F. W. Hackländer
Der Augenblick des Glücks – Aus den Memoiren eines fürstlichen Hofes
F. W. Hackländer

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Schon lange hatten die Kanonen draußen geschwiegen, und noch immer nicht kam aus den Gemächern der Herzogin eine offizielle Bestätigung der Geburt des Thronerben. Ältere Staatsdamen und ergraute Kammerherren fingen an, leicht die Köpfe zu schütteln, und prophezeiten den zunächst Stehenden irgend etwas Unvorhergesehenes, etwas Mißliches, das drüben vorgefallen. Und in der That, sie mochten recht haben. Einzelne Neugierige, die sich an der Thür befanden und verstohlen in die angrenzenden Zimmer lauschten, erzählten ebenfalls flüsternd von einem seltsamen Rennen und Laufen der Bedienten, und einer wollte den alten Kindermann gesehen haben, wie er in dem geheimen Korridor verschwunden war, der zu dem Appartement des Regenten führte, aber nicht den ewig lächelnden Kindermann, wie ihn der ganze Hof kannte, sondern Kindermann mit einem ernsten, fast melancholischen Gesichtsausdruck.

So wie heute war die Erwartung des Hofstaates noch nie auf die Folter gespannt worden; man fing in ganz vertrauten Kreisen an, dies sonderbar, ja absurd zu finden; man hatte wenigstens so viel Rücksicht ansprechen zu können geglaubt, um irgend einen Bericht zu erhalten, eine Botschaft von dem, was auf dem anderen Flügel vorgefallen war; man begann die Köpfe zu schütteln, bedeutsam die Schultern in die Höhe zu ziehen, und die Konversation war nahe daran, aus allgemeiner Aufregung wieder vollkommen einzuschlafen, als man bemerkte, wie die Kammerherren du jour an der Hauptthüre des Saales mit einem Male Mienen machten, welche deutlich etwas Außergewöhnliches anzeigten. Sie erhoben ihre Köpfe, rückten verstohlen die weiße Halsbinde in die Höhe und wandten sich mit einer halben Wendung gegen die Thür. Ihr außerordentlich feines Gehör hatte draußen Schritte vernommen. Jetzt legten sie ihre Hände an die nicht ganz geschlossenen Thürflügel, jetzt flogen diese auf, und im zweiten der anstoßenden Säle bemerkte man den Regenten, wie er kam, – endlich, endlich! Zu seiner linken Seite ging die Prinzessin Elise, hinter beiden die Staats- und Hofdamen, dann folgte der erste Adjutant Seiner Hoheit, die obersten Hofchargen, die Minister und ein paar Kammerherren.

Im Empfangssaale vernahm man ringsum das gewisse Räuspern, mit welchem man sich auf etwas ganz Außerordentliches vorbereitet. Die Herren zogen ihre Uniformsfräcke hinab, die Damen warfen einen prüfenden Blick auf ihre Toiletten, und als nun der Regent im Saale erschien, wehte eine einzige Verbeugung, rauschte ein einziger tiefer Knix durch den weiten Saal. Es lag etwas Düsteres im Blicke des Herzogs, welches alle deutlich bemerkten, bei denen er vorüberschritt, um am Ende des Saales ein paar Stufen auf die Estrade zu steigen, wo unter rot samtnem Baldachin ein vergoldeter Sessel stand.

Für die Partei der Prinzessin wäre die düstere Miene des Regenten ein gutes Vorzeichen weiter gewesen, wenn man nicht auf dem Gesichte Ihrer Durchlaucht ebenfalls einen tiefen Ernst bemerkt hätte. Ja, kundige Blicke wollten in den Augen derselben Spuren von Thränen bemerken.

Der Regent führte die Prinzessin an der Hand die Stufen hinauf, und als er sie auf dem Sessel niedersitzen ließ, hörte man ein ganz leises Murmeln der Verwunderung. Er selbst stand aufrecht auf der obersten Stufe, hatte die Hand auf die Rückenlehne des vergoldeten Stuhles gelegt und sprach mit lauter und fester Stimme, nachdem er einen Blick auf die Versammlung geworfen: »Der von uns allen, die wir hier versammelt sind, sowie von dem ganzen Lande längst ersehnte und erwartete Augenblick ist eingetreten. Leider aber ist es kein Augenblick des Glücks gewesen. Der Himmel, der unsere Geschicke lenkt, der uns nach seiner weisen Einsicht Freuden und Leiden gibt, hat es für gut befunden, beides zu gleicher Zeit auf uns herabzusenden. Unsere erhabene Nichte die verwitwete Herzogin dieses Landes genoß nur eine kurze Zeit des Glückes, einen Erben des Thrones in ihre Arme zu schließen. Gott hat es gewollt, daß die Stunde der Geburt des Prinzen zugleich die Stunde seines Todes war.«

Als der Regent so sprach, barg die Prinzessin ihr Gesicht ein paar Augenblicke in beide Hände, und in der Versammlung, welche in der größten Spannung diesen Worten gelauscht, herrschte ein tiefes Schweigen.

