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Wir müssen zum Morgen dieses Tages zurückkehren, um die Fäden aufzuzeigen, aus denen sich das dunkle Gewebe dieser Ereignisse zusammenwirkte.
Als Julie ihren Freund zweimal vergebens in seinem Atelier aufgesucht hatte, war es ihr unmöglich gewesen, mit ihrem bangen Herzen einsam zu Hause zu bleiben. Sie war zu Irene gegangen, da sie Angelica, die über Nacht kein Auge zugethan, in festem Schlaf gefunden hatte. Das Freifräulein hatte es schon gestern auf den ersten Blick ihr angethan; zumal auch Irene dem Zauber, der über Juliens Wesen lag, so wenig wie alle Anderen widerstehen konnte und sich mit einer Innigkeit an sie anschloß, die bei ihrer sonstigen spröden Zurückhaltung doppelt liebenswürdig erschien. Es hatte nicht lange gedauert, so standen sie Dank der Maskenfreiheit mit einander auf Du und Du, und der erschütternde Auftritt, der Jansen so früh vom Feste wegtrieb, hatte die letzte Schranke der Fremdheit zwischen ihnen niedergerissen. Noch ein paar Stunden waren sie beisammen geblieben. Julie, der Jansen mit einem einzigen Wort das Räthsel der fremden Maske enthüllt, hatte den Freunden, zu denen seit heute auch Irene gehörte, kein Geheimniß daraus gemacht.
Sie selbst, so lebhaft sie in seine Seele hinein das Ereigniß mitempfand, erkannte doch auf der Stelle, um wie Vieles sie dadurch der Entscheidung näher gerückt seien. Nur daß sie den Kampf, der noch durchzukämpfen war, ihm allein überlassen sollte, war ihr eine qualvolle Empfindung. Sie wollte ihm wenigstens nahe bleiben, in jeder Stunde wissen, wie es um ihn stand, und, wenn es Noth thun sollte, ihn von gewaltsamen Schritten zurückhalten. Daß er sich ihr entzog, – obwohl sie wußte, daß er es nur that, um sie zu schonen, – regte sie peinlich auf, und sie glaubte jetzt erst zu wissen, wie sehr sie ihn liebte.
In dieser Stimmung trat sie bei Irene ein, von der sie aufs Zärtlichste empfangen wurde. Felix, der schon in aller Frühe gekommen, war eben wieder gegangen, die Augen und Wangen seiner Liebsten glänzten noch von dem Glück dieses Wiederfindens. Nun hatten sich die beiden neuen Freundinnen so viel zu vertrauen, daß sie nicht merkten, wie die Stunden hingingen, und sehr erstaunten, als der Onkel nach Hause kam, der immer erst zur Tischzeit sich einzufinden pflegte. Irene machte ihn mit Julien bekannt und gab es nicht zu, daß diese zu ihrem Mahl nach Hause ging. Der Baron unterstützte sie in ihrem freundschaftlichen Dringen mit seiner gewohnten chevaleresken Manier; übrigens schien er minder gut aufgelegt, als er sonst einer schönen Dame gegenüber zu sein pflegte. Er blieb auch beim Essen sichtbar gedrückt und zerstreut, schwieg und seufzte viel und klagte über das Alter, das endlich auch den jüngsten Onkeln über den Hals käme. Dazwischen versuchte er wieder zu lachen oder ein alles bonmot zu erzählen, versank aber von Neuem in eine drollige Melancholie, der er in abgerissenen Betrachtungen über das ungewisse Loos der Menschheit und die Räthsel der unverantwortlichen Vorsehung Luft machte.
Als dann nach dem Essen Irene durch einen gleichgültigen Besuch, den sie rasch abzufertigen hoffte, hinausgerufen wurde und der Baron mit Julien allein blieb, kam es wie eine plötzliche Eingebung über ihn. Er sprang auf, fuhr sich durch seine dünnen Haare, zupfte an seinem Bart, nahm eine Cigarre, die er gleich wieder weglegte, und rückte endlich einen Stuhl dicht an Juliens Sessel heran.
Fräulein Julie! sagte er mit einem tiefen Seufzer. Sie werden es seltsam finden, aber ich kann mir nicht anders helfen: wollen Sie mich zehn Minuten lang in einer sehr ernsthaften Angelegenheit anhören und mir dann Ihren Rath und wo möglich Ihren Beistand gewähren?
