F. W. Hackländer
Der Augenblick des Glücks – Aus den Memoiren eines fürstlichen Hofes
F. W. Hackländer

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»Nein,« sagte die alte Weiher zu dem jungen Manne, »Streit müssen Sie wegen so etwas mit meiner Tochter nicht anfangen, das ist ja komplett lächerlich; sie hängt so sehr an Ihnen, daß es eigentlich zu arg ist. Das wissen Sie auch.«

»Nein, das weiß er nicht oder er will es nicht wissen,« fiel Rosa ein.

»Streit anfangen ist nicht gut,« fuhr die Mutter fort, »gerade dadurch kommt man auf andere Gedanken. Wenn es wirklich wahr wäre, daß Rosa hie und da zum Fenster hinausschaute, und daß sie dabei zufällig jemand sehe – wäre denn das so eine schlimme Geschichte?«

»Nein, das wäre in der That keine so schlimme Geschichte,« erwiderte traurig der junge Mann, dem die sehr richtige Idee kam, es wäre klüger gewesen, die Sache mit Rosa allein zu verhandeln. »Nur jetzt hätte ich es sollen bleiben lassen,« sprach er zu sich selber, »begreiflicherweise hilft die Mutter ihrer Tochter und läßt nun Äußerungen fallen, die diese nur bestärken müssen!« – O er fühlte sich recht unglücklich!

Unterdessen war es Mittag geworden, die Kirchturmuhren thaten ihre zwölf Schläge, und gleich darauf hörte man entfernt die Militärmusik, mit welcher die Wachtparade aufzog. Sie spielte einen lustigen Marsch, und da sie näher und näher kam, so hörte man mit jedem Augenblick die heiteren Klänge deutlicher und immer deutlicher. Nicht ohne Absicht und mit einem bitteren Blick auf Herrn Böhler warf das junge Mädchen heftig ihre Arbeit auf den Tisch, strich sich ihr Haar zurecht, und trat – ans Fenster. Ja, sie trat ans Fenster, und es war ihm gerade, als fasse irgend etwas sein Herz und drücke es ohne Erbarmen zusammen. Sie trat ans Fenster, und in demselben Augenblick erschien auch das Gegenüber an dem seinigen, natürlich nur in der gleichen Absicht wie Rosa, um die Militärmusik besser hören zu können. Schon wollte sich der junge Mann entfernen, als ihm einfiel, noch einen Versuch zu machen, der ihm zu einer Überzeugung verhelfen sollte. Er näherte sich Rosa: »Laß es gut sein, schreibe es meiner innigen Liebe zu, wenn ich ein bißchen sonderbar gewesen bin,« dabei legte er sanft seine Hand um ihre Schulter. Das hatte sie früher oft und gern gelitten, ja sie hatte in solchen lieben Augenblicken ihren Kopf so auf die Seite geneigt, daß ihre Wange seine Hand berührte. – Heute aber trat sie bei der ersten Bewegung dazu von ihm weg, und nachdem sie rasch einen verlegenen Blick auf ihr Gegenüber geworfen, sagte sie: »Laß! – am offenen Fenster!«

»So! – am offenen Fenster!« wiederholte er zurückweichend mit leiser Stimme mehrmals und häufiger, als er es vielleicht selbst wußte, so daß die alte Weiher von ihrem Kochofen her darauf erwiderte:

»Ja, Rosa hat recht. Man muß sich am offenen Fenster doch ein bißchen genieren. Es ist von wegen der Nachbarschaft.«

»Richtig von wegen der Nachbarschaft,« bestätigte der unglückliche Photograph und ging dabei ohne umzublicken zur Thür hinaus. Auf der Treppe sprach er zu sich selber, mit jeder Stufe abwechselnd: – »am offenen Fenster!« und »von wegen der Nachbarschaft!« Als er jedes sechsmal wiederholt, hatte er seine Stubenthür erreicht.

