F. W. Hackländer
Der Augenblick des Glücks – Aus den Memoiren eines fürstlichen Hofes
F. W. Hackländer

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Als er fort war, ließ die alte Frau ihre Hände mit dem Strickzeug in den Schoß sinken, schüttelte den Kopf und sagte in einem betrübten Tone: »Wie der Heinrich verstört aussah! Vielleicht war sie wirklich am Fenster, vielleicht hat der Krimpf recht, aber das wäre doch gar zu entsetzlich! Nein, nein, so ist die Rosa nicht. Und wenn sie wirklich am Fenster war, bah! so hätte das noch nichts zu bedeuten. So ein junges Mädchen ist ein wenig vorwitzig und naseweis, aber schlimm ist die Rosa nicht, gewiß nicht; davon muß auch der Heinrich überzeugt sein.«

Hastig warf sie ihr Strickzeug auf den Tisch und eilte in das Nebenzimmer, als wollte sie ihren Sohn fragen, ob er denn wirklich etwas Schlimmes von Rosa glauben könne, selbst wenn sie am Fenster gewesen wäre. – Der Photograph saß noch immer in seiner Ecke. Die Hände hielt er freilich nicht mehr vor das Gesicht, sondern gefaltet auf seinen Knieen; doch blickte er so starr durch das Fenster an den Himmel empor, daß die Mutter bei seinem Anblick ordentlich erschrak und es kaum wagte, leicht mit den Fingern seine Schulter zu berühren.

Er fuhr wie aus tiefen Träumereien empor, und als er die alte Frau neben sich stehen sah, sagte er mit erzwungenem Lächeln; »Ich bin doch recht thöricht, da sitze ich hier in tiefen Gedanken, als wenn Gott weiß was geschehen wäre, und es ist doch im Grunde gar nichts.«

»Nein, es ist gewiß nichts, Heinrich, wahrhaftig nichts,« entgegnete die alte Frau, »das kannst du mir glauben. Mach dir doch keine so trüben Gedanken!«

Er sah mit einem unendlich trostlosen Blick zu seiner Mutter empor, dann sagte er: »Aber sie war am Fenster.«

»Ich hab' es dir angesehen.«

»Dann hat es mir der Krimpf gewiß auch angesehen, und was er zu mir sprach, war aus lauter Bosheit.«

»Du weißt doch,« antwortete kopfschüttelnd die alte Frau, »wie der immer gereizt ist, und wie es ihm ein Vergnügen macht, andere Menschen mit seinen schwarzen Gedanken zu quälen.«

»Aber sie war am Fenster.«

»Nun ja, laß sie. Man muß ihr das auf eine gute Art sagen. Ich versichere dich, Heinrich, ich bin deinem Vater immer eine brave und getreue Frau gewesen, aber als ich noch ein junges Blut war –«

»Da hast du auch so am Fenster gestanden?« fragte hastig der junge Mann und schaute zu der Mutter empor, als hoffe er Trost in ihren Blicken zu finden.

»Warum denn nicht?« fuhr diese mit ihrem tröstenden Lächeln fort. »Ich weiß mich noch wie heute zu erinnern, es war während der Kriegszeit, da mußten wir armen Mädchen überhaupt viel ausstehen; Tag und Nacht keine Ruhe vor dem wilden Gezeug; nun, damals war ich achtzehn Jahre alt und so übel auch gerade nicht. Sie gafften mich an, wie es die jungen Leute von jeher gethan haben und auch nicht lassen werden, solange die Welt steht, und solange es noch junge Mädchen gibt. – Uns gegenüber lag ein sehr hübscher französischer Kapitän im Quartier. Das war ein Tollkopf, welcher der ganzen Nachbarschaft Besuche machte. Bei uns kam er aber nicht weiter, als bis an die Küchenthür.«

»Siehst du, Mutter, das war sehr brav von dir.«

»Das Lob verdien' ich nicht – ich hätte gern 'mal mit ihm geplaudert. Aber um wieder auf mein Kapitel zu kommen, so stand ich auch zuweilen am Fenster und hörte zu, wenn er seine lustigen Lieder sang. Da war eins, das schloß immer mit den Worten: Chantons, buvons, traleralera, und das hatte ich mir leider gemerkt. Leider, sag' ich, denn eines Tages, als wir am Essen saßen, spielte die Musik dies Lied gerade unter unseren Fenstern vorbei, und ich – ich werde das all mein Lebtag nicht vergessen, wir hatten gerade Klöße und ich einen auf dem Löffel, mit dem ich eben zum Munde fahren wollte – singe so ohne viel zu denken, die Melodie mit: Chantons, buvons, traleralera. Aber das Traleralera war noch nicht von mir ausgesungen, so erhielt ich von meiner Mutter eine so ungeheure Maulschelle, daß ich nicht wußte, wie mir geschah. Der Löffel und alles lag am Boden, und ich selber duckte mich in Erwartung einer zweiten Ohrfeige. So bös' hatte ich die Mutter in meinem ganzen Leben nicht gesehen, als sie nun ausrief: Warte du, ich will dich betraleraleraen.«