Sie sah ihn erstaunt an, nickte aber freundlich mit dem Kopfe.
Eine höchst fatale Geschichte! fuhr er fort; eine Geschichte, die übrigens nicht unerhört ist in dieser unserer mangelhaften Welt, und die einem alten Löwenjäger nicht gerade das Herz zu brechen pflegt. Aber das Fatalste dabei ist, daß ich zufällig von Niemand anders mir rathen und helfen lassen kann, als von einer jungen Dame, deren liebenswürdige Bekanntschaft ich erst vor einer Stunde gemacht habe. Sehen Sie, Verehrteste, wenn ich irgend eine verheirathete Frau oder eine respectable ältere Dame wüßte, zu der ich Zutrauen hätte, – wahrhaftig, ich würde Ihnen und mir die Verlegenheit sparen, sich mit meinen alten Jugendsünden zu befassen. Aber in diesem ganzen Kreise – lauter Junggesellen und einzelne Frauenzimmer – Sie begreifen, mein verehrtestes Fräulein –
Sprechen Sie nur dreist, Herr Baron. Ich bin einunddreißig Jahr alt.
Nein, meine Gnädigste, es handelt sich hier nicht um den Taufschein, und obwohl ich den allertiefsten Respect vor Ihnen habe – vom canonischen Alter einer Respectsperson sind Sie noch weit entfernt. Aber ich weiß durch meinen Waffenbruder Schnetz, wie allgemein Sie in der Bohème – verzeihen Sie den Ausdruck; ich meine, in der ganzen sogenannten Paradiesgesellschaft verehrt werden, und daß es nur ein Wort von Ihnen bedarf, um viel verwickeltere Geschichten ins Reine zu bringen, als die meinige. Sie wissen vielleicht noch nicht – das heißt, Sie wissen natürlich schon längst – denn Ihre genialen Freunde pflegen keine Geheimnisse vor einander zu haben – kurz: ich habe eine Tochter, »hab' sie, weil sie mein«, wie Polonius sagt – eine Tochter, von deren Dasein ich bis vor Kurzem keine Ahnung hatte. Ich habe bei der Entdeckung meiner Vaterschaft an meine Brust geschlagen und gewartet, ob die sogenannte Stimme der Natur darin aufwachen würde. Pas le moins du monde. Wie wäre es auch möglich? Das Verhältniß mit der armen Mutter des Kindes, das in meine etwas stürmischen Jahre fällt, vor Algier, hat gleichfalls keine Spur darin zurückgelassen. Sie werden das unmenschlich finden, das Aeußerste von Libertinage, dessen ein Cavalier sich anklagen kann. Aber bedenken Sie, daß ich damals in dieser guten Stadt es nicht schlimmer trieb, als es eben Mode war, und daß dies Abenteuer mir halb und halb entgegenkam – ich will auf das Mädchen so wenig, wie auf ihre Eltern einen Schatten werfen – enfin, man war sehr liebenswürdig gegen mich, und ich bin in der Erwiederung vielleicht zu weit gegangen. Ein paar Jahre nachher fühlte ich so etwas wie einen leisen Biß in meiner linken Seite, wo man sein Gewissen zu tragen pflegt. Als das Nagen nicht nachließ, schrieb ich hieher, mich als Freund des Hauses nach dem Befinden sämmtlicher Familienmitglieder zu erkundigen. Der Brief kam als unbestellbar zurück.
Nun, damit hätte ich mich vom Standpunkt der strengen Moral noch immer nicht vor mir selbst rechtfertigen dürfen. Aber was wollen Sie? Der Umgang mit dem Wüstenkönig hatte mir die Haut etwas abgehärtet, und die erwähnten Bisse hörten bald wieder auf. Schön war jenes Mädchen nicht gerade gewesen, nur im täglichen Verkehr durch ihre Frische, ihr ungebundenes Wesen, ihr tolles Lachen mit einem Mund voll prachtvoller Zähne – Sie kennen dergleichen Complexionen, die etwas eigenthümlich Gefährliches für unser schwaches Geschlecht haben. Kurz – ich hatte sie trotzdem gänzlich aus dem Gedächtniß verloren, bis ich sie heute wiedersah – in ihrer Tochter – pardon, in unsrer Tochter, wollt' ich sagen.
Sie haben das Mädchen aufgesucht? Und wie hat das arme Kind Sie aufgenommen?