Rosa war noch einen Augenblick am Fenster stehen geblieben, doch hatte sie mehr ins Zimmer hineingehorcht, als nach dem Fenster gegenüber geblickt, so sehr sich auch das Gegenüber Mühe gab, die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens auf sich zu ziehen. Sie hörte, wie Heinrich ganz still die Thür schloß, sie hörte, wie er langsam die Treppe hinauf ging, wie er oben in seinem Zimmer ankam, und dann war es ihr gerade, als vernähme sie durch die dünne Decke einen Schrei des Schmerzes. Vielleicht konnte sie sich auch getäuscht haben, und der Schrei tönte aus ihrem eigenen Herzen herauf. Aber etwas tief Schmerzliches war dabei, das fühlte sie an ihrer heftig klopfenden Brust, das fühlte sie an ihren bebenden Lippen, das fühlte sie an ihren zuckenden Augenlidern, an den heißen Thränen, die in schweren Tropfen über ihre Wangen herabrollten.

Aber sie hatte ja eine Mutter, um sie zu trösten, und das that Frau Witwe Weiher auch, nachdem sie ihre Suppe vom Feuer gesetzt und den Rührlöffel weggelegt. »Was sind das für Sachen,« meinte diese. »So wirst du dich nicht behandeln lassen, hoff' ich. Glaubt der Herr Böhler, bei ihm allein wäre Heil und Glück dieser Welt? Ein Mädchen wie du kann sich umschauen nach einer Partie und braucht nicht auf einen Photographen zu warten, der nichts zu thun hat. Sei ruhig, Rosa, es ist noch nicht aller Tage Abend, und es hat gar nichts auf sich, wenn du dich hie und da und sogar häufig am Fenster sehen lässest. Das Glück kann dort ebensogut hereinkommen wie zur Thür, und ich weiß wahrhaftig nicht, ob es nicht für dich ein Glück zu nennen wäre, wenn der da oben von dir abließe. Warum soll auch unsereins nicht das Recht haben, höher hinaus zu wollen?« fuhr sie fort, als Rosa keine Antwort gab, sondern sich ruhig an ihr Tischchen setzte, jetzt vom Fenster abgewendet. »Da drüben, der Herr Baron von Wenden ist ein junger Mann, unverheiratet, reich, und es wäre doch wahrhaftig nicht das erste Mal, daß ein armes, aber so schönes Mädchen wie du eine gnädige Frau geworden.«

Kurze Zeit darauf speisten beide Familien ihr bescheidenes Mittagsbrot, und bei beiden gab es traurige Gesichter. Während unten Frau Witwe Weiher in ihren Versuchen fortfuhr, die Tochter für ihre Ansichten zu gewinnen, bemühte sich oben Herr Krimpf, seinen Compagnon aufzuheitern, doch wollte dies beiden nicht gelingen. Das junge Mädchen war tief betrübt, ohne selbst genau zu wissen warum. Der Photograph aber, in tiefe Gedanken versunken, dachte an offene Fenster und an genierende Nachbarschaften. Nur einmal änderte sich der Gang seiner Ideen, als er nämlich hörte, wie die Militärmusik wieder von dannen zog. Da ging ihm die Erzählung der Mutter wieder durch den Sinn, er dachte an seine vortreffliche und energische Großmama, und in ihm erklang immer und immer fort der Refrain jenes französischen Liedes: Chantons, buvons, traleralera.

Zehntes Kapitel.

Ein Diner und zwei Freunde.

Der Zimmerarrest des Kammerherrn von Wenden hatte schon ein paar Tage gedauert. Eigentlich war es kein Arrest zu nennen, wenigstens konnte er von der Welt nicht so genannt werden, denn Seine Hoheit der Regent, taktvoll wie immer, hatte am Tag nach jenem denkwürdigen Abend bei der Tafel sehr laut und deutlich gesagt: »Wie ich höre, ist Baron Wenden erkrankt. Doch hat mir der Leibarzt gesagt, das Unwohlsein sei nicht von Bedeutung und ein paar Tage sorgfältiger Pflege und Ruhe könnten da schon viel ausrichten.« Diesem Ausspruche gemäß war also der arme Wenden leidend, und keiner vom ganzen Hofe hätte den Mut gehabt, über die Angelegenheit in einer anderen Richtung zu sprechen. Ebenfalls nach diesem Ausspruch Seiner Hoheit fuhr der Leibarzt pünktlich gegen zehn Uhr am Hause des Baron Wenden vor, trat zu ihm ins Zimmer, fühlte seinen Puls, verschrieb ihm eine Limonade oder Brausepulver und ging lächelnd wieder fort, nicht ohne einen leise gemurmelten Segenswunsch des vermeintlichen Kranken, der aber ungefähr lautete, als wenn ein gesunder Mensch sagt: »Hol' euch alle miteinander der Teufel!«