»O, die Großmutter war eine rechtschaffene Frau,« seufzte der Photograph, worauf Frau Böhler entgegnete: »Laß das nur gut sein, die alte Weiher ist auch nicht links. Aber jetzt komm mit hinüber; laß dein Grübeln, das kann wahrhaftig zu nichts führen. Man muß mit der Rosa reden.«

»Nein, das darf man nicht thun,« sprach fast erschrocken der junge Mann, indem er aufsprang; »das darf um Gotteswillen nicht geschehen. Ist an der Sache wirklich etwas Unrechtes, und man warnt sie, so wird sie's verheimlichen, und dann wird es noch viel schlimmer. Nein, nein, Mutter, ich will erst die vollständigen Beweise und dann nach Umständen handeln.« – Die alte Frau sah ihren Sohn fragend an. – »Dann will ich zu ihrem Herzen sprechen, und wenn es, wie ich zu Gott hoffe, nur eine kindische Eitelkeit ist, die sie antreibt, die Blicke jenes – Herrn zu erwidern, so werde ich ihr vorstellen, was daraus entstehen kann, und hoffe sie zu überzeugen. Kann ich das letztere aber nicht, Mutter, so habe ich am Ende nicht viel verloren.«

Damit waren beide in das Wohnzimmer zurückgegangen; der Photograph legte das geputzte Glas beiseite und machte sich mit den Schalen zu schaffen, worin er seine Silber- und Natronbäder hatte. Draußen schien die Sonne so prachtvoll, und das Licht war so glänzend, daß es ordentlich schade war, daß gerade in diesem günstigen Augenblicke so gar keine Menschenseele kommen wollte, um sich photographieren zu lassen. Das meinte auch Frau Böhler, und der Sohn pflichtete ihr achselzuckend bei.

»Ich weiß nicht, wie es kommt,« sagte er, »daß es bei mir nie einen rechten Zug nehmen will. Ich will nicht gerade klagen, und ebensowenig meine Werke selbst loben; aber bei den Arbeiten, die ich mache, könnte ich doch schon ein bißchen mehr zu thun haben. – Ich habe eben kein Glück.«

Frau Böhler hob den Kopf in die Höhe, und als sie bemerkte, wie ihr Sohn bei diesen Worten die beiden verstümmelten Finger seiner rechten Hand ansah, so schwieg sie seufzend still.

»Gewiß und wahrhaftig kein Glück,« fuhr er fort. »Wie sauer habe ich es mir werden lassen, mit welcher Liebe habe ich gearbeitet, ehe ich's in der Holzschneidekunst zu etwas gebracht, und da ich eben anfing, hübsche Arbeiten zu machen, passiert mir das Unglück, woran ich mein ganzes Leben werde leiden müssen. Darauf fange ich an zu photographieren, mache auch ordentliche und hübsche Porträts, werde von meinen Bekannten empfohlen; aber was hilft mir das alles! Pfuscher haben den Zulauf, bei mir will nichts recht in den Zug kommen. Ich habe keine Protektion, oder besser gesagt, kein Glück.«

»Es ist nicht zu leugnen,« entgegnete Frau Böhler, »daß du bisher mit vielen Widerwärtigkeiten zu kämpfen hattest.«

»Mit vielem, vielem Unglück!«

»Aber das kann sich mit einem Male ändern, und ich habe es schon oft erlebt, daß Leute, die lange vom Schicksal verfolgt wurden, auf einmal an einen Punkt kamen, wo eben das Schicksal wie müde und matt von ihnen abließ.«

»Darauf habe ich lange gehofft,« sagte bitter der junge Mann, »Immer geglaubt, auch für mich müsse endlich einmal so ein Augenblick des Glücks eintreten; und daß meine Wünsche nicht unbescheiden sind, das weißt du am besten, Mutter. Wie zufrieden war ich mit meiner Arbeit, ja, trotz des langsamen Ganges der Geschäfte, ich könnte wohl sagen, fast glücklich, ja – ja, fast glücklich, bis vor einer halben Stunde, wo alles mit mir zusammenbrach.« – Die alte Frau blickte kopfschüttelnd in die Höhe, ohne eine Antwort zu geben.

»Und es ist so traurig,« fuhr der Photograph fort, »daß in der Welt eine Widerwärtigkeit, ein Unglück das andere nach sich zieht.« – – Er hatte bei diesen Worten einen Abdruck der Photographie jenes schönen jungen Mädchens, von dem wir vorhin sprachen, aus der Schale genommen und lange betrachtet. »Wie kann ich es der Rosa eigentlich übel nehmen, daß es ihr langweilig wird, zu warten, bis mir einmal das Glück so lächelt, daß ich auch sie glücklich machen kann. – Habe ich eigentlich das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie warten und immer warten soll? Und wie lange wird das Warten dauern! O glaube mir, Mutter, wir beide können alt werden, ehe für mich der Augenblick des Glücks eintritt!«


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