So schlecht wie nur jemals ein wiedergefundenes Kind seinen verlorenen Vater aufgenommen hat. Sie begreifen, gnädigstes Fräulein, daß das kein leichter Gang war. Fichtre! man spielt eine ganz miserable Figur, so als reuiger Papa, der bei der ersten Bekanntschaft mit einer erwachsenen Tochter sie um Verzeihung bitten muß, daß er ihr das Leben gegeben und sie dann total vergessen hat. Aber es giebt nun einmal saure Aepfel, in die man lieber beißt, als daß man sich selbst von seinem Gewissen beißen ließe. Ich nahm eine recht väterliche, ehrwürdig-bescheidene Miene an, und wie ich zu dem Mädchen ins Zimmer trat und die selige Mutter wie aus dem Spiegel gestohlen in ihr erkannte, kann ich Ihnen versichern, daß auch die Stimme der Natur sich endlich rührte. Kaum aber hatte ich, mit der nöthigen Delicatesse, mich dem ahnungslosen Kinde vorgestellt, als Denjenigen, der gewisse heilige, leider ein wenig lang vernachlässigte Rechte auf ihre kindliche Liebe hätte, als das wunderliche Geschöpf wie eine kleine Furie aufspringt und in das Nebenzimmer flüchtet. Nun frag' ich Sie, bestes Fräulein: ist ein Vater, der seine Fehler wieder gut machen will, ein Ungeheuer, vor dem man Reißaus nehmen muß? Ich stand wie angedonnert, that, als ich zur Besinnung kam, mein Möglichstes, durch die verriegelte Thür mit meinem Fräulein Tochter zu parlamentiren, gab ihr die allerbesten Worte, versprach ihr das Blaue vom Himmel herunter, wenn sie nur vernünftig mit sich reden lassen wolle, und wahrhaftig, ich hätte es am Ende durchgesetzt – die Stimme der Natur mußte doch auch in ihrem jungen Busen endlich aufwachen – da trat plötzlich der Alte – mein illegitimer Herr Schwiegervater, der nicht zu Hause gewesen war – ins Zimmer, und statt nun mit der Weisheit seiner Großvaterschaft mir zu Hülfe zu kommen – stellen Sie sich vor – dieser weißhaarige Mann wird plötzlich wild und unartig wie ein Jüngling, sagt mir die unglaublichsten Dinge ins Gesicht, und wie ich aus Pietät und Verblüfftheit noch gar nicht weiß, was ich antworten soll, nimmt er mich sans façon beim Arm und – führt mich nach der Thür, die er wie ein Ungewitter hinter mir zufallen läßt. –
Der Eifer, mit dem er dies Alles halblaut herausgesprudelt hatte, schien ihm plötzlich den Athem zu versetzen. Er sprang auf, riß das Fenster auf und that ein paar tiefe Züge der kalten Winterluft; dann kam er langsam, die Hände tief in die Taschen seines kurzen Röckchens vergrabend, zu Julie zurück.
Sie werden zugeben, mein Fräulein, sagte er, daß dieser brutale Empfang wohl dazu angethan wäre, die Stimme der Natur wieder zum Schweigen zu bringen. Dieser alte – aber nein! Er ist im Recht; ich an seiner Stelle würde, wenn sich ein Schwiegersohn zwanzig Jahre darauf besonnen hätte, sein pater peccavi zu stammeln, wahrscheinlich noch weniger Umstände gemacht und den Burschen einfach die Treppe hinuntergeworfen haben, wenn ich ihm nicht gar noch schlimmer mitgespielt hätte. Daß mir aber dies Rencontre in meine alten Glieder gefahren ist, werden Sie begreiflich finden.
Er warf sich wieder auf den Stuhl, seufzte wie ein Verzweifelter und zerzaus'te seine Frisur.
Und wie soll ich Ihnen nun rathen oder helfen, Herr Baron? fragte Julie nach einer Weile. Mir scheint, daß Ihnen nichts Anderes übrig bleibt, als an Herrn Schöpf und an Ihre Tochter zu schreiben und ihnen alles das schriftlich zu sagen, was Beide in der ersten Aufregung nicht haben hören wollen.
