem er sie allein gelassen. Als aber keine Antwort kam, habe sie sich zugeschworen, daß er ewig für sie todt sein solle. Den Schwur zu halten, sei ihr nicht schwer geworden. Sie hasse ihn jetzt so sehr, wie sie ihn geliebt habe. Aber um des Kindes willen spreche sie hier zum ersten Mal in achtzehn Jahren seinen Namen wieder aus, damit, wenn er noch lebe, der Vater ihn zur Rechenschaft ziehen und ihm die Sorge für seine verwaiste Tochter ans Herz legen könne. –

Und dann noch ein kurzes Abschiedswort und der Name meines armen Kindes, neben demselben in Klammern der ihres Verführers, der auch auf der Rückseite des Daguerreotyps von seiner eigenen Hand mit einer Widmung an meine Tochter zu lesen war. – –

Geben Sie mir ein Glas Wasser, lieber Freund! Die Zunge klebt wir am Gaumen, als hätte ich allen Staub des Grabes verschluckt. So – ich danke Ihnen – und nun bin ich gleich fertig.

Denn ich werde mich wohl hüten, Ihnen zu schildern, wie ich die Tage seit dem Empfang des Vermächtnisses hingebracht habe. Kam ich mir doch selbst zuweilen wie ein Wahnwitziger vor, da ich rastlos bei Hell und Dunkel durch die Straßen lief, allen jungen Mädchen unter den Hut sah, in die Wohnungen eindrang, wenn ich am Fenster nur den Schein von einem rothen Haare zu sehen geglaubt.

Heiliges Gewitter! unterbrach Schnetz den Alten, indem er plötzlich aufsprang und mit langen Schritten, heftig seinen schwarzen Knebelbart drehend, den Saal durchmaß – rothes Haar, und das sagen Sie erst jetzt? Ist am Ende gar unsere Zenz –

Der Alte nickte seufzend mit dem Kopf. Gestern erst hab' ich's erfahren, oder vielmehr errathen, als ich Herrn Rosenbusch zufällig begegnete und er mir Alles erzählte, was sich hier draußen zugetragen hat. Wie durch eine plötzliche Erleuchtung ging mir's auf: diese rothhaarige Kellnerin und mein Enkelkind, das so wenig Lust gehabt, den alten Großpapa näher kennen zu lernen, der ihre Mutter verstoßen, sind ein' und dieselbe Person. So habe ich den Morgen kaum erwarten können, um hier zu Ihnen herauszukommen und das Einzige, was mir in diesem Leben noch zugehört, an mein Herz zu drücken. Wie ich aber vorhin draußen in den Park eintrete – die Kniee trugen mich kaum vor Aufregung und durch die Zweige von fern das rothe Haar erblicke und das runde Gesicht mit den rothen Lippen und dem Stumpfnäschen – sie stand gerade auf dem Rasenplatz und harkte das gemähte Gras zusammen, und ich trete auf sie zu und rufe: Crescenz, kennst du mich nicht? – da, statt in meine ausgebreiteten Arme zu stürzen, wirft sie mit einem Schrei, wie wenn ein wildes Thier auf sie zukäme, den Rechen weg, rennt was sie nur kann durch den Garten, ich ihr nach und jage sie, immer mit den herzbrechendsten guten Worten und Bitten und Beschwörungen, um den Rasen herum, bis sie ihren Vortheil ersieht, das Gitterthor aufstößt und auf die Landstraße hinaus vor mir herflieht.

Ich bin trotz meiner Sechzig noch kein krüppelhafter Invalide, lieber Freund, und in allem Jammer und Weh überkam mich der Zorn über dieses elende und lächerliche Nachrennen hinter einem einfältigen Kinde, das nicht begreifen wollte, wie gut ich es mit ihm vorhalte, und so bot ich meine letzten Kräfte auf, um sie einzuholen. Aber als ob der Tod in Person ihr auf den Fersen wäre, so taub und blind saus'te das thörichte Ding vor mir her, – ich glaube, sie wäre der Lokomotive, die uns entgegenkam, lieber in die Räder gerannt, als sich von mir fangen zu lassen. Da erschrak ich plötzlich vor diesem unbezwinglichen Schauder und Abscheu in einer so jungen Seele, und stand still und rief ihr zu, sie möchte nur ohne Sorge sein, ich gäbe das Spiel verloren, und dann, wie ich sie rechts in den dicken Wald hineinflüchten sah, machte ich Kehrt und schleppte mich nach der Villa zurück. Nun erst fühlte ich, wie zerbrochen all meine Glieder waren, und was für eine klägliche Figur ich hier bei Ihnen spielen würde. Sie sind freilich alt genug, Herr von Schnetz, um sich über nichts mehr zu wundern, was Menschen an traurigen und verrückten Schicksalen zustößt. Ihnen hab' ich das Alles sagen können – nun bin ich zu Ende, mit meiner Thorheit wie mit meiner Weisheit. Denn nach dem, was ich eben erlebt, kann ich kaum hoffen, daß ich das Vermächtniß meiner armen Tochter noch einmal werde antreten können. Ich bin eine Vogelscheuche geworden; das warme Nest, das ich dem Kinde bieten könnte, kommt ihm unheimlicher vor, als der erste beste Strauch oder Zaun, auf den es sich nur ein paar Nächte lang niederlassen kann, um dann wieder heimathlos herumzuflattern.


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