Nach einer kleinen Pause fuhr Seine Hoheit fort: »Durch diesen traurigen Fall ward nach der Verfassung des Landes und den Familienstatuten unseres Hauses der Thron erledigt, und die Herzogskrone ging nach denselben Gesetzen auf den nächststehenden männlichen Anverwandten des höchstseligen Herzogs, also auf mich über. – – Weder Ihnen, die unserem Hause bisher in Liebe und Treue zugethan waren, noch den übrigen Unterthanen des Landes bin ich ein Unbekannter, ein Fremder. Meine Art zu handeln und zu wirken, wird die gleiche bleiben, und wie ich jedem ein gnädiger und gerechter Herr sein werde, so erwarte ich auch, daß die Anhänglichkeit, die Liebe und Treue, die man bisher dem Regenten bewiesen, nun auf den regierenden Herzog übertragen werde.«

Es ist unmöglich, die Bewegung zu schildern, welche nach dieser Rede in der Versammlung entstanden, eine Bewegung, die sich weniger durch Worte als durch Mienen und Gebärden kund gab. Wo waren die hochfliegenden Hoffnungen geblieben, mit welchem die Partei der Prinzessin die Geburt eines Thronerben begrüßt hatte! Mit dem Tode des kleinen Prinzen hörte diese Partei auf zu sein; sie hatte nichts mehr zu hoffen, vielleicht alles zu fürchten. Ein tiefes Schweigen herrschte auf dieser Seite des Saales, und die Blicke, mit denen man sich ansah, sprachen beredter als tausend Ausrufungen. Auch die Anhänger des Regenten, obgleich sie stolz und freudig um sich blickten, waren doch von dem eben Gehörten, von ihrem Glück so überrascht und berauscht, daß kein lauter Ausruf über ihre Lippen kam: man lächelte einander nur verstohlen zu, man drückte sich im geheimen die Hände. Und dann schaute wieder alles erwartungsvoll zum Herzog empor, der sich einen Augenblick zur Prinzessin niedergebeugt und ihre rechte Hand ergriffen hatte, die er langsam an seine Lippen drückte. Darauf richtete er sich wieder empor und ein leises, kaum bemerkliches Lächeln flog über seine Züge, als er abermals die fast atemlos dastehende Versammlung überblickte. – »In diesem für mich so feierlichen Moment,« sprach er, »wo mir der Himmel so viel gegeben, kann ich nicht umhin, Sie, meine Lieben und Getreuen, von einem größeren Glücke zu benachrichtigen, das mir zu teil geworden. – Unsere durchlauchtige Nichte, die Prinzessin Elise, hat eingewilligt, mir ihre Hand zu reichen, und indem ich diese teure Hand hiermit ergreife, nenne ich die Prinzessin öffentlich meine Braut und empfehle meine zukünftige Gemahlin gleich mir nochmals Ihrer Treue und Liebe.«

Dies war nun ein Augenblick des Glücks, ungefähr jenem vergleichbar, wenn die feindlichen Brüder von Messina endlich einander in den Armen liegen und die beiden getrennten Chöre, hingerissen von diesem frohen Ereignis, aufeinander zustürzen, sich die Hände reichen, und mit leuchtenden Blicken und innigen Worten geloben, daß fernerhin alle Feindschaft aufhören werde, kein Groll, kein Haß mehr bestehen soll. Man schien absichtlich seine eifrigsten Widersacher aufzusuchen, man reichte seine Hände den bis zu dieser Stunde erbittertsten Gegnern. Es kamen unglaubliche Umarmungen vor, man sah mehr als ein Paar feindlicher Brüder sich die liebenswürdigsten Dinge sagen, ja man sah Thränen in Augen und Lächeln auf Lippen, wo diese beiden Artikel seit langen Jahren ganz außer Kurs gekommen waren. Aber all die Ausrufungen, das Entzücken, die frohen Begrüßungen, das freudige Lachen, welche eine Partei für die andere hatte, vereinigten sich im nächsten Augenblicke gegen das glückliche Paar auf der Estrade, und als nun ein alter General, dem Moment erfassend, ein Hoch auf den Herzog und die Herzogin ausbrachte, einigte sich alles in diesem Spruch, und die Wände des Saals hallten wider von den stürmischen Rufen, die draußen auf dem Platze und in den Straßen ein gewaltiges Echo fanden.

Der größte Teil der Bevölkerung war, angezogen durch die Kanonenschüsse, auf den Platz vor dem Schlosse geeilt; wie ein Lauffeuer hatte sich nicht nur die Nachricht von der Geburt des armen kleinen Prinzen, sondern auch von dessen Tode unter der Menge verbreitet, – ein Tod, der nun den allgemein verehrten Regenten zum Herzog machte. Tausende von Stimmen verlangten ihn zu sehen, und als er, diesem donnernden Wunsche folgend, hinaustrat auf den großen Balkon des Schlosses, zerriß ein unendlicher Jubelruf die Luft, in welchen sich der Kanonendonner und das Läuten der Glocken mischte.

Daß Freude und Leid in diesem Leben sich so oft berühren! – Die Thränen der verwitweten Herzogin flossen auf die kalte bleiche Stirn ihres neugeborenen Kindes, das nach wenigen Atemzügen und nach einem einzigen schmerzlichen Blick schon die Erde und seine Mutter verließ. Wohl hörte diese Kanonendonner und Glockengeläute; doch erregte es in ihr kein verbittertes Gefühl, im Gegenteil freute sie sich des Glückes ihrer Schwester. Sie ließ sich ein Blatt Papier reichen und schrieb darauf mit zitternder Hand: »Meine heißesten und innigsten Wünsche für das Wohl des Herzogs und das Glück meiner geliebten Schwester.«

Ihr Kammerherr überbrachte diese Zeilen, und es war die rührendste Huldigung, welche die beiden Glücklichen am heutigen Tage erhielten.

Die Angehörigen des Hofes, nachdem sie mit vollkommen angepaßten Mienen gratuliert, kondoliert und wieder gratuliert, hatten das Schloß verlassen, und der Herzog befand sich mit der Prinzessin in deren Salon und in Gesellschaft des Fräuleins von Ripperda, welche Ihre Durchlaucht jetzt herzlich in die Arme schloß, den Kopf auf deren Schulter legte und nun im Übermaße des Glücks laut weinte.


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