Daß täglich zwischen zwei und drei Uhr einer der Lakaien vom Dienste sich bei dem Bedienten des Kammerherrn einfand, um sich im allerhöchsten Auftrage nach dessen Befinden zu erkundigen, verstand sich von selbst, und auf diesen Rapport gestützt, unterließ der Regent nie, den Freunden des Kammerherrn die trostreichen Worte zu sagen, die Besserung mache beständige, wenn auch langsame Fortschritte.

Daß sich der Kammerherr zu Hause bedeutend langweilte, brauchen wir eigentlich dem geneigten Leser nicht zu sagen. Seine ganze Philosophie hatte ihn verlassen, und er schritt in seinem Zimmer ingrimmig auf und ab, wie der gefangene Bär in der Menagerie. Er kam sich vor wie ein gefesselter Adler, obgleich er in der Wahrheit mit dem weißen glatten Gesichte, den anliegenden Haaren, dem roten zugespitzten Munde, den großen, etwas hervorstehenden Augen und dem watschelnden Gange seiner ziemlich korpulenten Figur viel mehr Ähnlichkeit mit einem gefangenen Gänserich hatte. Am ersten Tage seines unfreiwilligen Zuhausebleibens lag er den ganzen Tag auf seinem Ruhebette, hatte die Vorhänge herabgelassen und las: »Der letzte Tag eines Verurteilten« von Viktor Hugo. Dann hatte er Briefe geschrieben an Freunde und Verwandte, an die er seit langen Jahren nicht gedacht. Dazwischen aber, und das war seine Hauptbeschäftigung, vertiefte er sich in Grübeleien und dachte und dachte, bis ihm der Kopf brannte, über die Ursache seines Zimmerarrestes. So unangenehm ihm dieser an und für sich war, so gab es doch Momente, wo er sich vor den Spiegel stellte, die rechte Hand unter seinem roten Schlafrock auf der Brust verbarg und sich selbst mit einem triumphierenden Lächeln anschaute. »Man fürchtet dich,« sprach er zu sich selber, »du hast dem Regenten imponiert, und daß dies geschehen, ist schon einige Tage Zimmerarrest wert. Wir werden uns revanchieren.«

Daß das Lesen des kleinen Zettels und seine Unterredung mit der Prinzessin mit seinem Arreste in Verbindung stand, war wohl möglich. Aber wie konnte der Regent so plötzlich davon erfahren haben? Sollte vielleicht Fernow? . . . Bah! Fernow, ein guter Kerl, weder gemacht, eine Intrigue zu spinnen noch zu entdecken! Auch hatte derselbe ja gar keine Ahnung davon, daß überhaupt etwas auf dem Papierstreifen zu lesen war. Ja, dieser Papierstreifen, auch er hatte dem guten Kammerherrn schon manche Stunde des Nachdenkens gekostet. Was sollten die Worte: »noch einen ganz zuverlässigen Mann, der Zutritt hat«, eigentlich bedeuten? Er war da in ein Netz hineingeraten, daß sich um seine Füße gelegt hatte, und ihn selbst, der doch damit etwas Tüchtiges zu fangen gehofft, beinahe zu Fall gebracht hätte. Daß es sich um die Ausführung irgend eines Planes handle, zu dem noch ein zuverlässiger Mann gesucht würde, der Zutritt bei Hofe habe, war so klar, daß es jedes Kind begreifen konnte. Damit aber stand der Baron an der Grenze seines Wissens. Daß ihm die Prinzessin an jenem Abend bei der bewilligten Audienz Konfidenzen gemacht haben würde, daran war nicht zu zweifeln. Aber warum, – sie mußte doch von seinem Zimmerarrest durch den Baron Rigoll erfahren haben! – aber warum sprach sie nichts über die bewußte Angelegenheit? Warum war Rigoll stumm wie ein Grab und spielte den Unbefangenen in einer wahrhaft beleidigenden Weise?


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