Pardon, mein verehrtes Fräulein, damit wäre nicht viel geholfen. Diese beiden rabiaten Menschen würden meine Briefe nicht besser behandeln, als ihren Schreiber. Und doch begreifen Sie, daß ich mich nicht dabei beruhigen kann, von Schwiegerpapa und Tochter an die Luft gesetzt worden zu sein. Ich muß meine alte Schuld wieder gut machen, so weit es noch überhaupt möglich ist. Jetzt, in meinen Jahren und Verhältnissen, plötzlich Vaterfreuden genießen zu wollen, das Mädchen in meine Junggesellenwirthschaft aufzunehmen und als junge Baronesse in die Gesellschaft einzuführen – ich, der ich schon mit Einer großen Tochter meine liebe Noth gehabt und mich von ihr habe erziehen lassen müssen – das wäre der Gipfel des Ridiculs, abgesehen davon, daß ich diese rothmähnige junge Löwin schwerlich je zu zähmen vermöchte. Aber andererseits – Papa Schöpf, wie er sich jetzt nennen läßt, ist nicht der Jüngste mehr und nebenbei kein Krösus. Wenn das Kind bei ihm bleibt, wer weiß, ob es nicht auch in schlechte Hände kommt, wie seine arme Mutter, und falls es tugendhaft bleibt – Sie wissen, verehrte Freundin, Tugend als einzige Mitgift ist heutzutage nicht sehr begehrt. Ich will also auf jeden Fall meiner Tochter – sie mag mich nun anerkennen oder nicht – ein anständiges Heirathsgut sichern, und zwar nicht bloß in einer Dotation, die unter uns bleibt, sondern man muß darum wissen, daß Fräulein Schöpf so und so viel Vermögen besitzt. Sehen Sie, bestes Fräulein, in dies Abkommen zu willigen – bloß im Interesse des guten Kindes – dazu wird Papa Schöpf sich nur von einer so sanften und klugen Stimme, wie die Ihrige, überreden lassen. Wenn ich etwa Schnetz an ihn abschickte – einem Manne gegenüber würde er sich auf seine verrückte Mannesehre steifen, und das Ende vom Liede wäre, daß er auch Dem die Thür wiese. Sie aber – wenn Sie nur wollen – und warum sollten Sie nicht wollen? – am Ende bringen Sie es sogar dahin, daß diese wilde Hummel, mein eigen Fleisch und Blut, ein menschliches Rühren fühlt und ihrem Papa, der wahrhaftig kein Ungeheuer ist – aber still! die Visite nebenan ist zu Ende – vor Irenen kein Wort von alle dem! Versprechen Sie mir das? Darf ich auf Sie rechnen?
Er hielt ihr mit einer so treuherzigen und dabei so komisch zerknirschten Geberde die beiden Hände über den Tisch hin, daß sie sich keinen Augenblick bedachte, einzuschlagen. Im Nu war seine Stimmung völlig wie ausgetauscht. Er sprang auf, beugte sich über ihre Hand, die er lebhaft küßte, fing dann an eine Melodie zu trällern und zündete sich, von dem gestrigen Maskenfest plaudernd, seine Cigarre an, so daß seine Nichte, als sie wieder eintrat, mit Lachen fragte, welches Zaubermittel ihre schöne Freundin inzwischen angewandt habe, um die melancholische Laune ihres theuren Oheims so spurlos zu verscheuchen.
Julie lächelte und versetzte, daß man magische Geheimnisse nicht ausschwatzen dürfe, und der Baron spielte den völlig Unbefangenen. Dann nahmen die Freundinnen Abschied von einander. Es drängte Julien, endlich zu Jansen zu kommen, den sie zu dieser Stunde sicher in seinem Atelier zu treffen hoffte. Auf der Treppe aber, bis wohin der Baron sie begleitete, flüsterte sie ihm zu: Warum wollen Sie Irene nicht in das Geheimniß einweihen? Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist ihr die eine Hälfte bekannt; Sie sind ihr nun die andere schuldig, die Ihnen doch wahrhaftig alle Ehre macht.
Meinen Sie? erwiederte der Baron. Irene hätte eine Ahnung? Mein Gott, diese jungen Mädchen von heutzutage! Man denkt wunder, wie man sie in tiefster Unschuld und Unwissenheit aufzieht – und sie sind klüger als wir selbst. Nun denn in Gottes Namen! Ein saurer Apfel mehr – meine Zähne sind gerade noch stumpf von dem ersten.
Er küßte Julien abermals die Hand und kehrte seufzend zu seiner Nichte zurück.